goldene Bürotürme im Europaviertel Kirchberg-Plateau 4 min
Bildrechte: IMAGO / imagebroker

Essay Krise der Demokratie: Haben Gerichte zu viel Macht?

14. August 2024, 18:10 Uhr

Bedrohen populistische Parteien die Demokratie? Oder haben Gerichte die Entscheidungsmöglichkeiten von Parlamenten und damit Wählern zu stark eingeengt? Das fragt sich Politikwissenschaftler Philip Manow.

Der Populismus ist der Feind der Demokratie. In dem Maße, wie er an Stärke hinzugewinnt, wächst die Bedrohung für die demokratische Ordnung. So klingt die gängige Erzählung, die kaum mehr hinterfragt wird. Der Politikwissenschaftler Philip Manow meldet in seinem neuen Buch "Unter Beobachtung – Die liberale Demokratie und ihre Freunde" jedoch grundlegende Zweifel an dieser Betrachtung an.

  • "Der Populismus ist eine Krankheit, die von einem neuen, liberalen Verständnis der Demokratie hervorgebracht wird."

Man liest diesen Satz ungläubig, weil er eigene Denkgewohnheiten auf den Kopf und vermeintliche Gewissheiten in Frage stellt. Aber der Autor schätzt nicht nur die griffige, zugespitzte Formulierung. Er liefert auch überzeugende Erklärungen.

Die Krise der Demokratie ist für Manow Folge ihres Triumphs in den 1980er und 1990er-Jahren. Der Autor fasst die von ihm skizzierte Entwicklung unter dem Begriff einer "konstitutionellen Revolution". In deren Verlauf wurden in immer mehr Staaten Verfassungsgerichte etabliert, um über die Verfassung zu wachen. In Ost- und Mitteleuropa sollte der europäischer Rechtsrahmen den Transformationsprozess absichern und die Gesellschaften befrieden helfen. Der politische Raum wurde so immer mehr eingeschränkt.

  • "Auf allgemeiner Ebene lässt sich konstatieren, dass eine Aufwertung der Gerichte mit Kontrollfunktionen gegenüber parlamentarischen Mehrheiten mit einer Abwertung dieser Parlamente einhergeht, damit mit einer Abwertung der demokratischen Wahl und damit mit einer Abwertung der Wähler, was schließlich auch an der allgemeinen Verschiebung der politischen Diskurse ins juridische abzulesen ist."

Das Recht programmiere zunehmend die Politik und nicht mehr umgekehrt die Politik das Recht. Man müsse deshalb die Frage stellen: wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht? Ein Gleichgewicht, Manow spricht von einer Auto-Limitation, im Verhältnis zwischen Verfassungsgerichten und Regierungen, sei insbesondere dort nicht mehr gegeben, wo zentrale Bereiche vormals nationalstaatlicher Kompetenzen an die EU abgegeben wurden. Der Europäische Gerichtshof unterliege kaum einer Auto-Limitation, also einer Selbstbeschränkung der Rechtssprechung, weil er keinen politischen Gegendruck ausgesetzt sei.

  • "Gerät unsere Demokratie nicht möglicherweise genau deswegen umso tiefer in die Krise, je mehr politische Entscheidungsbereiche dem electoral korrigierbaren entzogen und dem institutionell auf Dauer gestellten überantwortet werden?"

Die Ausweitung demokratischer Schutzzonen habe zu einer Ausweitung demokratischer Kampfzonen geführt, schreibt Manow pointiert. Wo der Raum für die politische Auseinandersetzung immer kleiner werde und Dispute nicht auf parlamentarischem Weg ausgetragen werden könnten, wachse der Drang zur Fundamental-Opposition. Wenn gemeinhin von der Verteidigung der Demokratie die Rede ist, dann ist damit häufig der Kampf für bestimmte Werte gemeint. Manow jedoch interessiert sich nicht für den "Wertehimmel". Für ihn wird die liberale Demokratie stattdessen durch eine konkrete institutionelle Ordnung bestimmt. Die Krise der Demokratie, das ist Manows entscheidender Punkt, ist lediglich die Krise eines bestimmten, nämlich liberalen Demokratieverständnisses und nicht unbedingt auch die Krise der Demokratie schlechthin.

  • "Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung."

Den Konflikten, die erst aus der zunehmenden Verrechtlichung entstanden seien, werde in der Regel durch weitere Verrechtlichung begegnet. Was die Konfliktlage nur verschärfe. Dass sich an diesem eingeübten Modus etwas ändert, glaubt Manow nicht. In seinem provokanten Essay hält er sich mit Folgerungen und Prognosen zurück. Gewinnbringend ist die Lektüre trotzdem. "Unter Beobachtung" macht klar, dass wir nicht nur die Feinde, sondern auch die Freunde der liberalen Demokratie genau im Blick behalten sollten.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Juli 2024 | 12:15 Uhr

Mehr zum Thema