Studie Studie: Zehn von zehn dunkelhäutigen Kindern erleben Rassismus
Hauptinhalt
14. Oktober 2021, 16:07 Uhr
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Bahn und eine fremde Person greift Ihnen in die Haare: "Wollte ich immer schon wissen, wie sich das anfühlt". Oder Sie kaufen ein Ticket, und der Mensch am Schalter sagt: "Du sprichst aber gut deutsch." Für viele Menschen ist das nicht absurd, sondern Alltag. Eine Forschungsgruppe um die Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götze hat die rassistischen Alltagserfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund untersucht.
Rassismuserfahrungen sind in Deutschland Alltag für Kinder mit dunklem Teint. Sie sind Teil ihres Lebens, egal, ob sie morgens aus dem Haus gehen, nachmittags zum Sportverein oder zum Chor, früh die Bäckerei betreten, nachmittags das Busticket kaufen. Die Orte, an denen sie quasi jederzeit mit Anfeindungen, Beschimpfungen, Vorfällen aller Art rechnen können: Momente, in denen nicht-dunkle Menschen dunkle Menschen definieren: Als nicht-weiß. Eine Art ungeschriebener Freifahrtschein zur Stereotypisierung und Einordnung eines anderen Menschen. Echt jetzt?! werden Sie jetzt vielleicht denken, wenn sich Sie selbst zu den Hellhäutigen zählen. Und sich dann vielleicht unangenehm berührt fühlen, weil Sie hier gerade über Ihren Hautton definiert werden. Das machen Sie sonst sicher nicht, genauso wenig wie Ihre Kinder.
Achtung, Triggerwarnung. Diese Passage enthält konkrete Erlebnisse eines jungen Leipzigers.
"Du bist schon braun, du kriegst keine Schokolade", sagt die Leipziger Erzieherin fröhlich zu einem Vierjährigen. Als er 13 ist, feixt sein bester Freund: "Ich weiß, warum du braun bist: Du bist eine Arschgeburt!"
Dr. Maya Götz hat genau dieses Thema untersucht: Rassismuserfahrungen in Deutschland. Dafür wurden 1.461 Heranwachsende zwischen sechs und 19 Jahren zu ihren Rassismus-Erfahrungen im Alltag befragt, in Interviews und in Fragebögen. 491 der Befragten haben eine Zuwanderungsgeschichte, das heißt, sie selbst oder ihre Eltern wurden in einem anderen Land als Deutschland geboren. Außerdem wurden 22 Fallstudien in Form von Interviews mit Kindern bis 12 Jahren gemacht.
"Wo kommst du her? Du sprichst aber gut Deutsch!"
In den Untersuchungen wurden 14 Phänomene von Alltagsrassismus erfragt: Fragen nach der Herkunft. Witze über das Aussehen, Griffe in die Haare, Lob für die Deutschkenntnisse. Ergebnis der Befragung: Je älter das Kind, umso mehr Alltagsrassismus wird erlebt. Schon im Grundschulalter wird demnach jedes dritte Kind mit Zuwanderungsgeschichte danach gefragt, wo es denn "wirklich" herkomme. Neun von zehn Heranwachsenden (94 Prozent) mit dunkler Hautfarbe gaben an, als "fremd", "ausländisch" oder "anders" wahrgenommen zu werden. Für Kinder und Jugendliche, die sich als dunkel oder dunkler identifizieren, ist die Hautfarbe das zentrale Merkmal, warum sie sich ausgegrenzt fühlen. Die Frage "Wohnst Du schon immer in Deutschland?" empfinden neun von zehn Kindern und Jugendlichen mit dunkler Hautfarbe als unangenehm. Ebenso ergeht es den befragten Kindern und Jugendlichen, die sich selbst als muslimisch beschreiben.
Wie sich das anfühlt, zeigen die "Datteltäter" in ihrem Youtube-Kanal. Achtung, Satire!
Zehn von zehn Kindern mit dunklem Teint erleben Rassismus
Zu den häufigsten Erfahrungen zählen der Studie zufolge außerdem Beschimpfungen wegen der Herkunft und des Aussehens, Witze über das Herkunftsland, sowie körperliche Bedrohungen und Angriffe. "Sieben von zehn Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte haben Alltagsrassismus erlebt. Zehn von zehn Kindern mit dunklerer oder dunkler Hautfarbe wurden mit Alltagsrassismus konfrontiert", heißt es weiter in der Veröffentlichung. Und: "Knapp sieben von zehn Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte und dunklerer Hautfarbe wurde schon mal gesagt, sie sollten in das Land zurückgehen, aus dem sie gekommen sind."
Haben diese Ergebnisse Medienwissenschaftlerin Dr. Maya Götz überrascht? "Ja! Theoretisch war es mir klar, dass die Kinder und Jugendlichen mit sichtbarer Zuwanderungsgeschichte solche Dinge erfahren. Aber es war für mich erschreckend, das in solchen Dimensionen zu sehen, in dieser scharfen Ausprägung," sagt die Wissenschaftlerin im Gespräch mit MDR Wissen.
Wo kommst du her? Darf ich mal deine Haare anfassen?
"Wohnst du schon immer in Deutschland?" Eine Frage, die neun von zehn befragten Jugendlichen als unangenehm empfanden, ähnlich wie das Lob: "Du sprichst aber gut deutsch". Die Frage "Darf ich mal deine Haare anfassen" fanden alle Kinder mit dunkler und dunklerer Hautfarbe als unangenehm.
Wobei den Schilderungen in den Interviews zufolge Kindern oft direkt in die Haare gegriffen wird. Falls sich jemand fragt, was daran unangebracht ist, hilft ein Blickwechsel. Man tausche gedanklich die Personen dieser Situation aus, setze sich gedanklich in eine Bahn, betrachte den weißen Teenie auf dem Platz neben sich, greife ihm forsch in die Haare und murmle: "Wollte ich immer schon mal anfassen!" Kinder, die für die Forschungsarbeit nach Rassismuserfahrungen gefragt wurden, formulierten sie oft so, als verursachten sie den Übergriff selbst durch ihre körperlichen Merkmale, eine Zuwanderungsgeschichte, ihr Verhalten in bestimmten Situationen. "Damit tragen sozusagen sie selbst die Schuld an den Erlebnissen und das rassistische Handeln wird legitimiert", schreibt Mit-Autor Claus Melter in der Forschungsarbeit.
Alltagsrasissmus: Wer übt ihn aus?
71 Prozent der Beleidigungen kommen der Studie zufolge von Mitschülerinnen und anderen Kindern oder Jugendlichen. 13 Prozent von Fremden auf der Straße, an Haltestellen oder im Zug. Es sind Alltagsmomente, die weder weiße Kinder noch weiße Erwachsene erleben. Sie steigen bewusst hinten in den Bus oder die Bahn ein, um definierenden Blicken und Beleidigungen der Mitfahrenden zu umgehen. Und es sind nicht nur direkte Aggressionen wie bespuckt werden, beschimpft werden, es ist die Perspektive des hellhäutig-Privilegierten, der mit seinen Fragen oder Handlungen private Grenzen überschreitet: "Wo kommst du her? Was, aus Chemnitz? Aber dein Vater ist woanders her?" Man fragt ja sein Gegenüber auch nicht danach, wie die eigenen Erzeuger aussahen. Es sind Mikro-Aggressionen, wie eine "englische Antwort bekommen, obwohl man in tiefstem Sächsisch ein Ticket nach Döbeln bestellt hat". Von Wildfremden gefragt werden: "Sag mal, verletzt Dich das, wenn ich das N-Wort benutze?" Oder die zehnte Nachfrage, wo denn der Papa oder die Mama wirklich herkommt.
Alltagsrassismus: Wie er funktioniert
Alltagsrassismus betrifft nicht nur die, die ihn ungefragt erleben. Er betrifft auch die, die ihn ausüben. Sei es unbewusst, "war gar nicht böse gemeint, wollte nur witzig sein, sei nicht so empfindlich".
Oder gewollt, aus der Perspektive der hellhäutigen Privilegierten wie die weiße Autorin Elke Heidenreich, die im herbst 2021 in einer ZDF-Fernsehtalkrunde vehement auf ihrer Definitionsmacht über eine junge Sprecherin der Grünen beharrte, "diese könne überhaupt nicht reden", und man sehe sofort, "die kann nicht aus Wanne-Eickel kommen, sondern die Eltern kommen woanders her". Auf der einen Seite also diejenigen, die Menschen einordnen und ihre Rolle (als Objekt) verweisen wollen ("Ich definiere Dich: Du kannst nicht von hier sein!"), die Grenzen überschreiten, wenn sie fremden Kindern ungefragt in die Haare greifen, ihre echte Herkunft erfragen.
Nicht-rassistisch reden tut nicht weh
Und auf der anderen Seite, diejenigen, die schlicht simple Grenzen der guten alten Kinderstube einfordern: Nicht fremden Menschen in die Haare fassen. Nicht die Herkunft erfragen. Nicht für das gute Deutsch loben. "Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Unversehrtheit – das einzufordern ist nicht ihre Aufgabe", sagt Diana-Sandrine Kunis in einem Interview in Dr. Maya Götzes Veröffentlichung. Tatsächlich ist das die Aufgabe der Privilegierten, sich ihrer eigenen sozialen Position, ihres eigenen Privilegs bewusst zu werden, um Kindern und Jugendlichen Rassismuserfahrungen zu ersparen. Nicht-rassistisches Verhalten, nicht-rassistischer Sprachgebrauch tun an sich nicht weh. Es ist die Selbsterkenntnis des eigenen Rassismus, die schmerzt und die manche vehement von sich weisen, wie der Teufel das Weihwasser. Oder andere, die feststellen wie Studienautorin Dr. Maya Götz: "Ich habe gemerkt, ich bin selbst so unglaublich weiß. Und ich habe jetzt erst gemerkt, was das für einen Unterschied macht."
Die komplette Veröffentlichung lesen Sie hier.
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/6d29cc98-1dc6-4668-9bf9-398e071935bc was not found on this server.