Studie zu Bingewatching Warum die Serien-Sucht jeden treffen kann
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04. Oktober 2023, 10:58 Uhr
Drogen, Sex, Alkohol, Spiele: Kann alles süchtig machen. Aber was macht Serien-Bingewatching zum "Suchtkandidaten" und wer ist eigentlich suchtgefährdet?
Sucht, Einstieg, Drogen – wer mit dem Wissenschaftler Claus-Peter Ernst über das Phänomen Bingewatching spricht, hört diese Begriffe sehr oft. Das klingt dramatisch und schreit entweder nach Reglementierung oder wenigstens öffentlicher Diskussion. Oder ist es einfach nur ein Phänomen, das jeder mit sich selbst, Partnern oder Kindern ausfechten muss?
An den Erfolg öffentlicher Kampagnen mit drastischen Darstellungen – Stichwort Zigarettenwerbung – oder staatlicher Reglementierung glaubt Professor Dr. Claus-Peter Ernst nicht, der an der Frankfurt University of Applied Sciences lehrt und forscht: "Ich sehe da eher die Verantwortung von Freunden und Familie, dass man aufmerksam miteinander umgeht. Und wenn man das Gefühl hat, dass jemand zu viel konsumiert, dass man auf die Leute zugeht, nicht vorwurfsvoll, sondern helfend und unterstützend auftritt."
Was unterscheidet Fernseh-Seriensucht und Drogensucht?
Aber kann man Drogensucht überhaupt im gleichen Atemzug wie Seriensucht nennen? Die Sucht nach Serien funktioniert jedenfalls ähnlich: Kann man sie nicht konsumieren, kriegt man schlechte Laune, man braucht ständig mehr, man kann nicht damit aufhören und nimmt in Kauf, dass man die Umgebung verärgert. Was unterscheidet die Binge-Watching Sucht nun von der "klassischen" Drogensucht?
Wenn ich süchtig bin nach Kokain oder Marihuana, habe ich größere Probleme an diese Drogen heranzukommen. Ich muss wissen, wo bekomme ich sie, ich muss das Geld aufbringen und die Sachen besorgen. Für eine Fernsehseriensucht muss ich nur 9,99 Euro für ein Streaming-Abo investieren und habe mehr von der Droge als ich realistisch in einem Monat konsumieren kann.
Das macht für ihn das große Problem dieser "neuen Droge" aus: der leichte, schier unbeschränkte Zugang. Eine Einschränkung oder ein Abdrehen des Suchtmittels ist für Freunde oder Verwandte kaum möglich, glaubt Ernst. Bieten bereits Serien, die auf Jugendliche zielen, Einstiege in ein Suchtverhalten? Nicht unbedingt, meint der Forscher. Entscheidend sei das Verhalten der Eltern: "Wenn ich als junger Mensch keine Einschränkung erfahre oder es für mich normal ist, etwas ohne Einschränkung zu machen, wird es umso schwerer, (sich) dieses eingeübte Verhalten später wieder abzugewöhnen."
Stichwort Bingewatching In den Duden hat es der Begriff noch nicht geschafft, im Gegensatz zum "Binge-Drinking", als Synonym für das umgangssprachlie "Komasaufen" oder Rauschtrinken. In der Wissenschaft wird vom Bingewatching gesprochen, wenn in einer Bildschirmsession drei, vier oder mehr Folgen einer Serie am Stück konsumiert werden.
Bingewatching kann jeden Seriengucker süchtig machen, wenn...
Über das "Komaglotzen" wird viel diskutiert: Ist es tatsächlich oder einfach nur eine "Art des selbstbestimmten Konsums der aufgewachten Coach-Potatoes", wie es in einer Studie des Streaming-Anbieters Netflix heißt, der dieses Nutzerverhalten anhand seiner Abrufzahlen als "das neue Normale" erklärte. Ist es am Ende gar zu vergleichen mit dem "Phänomen" Buch? Der Begriff "Leseratte" für Vielleser ist schließlich ähnlich abfällig wie "Serienjunkie". Und wer ist eigentlich für die Sucht nach den marathonartigen Serien-Sessions anfällig? Das hat Professor Claus-Peter Ernst in zwei Onlinestudien beleuchtet: Er suchte nach einem Zusammenhang von großem oder kleinem Selbstwertgefühl und Bingewatching von Reality-Serien, sowie nach der Bindung von Bingewatchern zu den Serienfiguren. Ergebnis: Die Sucht nach dem Serien-Marathon kann selbstbewusste Menschen genauso treffen wie Unsichere.
Lediglich ihre Motive sind verschieden: Selbstbewusste geraten in Abhängigkeit, weil sie nach Zugehörigkeit suchen – mit Figuren aus Serien, die in ähnlichen Lebenswelten unterwegs sind wie sie selbst, oder außerhalb ihres Erfahrungskreises, wie in "House of Cards", wo sich ein Politiker mit halblegalen Mitteln an die Macht spielt: interessante Figuren, zu denen man sich hingezogen fühlt. Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl dagegen suchen Ernst zufolge in Reality-TV nach Personen, denen es schlechter geht als ihnen selbst, um sich selbst besser zu fühlen – ein befriedigendes Gefühl, das ebenfalls süchtig machen kann.
Was macht das Ausschalten eigentlich so schwer?
In beiden Fällen garantieren Serienhelden dauerhafte Erfüllung das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ernst verdeutlicht das am Beispiel der "Lindenstraße" mit ihrem über Jahrzehnte konstantem Figurenkabinett: "Man kann als Zuschauer durchaus Anteil am Leben fiktiver Personen und deren fiktiven Leben nehmen, man hat die aufwachsen gesehen als kleine Kinder, heute haben sie einen Job." Solche Medien befeuern das Suchtverhalten zum Beispiel auch dann, wenn man den Wohnort wechselt und das soziale Umfeld nicht mehr greifbar ist: "Dann kann das Fernsehen diese Lücke, die sich bei einem aufgetan hat, in gewisser Weise schließen". Genau betrachtet, befriedigen Serienfiguren so die Sehnsucht nach Zugehörigkeit häufiger als Freunde oder Familie - und zwar wann und so lange wie man will: Das macht das Ausschalten so schwer.
Hilfsmittel zum Ausschalten – nötig oder nutzlos?
Ob zwischendurch eingestreute Hinweise das Serien-Bingewatching ausbremsen könnten? Zum Beispiel "Sie gucken jetzt seit vier Stunden. Lust auf ein bisschen frische Luft?" Oder könnten Reglementierungen durch die Streaming-Accounts helfen, indem sie nur eine beschränkte Anzahl von Episoden pro Tag zeigen? An die Wirkung drastischer Hinweise auf mögliche Suchtgefahren oder -folgen wie auf Zigarettenpackungen glaubt Ernst nicht. Bevor die Wissenschaft erforschen kann, ob oder wie so etwas wirken könnte, steht ein ganz anderer Schritt, glaubt der Forscher: Die Gesellschaft muss entscheiden, ob sie sich dem bisher privaten Phänomen außerhalb der Wohnzimmer (entgegen) stellen will.
Dieses Thema im Programm: MDR aktuell | Radio | 27. August 2018 | 19:50 Uhr