Sportmedizin Gehirnerschütterungen im Sport können drei Mal gefährlich sein
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11. Januar 2025, 13:00 Uhr
Kopfverletzungen werden im Sport heutzutage ernster genommen als noch vor einiger Zeit. Die Folgen von Gehirnerschütterungen können fatal sein. Eine neue Studie hat untersucht, welche Rolle inaktive Viren dabei spielen.
13. Juli 2014: Es ist das größte Spiel in der Karriere von Christoph Kramer. Überraschend steht der deutsche Nationalspieler in der Startaufstellung der DFB-Elf im wichtigsten Duell im Fußball: dem WM-Finale. Nach der 7:1-Gala im Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien soll das Turnier am Zuckerhut gekrönt werden, der Sieg gegen die Argentinier um Superstar Lionel Messi her. Kramer ist gerade 23 – und wird an diesem Abend den größten Erfolg seiner Karriere feiern. Doch er wird auch Symbol für eine Debatte, die den deutschen Sport erreicht und bis heute nicht wieder loslässt: Kopfverletzungen und ihre Auswirkungen.
Kopfverletzungen – Ein Thema im Sport, weit über den Fußball hinaus
Es läuft die 31. Minute, als der Gladbacher mit dem Argentinier Ezequiel Garay zusammenrauscht, benommen liegenbleibt, behandelt wird – und weiterspielt. Erst, als er den verdutzten Schiedsrichter Nicola Rizzoli zweimal fragt, ob dieses Spiel hier das WM-Finale sei, bittet der Unparteiische den deutschen Nationaltrainer Joachim Löw um einen Wechsel. Kramer sieht von draußen zu, wie Deutschland sich zum vierten Mal mit dem WM-Pokal belohnt.
Nach diesem Vorfall auf der größtmöglichen Bühne des Fußballs intensivieren sich Diskussionen, die bis heute nicht abgeschlossen sind, die auch andere Sportarten wie American Football, Eishockey, den Radsport oder Boxen betreffen. Diskussionen um Gehirnerschütterungen im Sport und ihre Auswirkungen.
Kai Wohlfarth, Leiter des mitteldeutschen Concussion Centers (Concussion = Gehirnerschütterung), unterstreicht die Gefahren: "Gehirnerschütterungen sind erst mal in dem Moment, in dem sie auftreten für den Spieler gefährlich, weil das Risiko einer weiteren Verletzung im Laufe des Spiels, je nachdem, über was für eine Sportart wir reden, natürlich dann steigt." Es besteht das Risiko eines Second Impact Syndroms, einer weiteren Verletzung infolgedessen, dass ein Sportler sich nach einer Verletzung nicht schont.
Alzheimer, Parkinson, CTE: Erhöhtes Risiko für Sportler
Eine direkte, kurzfristige Folge kann das postkommotionelle Syndrom sein. "Das heißt, wenn die Gehirnerschütterung eingetreten ist und der Spieler dann vielleicht ausgewechselt wurde, kann in den nächsten Tagen oder auch Wochen ein Symptomkomplex mit physischen, psychischen, kognitiven, emotionalen Beeinträchtigungen folgen", erklärt Wohlfarth. Bei zehn bis 20 Prozent der Betroffenen wird dieses Syndrom zu einer chronischen Erkrankung. Dann drohen langfristig weitere Folgeerkrankungen, besonders für Frauen und Mädchen.
In den USA beschäftigt die Krankheit CTE (chronisch-traumatische Enzephalopathie) die NFL, die reichste Sportliga der Welt. CTE entsteht durch wiederholte Gehirnerschütterungen und führt zu Demenz und Persönlichkeitsänderungen und hat tausende Footballspieler betroffen. Doch auch andere Krankheiten wie Parkinson, ALS und Alzheimer treten bei Sportlern und Sportlerinnen gehäuft auf.
Ursachenforschung noch weit vom Ziel entfernt
Über die im Hirn ablaufenden Prozesse, die zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz führen, ist bisher wenig bekannt. Wohlfarth erklärt: "Wir gehen aber davon aus, dass je nach Empfindlichkeit des einzelnen Sportlers eine Concussion zu einer kurzfristigen Funktionsstörung des Gehirns, so ist ja auch die Definition letztendlich gefasst, führt. Das kann natürlich im Gehirn zu entsprechenden Schädigungen der Nervenzellen oder Nervenverbindungen führen, aber auch der Umgebungsstrukturen, der Haltestrukturen. Wenn ich das häufiger habe, also häufiger solche Ereignisse, in kurzen Abständen möglicherweise, kann es dazu kommen, dass ein Prozess der Regeneration nicht ausreichend stattfinden kann." Auch Entzündungen im Gehirn können eine Rolle spielen.
Einen anderen Erklärungsansatz wollen Forscher aus Boston/USA gefunden haben. Eine neue Untersuchung der Universitäten Tufts und Oxford hat die zugrundeliegenden Mechanismen, die zwischen Kopfverletzungen und diesen Krankheiten bestehen, untersucht – und eine neue Idee für Behandlungen abseits der bereits bestehenden.
Schlummernde Viren als Ursache?
Dana Cairns, Biomedizinerin und Hauptautorin der neuen Untersuchung, hatte in früheren Studien Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Herpes-Simplex-Virus 1 (HSV-1) und Alzheimer-Symptomen in Labormodellen des Gehirns gefunden. HSV-1 schlummert bei über 80 Prozent der Menschen in den Zellen und wandert auch ins Hirn, ruht in Nerven- und Gliazellen. Wird der Erreger dort aktiv, kann er Plaquebildung vorantreiben, Entzündungen hervorrufen und neuronale Netze stören. Cairns und ihre Kollegen fragten sich, "was passieren würde, wenn wir das Hirngewebemodell einer physischen Störung aussetzten, ähnlich einer Gehirnerschütterung. Würde HSV-1 aufwachen und den Prozess der Neurodegeneration in Gang setzen?"
Bisher war bekannt, dass das Virus etwa durch Stress oder Immunreaktionen aktiv wird und neuronale Schäden verursacht. Mit Hilfe eines Hirngewebemodells – eine Gewebemischung, in die neurale Stammzellen eingebettet sind, die Netzwerke bilden – untersuchten Cairns und ihr Team die Auswirkung von Schlägen auf den Kopf. In den Modellen, in deren Neuronen HSV-1 schlummerte, löste eine Labor-Gehirnerschütterung eine Reaktivierung des Erregers aus. Die Folge: charakteristische Marker der Alzheimer-Krankheit, darunter Amyloid-Plaques, p-tau (ein Protein, das faserartige Ballen im Gehirn bildet), Entzündungen, absterbende Neuronen und eine Vermehrung von Gliazellen, Gliose genannt. Weitere Schläge führten zu denselben Reaktionen, die sogar noch schwerwiegender waren. In Modellen ohne Virenlast bildete sich derweil nur etwas Gliose, jedoch keine anderen Anzeichen für neurodegenerative Erkrankungen.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Sportler, denen Gehirnerschütterungen widerfahren, eine Reaktivierung latenter Infektionen im Gehirn erleiden könnten, die zur Alzheimer-Krankheit führen. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass mehrfache Schläge auf den Kopf das Risiko, nach Monaten oder Jahren an einer neurodegenerativen Erkrankung zu erkranken, verdoppeln oder sogar noch mehr erhöhen können.
Kai Wohlfarth, Leiter der Neurologie am Klinikum Bergmannstrost in Halle, sieht einen monokausalen Erklärungsansatz kritisch. "Jeder von uns trägt diese Herpesviren in sich. Wir haben alle Kontakt und diese Viren persistieren, ohne dass sie irgendwelche Erkrankungssymptome auslösen, können aber reaktivieren. Und diese Reaktivierung kann zum Beispiel auch ein Trauma sein, aber es kann auch eine Erkältung sein, es kann auch negativer Stress sein oder andere Faktoren, die dazu führen, dass das Virus reaktiviert wird und dann auch zu Erkrankungssymptomen führt. Und daran erkennt man, wie multikausal der Komplex sein kann. Und das auf einen Faktor zurückzuführen, ist erst einmal aus der Sicht des Neurologen eine Spekulation."
Antivirale Mittel und Entzündungshemmer als mögliche Therapie?
Die Forscher in den USA bringen dennoch eine Ableitung aus ihrer Studie zur Therapie ins Spiel. Cairns: "Dies wirft die Frage auf, ob antivirale Medikamente oder entzündungshemmende Wirkstoffe als frühzeitige präventive Behandlungen nach einem Kopftrauma nützlich sein könnten, um die HSV-1-Aktivierung im Keim zu ersticken und das Alzheimer-Risiko zu senken." Eine Hoffnung, die nicht nur für Leistungssportler von Belang sein dürfte.
Doch der Toxikologe und Pharmakologe aus Halle zerstreut diese schnell und vehement: "Medikamente zu geben, ist derzeit nicht ableitbar. Auch aus dieser Studie nicht." Zu groß seien die Nebenwirkungen, zu jung und gesund die Leistungssportler für die pharmazeutische Keule, die dazu auch Viren selten komplett abtöten. "Das Risiko-Nutzen-Verhältnis ist nicht so ausgewogen, dass man sagen kann, wir können das problemlos in der Prävention empfehlen", so Wohlfarth.
Training, Concussion-Protokoll und Ernährung
Stattdessen lege die Forschung andere Ansätze nahe. Und diese werden bereits verfolgt. Etwa habe sich laut Wohlfarth die Schutzausrüstung weiterentwickelt, beim American Football oder beim Ski Alpin. Und beim deutschen Volkssport Nummer eins, dem Fußball, würden die Trainingsmethoden etwa für Kopfbälle zusehends angepasst. "Das kann man auch bei Kindern und Jugendlichen machen, ohne dass eine Gefährdung zu erwarten ist. Stärkung der Halsmuskulatur, der Kopfmuskulatur, das sogenannte Valsalva-Manöver sind protektive Mechanismen, gerade wenn man einen Kopfball durchführen möchte."
Auch sei Ruhe nach einem Schädel-Hirntrauma unabdingbar. Dazu haben viele Sportarten sogenannte Concussion Protocols eingeführt, die nach einer Gehirnerschütterung die Athleten schützen sollen. Wohlfarth, der beispielsweise mit Fußballern von RB Leipzig und Handballern vom SC DHfK Leipzig zusammenarbeitet, erklärt: "Eine Versorgung umfasst symptomatische Maßnahmen und Ruhe. Dann gibt es ein sechsstufiges Wiedereingliederungsprogramm mit Steigerung der Belastungsstärke. Oder der Belastbarkeit der physischen und psychischen Belastung des Spielers in sechs Stufen, die dann 10 bis 14 Tage umfassen, oder auch länger. Weitere Möglichkeiten sind der gesunde Lebensstil. Ernährungsprotokolle, wie es bei den Profispielern der Fall ist, kann man auch einsetzen, um Folgen eines Spielraumtraumas zu verhindern."
Aufklärung an der Basis
Doch auch weit weg von der Weltelite im Sport treten Kopfverletzungen auf, etwa in den untersten Ligen, wo ein Mediziner am Platz die absolute Ausnahme ist. "Gerade wenn man über die Kreisklasse spricht oder die Sportvereine, die nicht über einen eigenen Mannschaftsarzt verfügen, dass man eine entsprechende Aufklärungsarbeit leistet. Das fängt beim Spieler selbst an, auch beim Jugendspieler oder Kind", sagt Wohlfarth. "Am Ende ist es der Trainer, der das Kind oder den Jugendlichen vom Platz nehmen sollte, müsste. Der sollte zumindest besonders geschult sein, um reagieren zu können."
Training und Ernährung scheinen zu helfen
In aktuell laufenden Untersuchungen hat Kai Wohlfarth schon Anzeichen für die Sinnhaftigkeit der ergriffenen Schutzmaßnahmen gefunden. In Untersuchungen an Profis in Leipzig von RB und vom SC DHfK haben der Neurologe und sein Team Biomarker im Blut untersucht, die auf akute Neurodegenerationen hinweisen. "Biomarker, die darauf hindeuten, dass Nervenzellen, Stützgewebe, Nervenverbindungen zugrunde gegangen sind, haben wir nicht gefunden. Das könnte darauf hindeuten, dass spezielle Trainingsmethoden oder Lifestyle-Faktoren, Ernährungs- und medizinische Ansätze die Spieler davor schützen. Das würde man letztendlich auch auf den Kinder- und Jugendsport oder auf den Breitensport übertragen wollen." Ein unerwartetes Ergebnis für die Forscher, sagt Wohlfarth: "Das war für uns eine Überraschung. Aber auch eine sehr positive Überraschung."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 07. Januar 2025 | 16:00 Uhr
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