Psychologie Nicht nur Aggression: Wozu unsere Wut gut ist
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23. August 2024, 11:10 Uhr
Wut ist ein Gefühl, das uns dieser Tage öfter begegnet. Viele Menschen sind unzufrieden. Viele hätten im Moment eine sehr kurze Zündschnur, heißt es. Es braucht nur einen geringen Anlass, um aus der Haut zu fahren, sich aufzuregen, wütend zu werden. Grund genug, einen genauen Blick auf dieses Gefühl zu werfen.
Na, welcher Wut-Typ sind Sie so? Springen Sie aus dem Anzug und ticken komplett aus, wenn man Sie nicht ernst nimmt, übergeht, ignoriert, beschimpft oder schlecht behandelt? Oder sitzen Sie still in der Ecke mit 180 Puls und grummeln leise vor sich hin?
Fest steht schon mal: So wie ein angriffslustiges Tier zur Warnung die Zähne zeigt, verzieht sich unser Gesicht: "Wut, die wir empfinden, die signalisieren wir nach außen, indem sich unser Gesicht zur Fratze verzieht", sagt der Psychiater und Neurowissenschaftler René Hurlemann. "Das ist ein soziales Stoppsignal an meine soziale Umgebung. Also: 'Bis hier und nicht weiter. Wenn ihr mich weiter piesackt, wenn ihr mich weiter ärgert, dann müsst ihr vielleicht damit rechnen, dass das Ganze eskaliert.'"
Wut ist unsere Warnung an Mitmenschen
Danke für die Absolution, Herr Hurlemann. Denn wenn's reicht, dann reicht's – dann sorgen ein entsprechender Hormonspiegel und ein erhöhter Blutdruck dafür, dass der Kessel explodiert. Ab einem gewissen Stadium gibt es dann auch kaum noch Gegenmittel: "Durch den erhöhten Blutdruck schottet sich das Gehirn auch so ein bisschen von Außenreizen ab und es entsteht dann eine Wahrnehmung bei den Menschen, die dann sachliche Argumente auch durchaus ausblendet und Kurzschlusshandlungen fördern kann."
Wenn Wut dauerhaft unterdrückt wird, dann sucht sie sich andere Ventile.
Hurlemann sagt auch, dass man Wut durchaus zeigen und bis zu einem gewissen Punkt ausleben darf. Und sogar ausleben sollte – und zwar aus zwei Gründen:
Erstens ist sie etwas, das zu unserem Menschsein gehört. Die Wut hat sich quasi mit den archaischsten Formen der Gehirnentwicklung gleich mitentwickelt, sagt Hurlemann.
Und zweitens: Wut permanent zu unterdrücken, macht krank. Das ist in etwas so, als würde man einen aufgeblasenen Ballon unter Wasser drücken. "Wenn sie dauerhaft unterdrückt wird, dann sucht sie sich andere Ventile. Das mündet dann beispielsweise in Bluthochdruckerkrankungen", so Hurlemann.
Wut ist natürlich – aber kein Freifahrtschein für verbale oder körperliche Gewalt
Aber – und das können Sie sich denken: Das alles ist kein Freibrief, die Fäuste auszupacken. Denn neben den archaischen Wurzeln unseres Urgefühls Wut, das im ältesten Hirnbereich, im Hirnstamm, sein Zuhause hat, hat uns Mutter Natur noch ein Stück jüngeres Gehirn geschenkt, in dem unser Kontrollraum untergebracht ist.
Das ist der evolutionär jüngste Hirnbereich über unserer Nase, direkt hinter unserer Stirn – der sogenannte präfrontale Kortex. Der überprüft, ob unsere Reaktionen, die unser Hirnstamm einfordert, auch vernünftig, angemessen und erfolgversprechend sind.
Wut als Zeichen fehlender sozialer Kompetenz?
Es soll nun Menschen geben, bei denen der Kontrollraum kaum benutzt wird, bei denen die Urinstinkte einfach so durchgewinkt werden. Oder mit den Worten von René Hurlemann: "Wut kann auch Ausdruck geringer Differenziertheit sein und geringer sozialer Kompetenz."
Wenn der präfrontale Kortex sich nicht so gut entwickeln kann, weil er zum Beispiel in der Kindheit nicht gleich trainiert wird, dann bestünde die Gefahr, dass wir im späteren Lebensalter Probleme haben, unsere Wut, unsere ärgerlichen Impulse, unseren Zorn runterzugregulieren. "Das kann dann leicht dazu kommen, dass wir ausflippen, dass wir die Hose verlieren – es gibt da ja ganz viele Begriffe", so Hurlemann. "Die neueren Hirnstrukturen, die dann in der Entwicklungsgeschichte später entstanden sind, haben vor allem das Ziel, die Emotionen, die uns auszeichnen, auch ein Stück weit zu regulieren." Wenn das nicht so gut klappt: Mitgefühl ist schon mal ein guter Schritt, sagt aktuelle Forschung.
Wut zu dosieren, ist eine Meisterleistung
Das Stoppschild zur richtigen Zeit am richtigen Ort rauszuholen, ist – alles in allem – gar nicht so einfach. Viele verzichten gänzlich darauf und ziehen sich mit ihrer Wut lieber zurück, sagt Hurlemann. "Dass man sich verweigert, dass man nicht mehr mitspielt – das nennen wir passive Aggression." Die Königsdisziplin hingegen ist es, seine Wut klar und in angemessener Form zu äußern, ohne Porzellan zu zerdeppern. Eine Kunst für sich.
Nur warum in aller Welt hat sich die Natur überhaupt ein Konzept namens Wut ausgedacht? Dazu müssen wir fast vier Milliarden Jahre zurückschauen, auf die zwei grundsätzlichen Verhaltensmuster, die auch schon Einzeller haben. Eine Bewegung hin zu etwas und eine Bewegung weg von etwas. Letztere könne man auch Flucht nennen, sagt Hurlemann. "Und diese beiden Bewegungsmuster prägen sozusagen das Leben auf unserem Planeten."
Wut ist sozusagen Milliarden Jahre alt
Auch die Wut, so Hurlemann, geht wie alle anderen Emotionen, auf diese beiden einfachen Muster zurück. Neben dem klaren Stoppschild, das wir durch unsere Mimik hochhalten und der hormonellen Vorbereitung, um zu kämpfen, kann Wut noch mehr. Aktuelle Forschung hat beispielsweise gezeigt, dass sie gut ist, um Ziele zu erreichen. Auch gesellschaftliche, was ihr einen konstruktiven, ganz und gar versöhnlichen Anstrich gibt:
"Wut kann ein schöpferisches Element haben. Wut kann, das hat ja die Geschichte immer wieder gezeigt, dazu führen, dass als ungerecht empfundene gesellschaftliche Strukturen überwunden werden."
km/flo
Dieses Thema im Programm: MDR | Die großen Fragen in 10 Minuten | 21. August 2024 | 12:00 Uhr
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