
Besonders gefährdete Gruppe Forscher fordern bessere Suizidprävention in der Musikindustrie
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09. März 2025, 12:00 Uhr
Nirvana-Sänger Kurt Cobain, Soul-Legende Amy Winehouse, Linkin Park-Frontmann Chester Bennington, der schwedische DJ Avicii oder K-Pop-Stars wie Goo Hara oder Moonbin: Die Liste an Musikerinnen und Musikern, die sich das Leben genommen haben, ist lang und voller tragischer Schicksale. Daten zeigen einen Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und früher Sterblichkeit in dieser Branche, sagen Forschende. Ihr Appell: Leid darf nicht romantisiert und Betroffenen muss besser geholfen werden.
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Es gibt Belege dafür, dass populäre Musikerinnen und Musiker berufsbedingt besonders suizidgefährdet sind, konstatieren George Musgrave von der Goldsmiths University of London und US-Forscher Dorian Lamis von der Emory University. Und so ziemlich allen Menschen, die Musik mögen, werden wohl Künstlerinnen und Künstler bekannt sein, die viel zu jung den Freitod gewählt haben. Manche von ihnen werden geradezu romantisiert, kritisieren die Forschenden: Die Todesfälle, die als "Club 27" zusammengefasst werden – eine Reihe von Musikerinnen und Musikern, die im Alter von nur 27 Jahren starben – verstärkten etwa die kulturell bedingten Vorstellungen von Musikalität und Sterblichkeit.
Weltweit hohe Selbstmordraten bereiten Sorge
Sind Erfolg in der Musikbranche, psychische Probleme und ein früher Tod also tatsächlich irgendwie miteinander verknüpft? Um das herauszufinden, haben sich die Forschenden die vorhandenen Daten angeschaut – und die bereiteten Anlass zu großer Sorge. So zeigten etwa die Daten zur berufsbedingten Sterblichkeit des Office for National Statistics in England (2011–2015), dass "Musiker, Schauspieler und Entertainer" zu den fünf Berufsgruppen mit der höchsten Sterblichkeit durch Selbstmord zählten. Innerhalb der Berufsgruppe "Kultur, Medien und Sport" sei es sogar das höchste Risiko. Demnach lag hier die Suizidrate um 20 Prozent über dem Bevölkerungsdurchschnitt, bei den Frauen waren es sogar 69 Prozent.
Auch in den USA zeichne sich ein vergleichbares Muster ab: Hier zeigten epidemiologische Daten, dass die Suizidsterblichkeitsrate in der Gesamtbevölkerung im Jahr 2022 bei 14,2 pro 100.000 Einwohner lag. Bei männlichen Musikern habe die jedoch 138,7 pro 100.000 Einwohner betragen. Das sei der dritthöchste Wert aller Berufsgruppen gewesen, nur die Werte der Holzfäller (161,1) und von Agrar- und Lebensmittelwissenschaftlern (173,1) lagen darüber. Bei den Frauen sei dagegen in der Berufsgruppe "Kunst, Design, Unterhaltung, Sport und Medien", zu der auch Musikerinnen zählten, in den Jahren 2012, 2015 und 2021 sogar die höchste Suizidsterblichkeitsrate aller Berufsgruppen zu verzeichnen gewesen.
Doch dieses Phänomen sei nicht nur auf den anglo-amerikanischen Raum begrenzt, stellen die Forschenden fest und verweisen auf Südkorea. Zwar gebe es hier nur begrenzt berufsspezifische Daten zum Thema, aber dennoch fielen die Todesfälle unter K-Pop-Künstlern, die auch international für große Aufmerksamkeit gesorgt hätten, auf. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen dem Selbstmordrisiko und einem gesellschaftlich verordneten Perfektionismus von Musikerinnen und Musikern ließen darauf schließen, so die Forschenden, dass diese Gruppe weltweit so stark suizidgefährdet sei, dass ihnen gezielt geholfen werden müsste.
Hilfe für Betroffene und Angehörige
Haben Sie Suizidgedanken oder sind besorgt um eine geliebte Person? Bei der Telefonseelsorge bekommen Sie umgehend und anonym Hilfe: Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von professionellen Beraterinnen und Beratern.
Der Mythos vom gequälten Künstler
Ein großes Problem bei Musikerselbstmorden ist die problematische Erzählung, kritisieren die Forschenden. Die Todesfälle würden entweder als unvermeidlich normalisiert oder als Teil eines romantisierten künstlerischen Lebens mythologisiert. Das liege unter anderem daran, dass es in der Musikindustrie vor allem um das Erzählen von Geschichten und Mythenbildung gehe. Deshalb komme es auch beim Thema Selbstmord zu einer ähnlichen Sensationsdynamik. Das sei sogar historisch nachweisbar, schreiben sie, schon seit Platon gelten Künstler demnach in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als problematisch, grüblerisch, düster, geheimnisvoll, verrückt und im Extremfall eben auch als selbstmordgefährdet.
Doch diese Wahrnehmung ist nicht korrekt, stellen die Autoren fest. Die Forschung zu Suizidrisikofaktoren zeichne ein deutlich differenzierteres Bild, denn es müssten hier zahlreiche berufliche und psychosoziale Stressfaktoren, die für eine Musikkarriere charakteristisch sind, genauer betrachtet werden. Dazu gehöre etwa, dass viele Künstlerinnen und Künstler in der Musikbranche ausgebeutet würden, kaum finanzielle Stabilität hätten und unter leistungsbezogenen Ängsten sowie innerem Leistungsdruck litten. Außerdem sei insbesondere in dieser Branche der Missbrauch von Substanzen weit verbreitet, und auch unregelmäßige Schlafmuster wirkten sich negativ auf die psychische Gesundheit aus.
Es gebe Belege dafür, so die Forschenden, dass diese Umwelt- und Kulturfaktoren einen erheblichen Einfluss über die individuelle Veranlagung der Personen für psychische Erkrankungen hinaus hätten. Deshalb müssten sich Musikbranche und Gesellschaft mit der Frage auseinandersetzen, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen der Musikerinnen und Musiker verbessert werden könnten. Doch dafür müsse man das romantisierte, aber stark vereinfachte Bild vom leidenden Künstler überwinden und sich stattdessen mit evidenzbasierten Interventionen beschäftigen, die sich auch mit den systemischen Stressfaktoren am Arbeitsplatz befassten.
Ansatz zur Suizidprävention in der Musikbranche
Und genau das machen die Forschenden in ihren Ausführungen dann auch: Sie skizzieren einen konkreten Ansatz zur Suizidprävention in der Musikindustrie. Dabei verweisen sie auch auf mehrere Organisationen, die sich bereits um die psychische Gesundheit von Musikerinnen und Musikern bemühten - wie zum Beispiel das Man Down Programme in Großbritannien, Backline in den USA oder Support Act in Australien. Auch in Deutschland gibt es bereits Initiativen, etwa im Bereich der elektronischen Musik. Dennoch mangele es aktuell noch an Expertise für diese spezielle Risikogruppe, bemängeln die Forschenden.
Sie schlagen deshalb ein siebenteiliges Vorgehen vor, das sich auf einen systematischen Ansatz zur Suizidprävention – das Zero Suicide Framework – stützt. Um das jedoch für die Musikindustrie zu adaptieren, müssten sich im ersten Schritt führende Vertreterinnen und Vertreter der Branche auf Gespräche über Suizidprävention und die Entstigmatisierung von Suizid einlassen, heißt es. Daneben brauche es Schulungen und Trainingsprogramme zu diesem Thema für Personen im Umfeld von Musikern wie etwa Managern, Crew oder Familie. Die müssten sie in die Lage versetzen, Warnsignale und Risikofaktoren zu erkennen, die typisch für Musikerinnen und Musiker seien.
Zusätzlich brauche es für Betroffene konkrete Interventionen, so die Forschenden. Das könnten Programme sein, die sich auch bei anderen Bevölkerungsgruppen schon als wirksam erwiesen hätten, wie etwa Verhaltenstherapie. Das müsse jedoch mit speziellen Maßnahmen für diese Gruppe kombiniert werden, denn insbesondere für Musiker auf Tour seien etwa Übergaben, Erinnerungen und Überbrückungstermine bei der therapeutischen Behandlung besonders wichtig, damit sie kontinuierlich betreut werden. Und letztendlich müsse die Forschung sich auch noch intensiver mit dieser Gruppe auseinandersetzen, um mögliche Maßnahmen besser bewerten zu können, mahnen die Autoren an. In jedem Fall sei es wichtig, dass Forschende, Branchenvertreter und Fachleute für psychische Gesundheit miteinander kooperierten, um eine Gruppe zu schützen, die die Gesellschaft im Gegenzug durch ihre Kunst bereichere.
Links/Studien
Musgrave, George; Lamis, Dorian: Musicians, the music industry, and suicide: epidemiology, risk factors, and suggested prevention approaches. In: Frontiers in Public Health, Vol. 13, 7.3.2025. DOI: https://doi.org/10.3389/fpubh.2025.1507772.
(kie)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. Februar 2025 | 20:00 Uhr