Menschen halten Schilder und ein Balkendiagramm in die Luft.
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Protestforschung Politische Proteste können Einfluss auf Wahlausgang haben

24. Januar 2024, 17:06 Uhr

Nach den deutschlandweiten Demonstrationen gegen rechtsextreme Parteien fragen sich viele, ob das am Ausgang bevorstehender Wahlen etwas ändern kann. Mehr oder weniger vergleichbare Situationen in der Vergangenheit zeigen: Ja.

Hunderttausende Menschen waren in Deutschland am vergangenen Wochenende auf den Straßen, um gegen Rechtsextremismus oder ganz konkret gegen die AfD zu demonstrieren. In Großstädten kamen besonders viele Menschen zusammen, in Kleinstädten etwas weniger.

Kurz nach diesen Protesten wurden vom Meinungsforschungsinstitut Forsa die neuesten Ergebnisse der sogenannten Sonntagsfrage veröffentlicht, also wen die Menschen wählen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. Und siehe da: Die Zustimmung zur AfD ist binnen einer Woche um zwei Prozentpunkte gesunken. Die 20 Prozent sind der schlechteste Wert der Partei seit Oktober. Dazwischen lag die AfD immer bei 21 bis 23 Prozent. Kein dramatischer Zustimmungsverlust also, aber ein vorhandener.

Kann man nun aber beides – Proteste und Zustimmungsverlust – so einfach in Relation setzen? Garantiert nicht direkt und ausschließlich, aber vielleicht doch ein bisschen, denn der Befragungszeitraum von Forsa erstreckte sich bis zum Montag, dem 22. Januar. Ein Teil der Befragten könnte bei der Antwort also durchaus unter dem Einfluss der Proteste gestanden haben, wenngleich es freilich noch zwei andere mögliche Hauptgründe gibt, die Stimme plötzlich nicht mehr der AfD zu geben, beide liegen aber schon ein paar Tage länger zurück: die Enthüllungen über das Geheimtreffen, in dem es um "Remigration" ging und das Auftauchen der neuen Partei BSW um Sahra Wagenknecht, zu der "Wählerwanderungen" von der AfD gewiss nicht ausgeschlossen sind.

Welchen Einfluss haben Proteste auf einen Wahlausgang?

Es gibt mehrere wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Einfluss von Protesten großer Bevölkerungsschichten auf spätere Wahlausgänge befasst haben und die zu dem Schluss kommen, dass es diesen Einfluss gibt, und zwar aus Sicht der Protestierenden einen positiven. All diese Studien lassen sich zwar nicht 1:1 auf das Hier und Jetzt übertragen, aber interessant sind sie dennoch.

Frankreich 2002: Proteste halfen Präsident Chirac gegen Le Pen

Zum Beispiel die Studie, die die Stichwahl um die französische Präsidentschaft 2002 zwischen dem amtsinhabenden Mitte-Rechts-Kandidaten Jacques Chirac und dem Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen untersuchte. Zwischen dem ersten Wahlgang, den Chirac recht knapp mit 19,9 Prozent vor Le Pen mit 16,9 Prozent gewonnen hatte, und der Stichwahl hatte es landesweit verschieden große Demonstrationen und Proteste gegen Le Pen gegeben. Bei der Stichwahl siegte Chirac gegen Le Pen dann mit rund 82 zu 18 Prozent.

In der Studie heißt es: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Proteste das Ergebnis der zweiten Wahlrunde wirksam beeinflusst haben. Wir stellen insbesondere fest, dass größere Proteste in einer Gemeinde zu einem niedrigeren Ergebnis für den rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen und zu einem höheren Ergebnis für den Kandidaten der rechten Mitte, Jacques Chirac, in dieser Gemeinde führten."
Rechnerisch war der Effekt laut dieser Studie sogar sehr beträchtlich. Erstens erhöhte sich dort, wo stärker protestiert wurde, auch die Wahlbeteiligung signifikant. Und zweitens gewann Jacques Chirac mit jeder einprozentigen Zunahme der Teilnehmerzahl an Protesten in einer Gemeinde 0,818 Prozentpunkte Wählerstimmen in dieser Gemeinde hinzu, während Le Pen im gleichen Maßstab 0,399 Prozentpunkte verlor.

Hohe Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen beeinflussen soziale Norm

Die Studienautoren sehen einen Hauptgrund für diesen Effekt in dem, was sie "soziale Norm" nennen: "Vor allem finden wir suggestive Hinweise darauf, dass die Zahl der Teilnehmer an den Protesten eine soziale Norm unterstreicht, wonach die Stimmabgabe für die extreme Rechte gesellschaftlich unerwünscht ist." Umgangssprachlich könnte man das auch so formulieren: Je größer die Menge der Protestierenden in einer Umgebung ist und je stärker sie die Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren scheint, desto mehr stellen sich Menschen, die von dieser "Norm" abweichen, die Frage, ob sie vielleicht nicht doch lieber wieder "zu den mehreren" gehören wollen.

Interessant in dieser Hinsicht ist auch, dass die Studienautoren feststellten, dass nach der Stichwahl deutlich weniger Menschen zugaben, im ersten Wahlgang für Le Pen gestimmt zu haben, als es tatsächlich der Fall gewesen war. Manche hatten ihre Meinung also gewissermaßen auch rückwirkend geändert oder zumindest nicht mehr für vertretenswert gehalten.

Regionalwahl Italien 2020: Die Sardinen-Bewegung

Eine zweite Studie beschäftigt sich mit der sogenannten Sardinen-Bewegung in Italien. Deren Name hat nichts mit der Insel Sardinien zu tun, sondern wurde gewählt, weil die beteiligten Menschen bei Demonstrationen so dicht gedrängt stehen sollen wie Sardinen in einem großen Schwarm. Diese Bewegung organisierte seit 2019 regelmäßig friedliche Demonstrationen, um gegen die zunehmenden rechtspopulistischen und -extremistischen Tendenzen in Italien zu protestieren.

Im Januar 2020 hatten diese Demonstrationen laut einer Studie starken Einfluss auf die Ergebnisse der Regionalwahlen in der Region Emilia-Romagna, wo der Kandidat eines Mitte-Links-Bündnisses am Ende mit absoluter Mehrheit gegen ein Mitte-Rechts-Bündnis mit Beteiligung der rechten Partei Lega und der extrem rechten, als "postfaschistisch" klassifizierten Partei "Fratelli d’Italia" gewann.

Protest-Demonstration der Sardinen-Bewegung 2019
Protest-Demonstration der Sardinen-Bewegung 2019 Bildrechte: IMAGO / Italy Photo Press

Waren die Ablehnung von Gewalt und Aggressivität entscheidend?

In der Studie heißt es: "Bei der Durchführung mehrerer Analysen stellen wir fest, dass die Anti-Rechts-Mobilisierung einen beträchtlichen Effekt hat, der in den betreffenden Städten zu 8 Prozent weniger Unterstützung für die Rechtsextremen führt. Wir vermuten, dass dieser Effekt wahrscheinlich auf einen Signalmechanismus der Bürgerbeteiligung zurückzuführen ist, der Informationskaskaden auslöst, die zu einem Rückgang der Attraktivität rechtsextremer Parteien führen."

Dass solch eine Gegenmobilisierung als Reaktion auf rechtsextreme Kampagnen ein wirksames Instrument sein kann, sei die erste mögliche Lehre ihrer Studie, schreiben die Autoren. Die zweite mögliche laute: "Die völlige Ablehnung von Gewalt oder jeder aggressiven Haltung gegen die extreme Rechte scheint ein wesentliches Merkmal der Bewegung gewesen zu sein und könnte ihren Erfolg erklären."

Wie "Goldene Morgenröte" in Griechenland zurückgedrängt wurde

Mit erfolgreichen Protesten gegen die auf Deutsch "Goldene Morgenröte" genannte neofaschistische griechische Partei "Chrysi Avgi" beschäftigt sich eine weitere Studie, die einen Zehn-Jahres-Zeitraum ab 2009 beleuchtet, in dem die Partei erfolgreicher wurde, erstmals ins Parlament einzog, dann bei einer Europawahl zur drittstärksten Macht des Landes wurde und schließlich 2019 doch wieder national an der Drei-Prozent-Hürde scheiterte. In die Auswertung flossen mehr als 4.000 Protestaktionen gegen die Partei ein.

Protest-Demonstration gegen neofaschistische Partei Chrysi Avgi in Griechenland
Protest-Demonstration gegen Neofaschismus in Griechenland Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Die Ergebnisse laut Studie: Schon in Gemeinden, wo es nur recht selten Protestveranstaltungen gab, erhielt die "Goldene Morgenröte" etwa 0,75 Prozentpunkte weniger bei der folgenden Wahl als dort, wo gar nicht protestiert wurde. Und dort, wo oft protestiert wurde, betrug der Unterschied sogar mehr als einen Prozentpunkt im Vergleich zu Orten ohne Protest. Beides sind insofern beträchtliche Werte, als die "Goldene Morgenröte" auch in ihrer erfolgreichsten Zeit nie mehr als sieben Prozent der Stimmen bei den nationalen Parlamentswahlen erreichte. Häufige Proteste nahmen der Partei laut Studie rein rechnerisch fast ein Sechstel ihrer zuvor erhaltenen Stimmen weg (1,09 Prozentpunkte von 6,97 Prozent).

In den USA haben Proteste auf beiden Seiten des politischen Spektrums Erfolg

Dass Proteste nicht nur dann erfolgreich sein können, wenn sie sich gegen Rechts richten, zeigt eine US-amerikanische Studie, die sich mit einem Zeitraum von 30 Jahren befasst hat. Sie zeigt für das Zwei-Parteien-System der USA, dass Spitzen in der liberalen und konservativen Protestaktivität die Stimmenzahl eines Kandidaten so stark erhöhen oder verringern können, dass sich das Wahlergebnis ändert.

"Viele Menschen sind skeptisch, dass Proteste einen Einfluss auf den Wahlausgang haben, aber unsere Studie zeigt, dass sie einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wählerverhalten haben", sagt Hauptautorin Sarah A. Soule, Professorin für Organisationsverhalten an der Stanford Graduate School of Business. "Liberale Proteste veranlassen Demokraten dazu, über die Themen abzustimmen, die ihnen am Herzen liegen, und konservative Proteste veranlassen Republikaner dazu, das Gleiche zu tun. Dies geschieht auf beiden Seiten des ideologischen Spektrums."

Tea-Party und Trump: Ist konservativer Straßenprotest elektrisierender?

Protest-Demonstration von Anhängern der Tea Party in den USA 2010
Protest-Demonstration von Anhängern der Tea-Party-Bewegung in den USA 2010 Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Im Durchschnitt kann laut dieser Studie eine Welle liberaler Proteste in einem Kongressbezirk den Stimmenanteil eines demokratischen Kandidaten um zwei Prozentpunkte erhöhen und den Anteil eines republikanischen Kandidaten um sechs Prozentpunkte verringern. Und umgekehrt verringert laut Studie eine Welle konservativer Proteste, wie die der Tea Party im Jahr 2010, den Stimmenanteil der Demokraten im Durchschnitt um zwei Prozentpunkte, erhöht den der Republikaner aber um sechs Prozentpunkte.

Interessanterweise scheinen also konservative Proteste den Republikanern einen verhältnismäßig größeren Zuwachs an Wählerstimmen zu bescheren. Die beiden Autoren der Studie sind der Meinung, dass dies wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass konservative Straßenproteste bis in die 1990er-Jahre selten waren, was sie für republikanische Wähler wahrscheinlich "elektrisierender" machte.

Proteste bündeln Aufmerksamkeit

Die Forscher argumentieren zusammenfassend, dass lokale politische Proteste sowohl für die Wählerschaft als auch für die Politik wichtige Signale darstellen. Für die Wähler können sie die Aufmerksamkeit bündeln. Für die Politik seien sie ein Signal für die Intensität der lokal wichtigen Inhalte oder Unzufriedenheit.

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