Zuschauereffekt in der Psychologie Warum helfen wir nicht immer, obwohl wir es könnten?

02. August 2020, 05:00 Uhr

Immer wieder gibt es Berichte von unterlassener Hilfeleistung. Oft geht es um Situationen, wo viele Menschen anwesend waren. Rassistische Pöbeleien in der Straßenbahn zum Beispiel. Ein Bericht sorgte zum Beispiel für viel Empörung, als ein kranker Mann vor einem Bankautomaten lag und alle über ihn hinweg stiegen. Niemand half. Aber welche Mechanismen stecken dahinter und wie kann man solche Verhaltensweisen erklären?

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1964, eine kalte Märznacht in New York. In einem bewohnten Hinterhof in Queens wird eine junge Frau 45 Minuten lang immer wieder angegriffen, bis sie stirbt. Die New York Times berichtete, dass mehr als 35 Menschen Zeugen des Mordes waren. Niemand rief die Polizei. Am Schluss, als das Opfer schon tot war, gab es dann doch einen Anruf. Dieses Ereignis war Anlass für viele Forscher, genauer zu hinterfragen, was hinter so einem Verhalten steckt.

"Die ersten Erklärungen dieses Phänomens waren von gesellschaftskritischer Natur. Das Wegsehen wurde mit der Anonymität der Großstadt begründet, oder auch mit 'der moderne Mensch hilft nicht mehr'", weiß Immo Fritsche von der Leipziger Universität. Die sozialpsychologische Erklärung gehe jedoch von einem anderen Ansatz aus. "Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person in einer Notsituation hilft, nimmt ab, je mehr Zuschauer anwesend sind." In der Wissenschaft hieße dies "Effekt der passiven Zuschauenden" oder auch Zuschauer-Effekt.

Wichtige Fragen müssen vor Nothilfe beantwortet sein

Grundsätzlich sei der Mensch ein soziales Wesen. Bevor er handle und helfe, müssten jedoch für ihn wichtige Fragen beantwortet sein. "Eine ist, dass er eine Situation als Notfall identifizieren muss", erklärt Fritsche, der als Professor für Sozialpsychologie an der Uni Leipzig lehrt.

"Ein Beispiel: Ein Mensch liegt am Straßenrand. Ist er betrunken? Lebt er auf der Straße und will gar keine Hilfe? Falls er doch Hilfe braucht, wäre dann die zweite Frage: Kann ich etwas tun, an der Stelle. Kann ich helfen mit meinem Verhaltens-Repertoire, kann ich die Person wecken und aufrichten, oder bin ich selbst zu schwach. Die dritte Frage ist, wer ist eigentlich verantwortlich, um einzugreifen. Bin ich verantwortlich, oder ist es 'Sache der Polizei oder des Rettungsdienstes' oder anderer Leute?" Fritsche erklärt: "Der Zuschauer-Effekt verändert die Antworten diese drei Fragen."

Zuschauer symbolisieren eine Abwesenheit von Gefahr

Stehen viele Leute um herum, würden das viele Menschen unbewusst als eine Abwesenheit von Gefahr wahrnehmen, so Fritsche. Menschen seien soziale Wesen und orientierten sich an anderen. Würden jetzt alle den Notfall beobachten, werde psychologisch suggeriert, es sei das Richtige, weil es ja alle tun. Zudem verleite die Gemeinschaft der anderen oft, die Dramatik des Einzelnen nicht zu erkennen.

Gleichzeitig ist mein Eingreifen mit persönlichen  Kosten verbunden. Wenn ich mich als hilfeleistende Person exponiere, werde ich dann vielleicht selbst in einen Streit oder eine handfeste Auseinandersetzung verwickelt?

Immo Fritsche, Sozialpsychologe Uni Leipzig

Wie bei Tieren gelte das Gesetz des Haushaltens: Energie sparen und nur das Nötigste  zu wagen, um das eigene Leben zu schützen.

Nicht alles ist auf den Zuschauer-Effekt zurückzuführen

Frank Oberzaucher von der Universität Konstanz befasst sich mit Interaktionsmethoden bei Menschen. Er sagt, Vorsicht. Nicht überall, wo Zuschauer-Effekt drauf steht, ist er auch drin. "Wir können nicht in die Köpfe der Leute hineinsehen" erklärt Oberzaucher. Manchmal gäbe es tatsächlich schlicht und einfach unterlassene Hilfeleistung. Der gesunde Mensch würde dies aber nicht tun.

Nicht überall Gefahr sehen

Wichtig sei Oberzaucher zufolge, nicht in jeder ungewöhnlichen Situation eine Gefahr zu sehen. "Wenn wir hinter jeder Situation im Alltag eine potentiell gefährliche Hilfe-Situation vermuten würden, kämen wir nur schwer durch den Tag."

Das  Alltagsbewusstsein eines gesunden Menschen sei grundsätzlich positiv. Wir gehen davon aus, dass alles in Ordnung ist. Wenn ein zweijähriges Kind schreie 'ich will das nicht', vermute niemand, dass es entführt wird. Jeder ginge erst einmal davon aus, dass der mittelalte Mann daneben der Vater oder Großvater ist.

Angst vor der Bewertung der anderen

Der Bystander Effekt zeige, wie der Alltag funktioniert, erklärt Oberzaucher. Wenn wir nicht helfen, sei dies aber nicht nur eine Frage des Abwägens, sondern auch eine Angst vor der Bewertung der anderen.

"Die Zahl der Zuschauenden hat hier einen Einfluss. Wenn wir Hilfe leisten, wagen wir uns ja als Einzelner vor. Wenn wir uns unsicher sind, ob wir kompetent genug sind, befürchten wir uns zu blamieren. Und je mehr Menschen zuschauen, umso größer ist auch das Potential sich zu blamieren."

Was tun?

Doch was tun, wenn man helfen möchte, der Situation aber nicht gewachsen sind? Erstens fragen, die Betroffenen oder auch die Umstehenden, ob Hilfe gebraucht werde. Eine Möglichkeit sei laut Oberzaucher auch, die Situation zu brechen. "Ähnlich wie Unsinn stiften, ganz in der Manier von Clowns, die dann die Situation stören, irritieren. Das ist hilfreich, um die Situation neu zu definieren, mit der Beteiligung anderer."

Mut für den ersten Schritt

Wer vermeiden möchte, Angst zu haben und vermeintlich feige herum zu stehen, könne zudem ein Courage-Training besuchen, betont Oberzaucher. Dort lerne man, sich in schwierigen Situationen richtig zu verhalten und die Initiative zu ergreifen. "Wenn einer beginnt, sind auch die Umstehenden schnell bereit, mit anzupacken. Manchmal gehört einfach Mut dazu, den ersten Schritt zu tun."

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