Podcast "Meine Challenge" Warum wir mit Hilfsbereitschaft auch uns selbst helfen
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31. August 2020, 11:32 Uhr
Eine Person ohne Obdach bittet um ein wenig Kleingeld, der Kollege hat ein PC-Problem, eine Freundin braucht Hilfe beim Umzug: Im Alltag ist unsere Hilfsbereitschaft oft gefragt. Um Hilfe zu bitten, ist zugleich für viele Menschen schwierig. Woher diese Hürde kommt - und warum wir dennoch auf Hilfsbereitschaft angewiesen sind.
Die gute Nachricht zu Beginn: In jedem und jeder von uns steckt ein Held oder eine Heldin! Die Entscheidung, wie sehr wir unseren Mitmenschen zur Seite stehen wollen, können wir jeden Tag aufs Neue treffen. Denn die Anlage zur Hilfsbereitschaft haben wir alle, erklärt Anne Böckler-Raettig, Professorin für Allgemeine Psychologie an der Universität Hannover. "Sehr lange galt die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die das einfach in sich tragen, die sehr hilfsbereit und großzügig sind. Dem gegenüber stehen die anderen, weniger Hilfsbereiten."
Doch bisher sei es der Forschung nicht gelungen, eine besonders ausgeprägte Hilfsbereitschaft auf bestimmte Persönlichkeits- oder soziodemografische Merkmale herunterzubrechen. Männer wurden mit Frauen verglichen, Reiche mit Armen, Republikaner mit Demokraten - nie sei ein belastbares Bild herausgekommen, so Böckler-Raettig. Ihre Schlussfolgerung:
Ich denke, dass da die Varianz zwischen Personen möglicherweise kleiner ist, als wir denken. Wir teilen die Welt gern ein in 'gute' und 'schlechte' Menschen. Man könnte das Ganze aber auch eher aufgereiht betrachten, anhand verschiedener Situationen: Es gibt Situationen, in denen wir Gutes tun und es gibt Situationen, in denen wir nichts Gutes tun, nicht helfen, nicht großzügig sind oder nicht teilen.
Gleich und gleich hilft sich gern
Aber was für Parameter sind es, die entscheiden, ob wir einem Menschen unsere Hilfe zuteilwerden lassen? Zum einen spielt die eigene Lebenssituation eine Rolle: Wer selbst jeden Cent umdrehen muss, wird einem Spendenaufruf eher nicht folgen; wer gerade von einem Termin zum anderen hetzt, hat möglicherweise kein offenes Ohr für hilfesuchende Freunde.
Doch jenseits dieser individuellen Faktoren gibt es durchaus auch eine übergreifende Systematik: "Da spielen Dinge eine Rolle, die zum Teil für uns Menschen nicht ganz rühmlich sind, derer wir uns aber immer wieder bewusst werden sollten. Wir neigen dazu, Menschen zu helfen, die uns ähnlich sind. Wir helfen tendenziell eher Leuten unserer eigenen Gruppe. Das kann die ethnische Gruppe sein, eine religiöse Gruppe oder eine ganz andere", erklärt Anne Böckler-Raettig. Der Grund dafür: Hilfe sei immer mit Vertrauen auf beiden Seiten verbunden. Und Vertrauen werde wahrscheinlicher, wenn man meine, sein hilfsbedürftiges Gegenüber einschätzen zu können.
Selbstgewählte Hilfsgemeinschaften
Entsprechend haben sich auch die Strukturen, in denen wir Hilfe geben und Hilfe erhalten, im Zuge des gesellschaftlichen Wandels verändert, erklärt der Soziologe Philipp Degens. Er untersucht in der Forschungsgruppe "Zukünfte der Nachhaltigkeit" an der Uni Hamburg unter anderem, wie Helfen sich über die Generationen wandelt:
Dieses Phänomen finden wir heute vielleicht nicht mehr so stark in der Großfamilie, aber weiter in Familien oder auch in Freundeskreisen - kurz: in Gemeinschaften, die tendenziell selbst gewählt sind.
Dies sei kein Grund, den alten, festen Hilfsgemeinschaften nachzutrauern. Im Gegenteil: Durch den geweiteten Fokus in einer globalisierten Welt würden ganz neue Möglichkeiten der Hilfe geschaffen, man müsse nur einmal an Blutspenden oder Hilfsaktionen für in Not geratene Menschen auf der anderen Seite des Planeten denken.
"Fundamentaler Bestandteil der Gesellschaft"
Egal, wie sich unsere Gesellschaft wandelt: Hilfe wird, so Degens, immer ein zentrales Instrument zur Gestaltung unserer Bindungen sein. "Geben und Helfen sind fundamentale Bestandteile der Gesellschaft. Das kann man ganz gut im Vergleich zu anderen Positionen sehen.
In den Wirtschaftswissenschaften gibt es dieses Menschenbild eines egoistischen, stets rationalen und vor allem immer eigeninteressierten Menschen. Das scheint nicht zu stimmen. Wenn man sich anguckt, wie unsere Gesellschaften funktionieren, dann erkennt man, dass wir nicht immer nur den eigenen Nutzen maximieren wollen, sondern auch altruistisch handeln können. Wir geben und nehmen. Ständig."
Warum wir ungern um Hilfe bitten
Dieses neoliberale Narrativ des Scheuklappen tragenden, auf den eigenen Vorteil bedachten Menschen kann dazu führen, dass wir uns schwertun, nach Hilfe zu fragen. "Wir müssen uns erst einmal eingestehen, dass wir wirklich mit dem Rücken zur Wand stehen und ein Problem nicht allein lösen können. Das ist nichts, was wir so gut in Einklang bringen können mit unserem Streben nach Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit", erklärt Veronika Engert, Professorin für soziale Neurowissenschaft am Institut für psychosoziale Medizin und Psychotherapie am Uniklinikum Jena. Sich aus diesem Muster zu befreien, müsse man lernen:
Ich muss nicht immer weitermachen und weitermachen, bis ich all meine Ziele erreicht habe, sondern ich kann auch einfach zurücktreten und sagen, dass ich jetzt eine Pause brauche. Diese Denkweise liegt aber eher nicht in unserer Sozialisation.
Der Markt als bequemere Hilfe-Adresse
Einflussfaktoren der modernen Welt machen es uns nicht unbedingt einfacher, um Hilfe zu bitten, erklärt der Soziologe Philipp Degens: "Es kommen ja viele Hilfsleistungen oder Unterstützungsmaßnahmen heutzutage über den Markt. Wenn Sie ein Auto ausleihen wollen, haben Sie die Möglichkeit, sich ein Auto zu mieten oder in einem Carsharing-Programm mitzumachen, statt im Freundeskreis darum zu bitten."
Durch die Kommerzialisierung von Dienstleistungen kommen wir also immer wieder in Situationen, in denen wir uns fragen müssen: Bitten wir einen Menschen in unserem Umfeld um Hilfe - oder nehmen wir, so vorhanden, Geld in die Hand und "kaufen Hilfe ein"? Inwiefern diese kapitalisierte Verfügbarkeit diverser Dienstleistungen, die uns vom persönlichen Um-Hilfe-bitten entbinden kann, dazu führt, dass unsere Scheu, im Alltag und unentgeltlich nach Unterstützung zu fragen, wächst, dazu gibt es Stand jetzt noch keine belastbaren Untersuchungen.
Damit uns das möglichst nicht passiert, hat Philipp Degens noch einen Tipp: "Wir sind es so gewohnt, anderen nichts schulden zu wollen. Vielleicht würde es uns leichter fallen, um Hilfe zu bitten, wenn wir insgesamt stärker anerkennen würden, in wie vielen Bereichen und in wie vielen Situationen genau solche Unterstützungsleistungen, solche Hilfsleistungen, solche Gaben eigentlich immer da sind." Eine Sensibilisierung kann also helfen, das eigene Verhältnis zu Hilfsbereitschaft und Hilfsbedürftigkeit zu normalisieren.
Wer anderen hilft, hilft auch sich selbst
Genau zu dieser Sensibilisierung forscht auch Veronika Engert, Professorin für soziale Neurowissenschaft am Uniklinikum Jena. Sie ist daran interessiert, wie pro-soziales Verhalten sich auf unser Stresslevel auswirkt. In einer Versuchsreihe ließen sie und ihr Team Probandinnen und Probanden eine Art "Mitgefühl-Training" durchlaufen. Engert erklärt: "Da ging es darum, zu lernen, wie man seine eigenen Gedanken und die Gedanken anderer Menschen besser verstehen kann. Die Übungen hatten einen wahnsinnig starken Einfluss auf die Freisetzung des Stresshormons Cortisol in einer akuten Stresssituation: Die Freisetzung wurde nämlich mehr als halbiert."
Wer für Hilfsbereitschaft sensibilisiert ist, hilft also am Ende auch sich selbst? Offenbar ist es tatsächlich so. Darauf weist auch eine Studie aus dem Jahr 2015 hin, bei der Probandinnen und Probanden über mehrere Tage hinweg ihre guten Taten und ihr Wohlbefinden erfassten. Ergebnis: Wer viel hilft, fühlt sich wohler und kann mit Stresssituationen besser umgehen. Oder wie es Veronika Engert zusammenfasst: "Da wurde sehr schön gezeigt, dass pro-soziales Verhalten auf emotionaler Ebene einen positiven Effekt auch für den Akteur dieses pro-sozialen Verhaltens hat."
Um Hilfe bitten - ein Geschenk an andere
Die Psychologie kennt noch weitere positive Effekte aktiven Helfens. Tatsächlich springen, wenn wir eine gute Tat vollbringen, in unseren Gehirnen jene Bereiche an, die oft als "Belohnungszentrum" zusammengefasst werden. Die Psychologie-Professorin Anne Böckler-Raettig erklärt, warum Helfen uns so eine Art positiven Trip schenkt:
Jemanden zu sehen, der sich unseretwegen freut, ist eine Freude. Gleichzeitig gibt es uns auch das Gefühl, dass wir etwas tun können, dass wir die Welt ein Stückchen verändern können. Es gibt uns einen Sinn, eine Identität.
Insofern kann das Bitten um Hilfe also zu einer Art Win-Win-Situation führen. Der Hilfsbedürftige bekommt Unterstützung, der Helfende mehr Stressresistenz, mehr Wohlbefinden und das gute Gefühl der Selbstwirksamkeit. Oder, wie es Böckler-Raettig auf den Punkt bringt: "Sich helfen zu lassen, um Hilfe zu bitten - das ist einer der größten Gefallen, die wir einem Menschen tun können."
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