Abwasserproben werden untersucht.
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Kinderlähmung Polioviren im Abwasser europäischer Städte beunruhigen Wissenschaftler

17. Dezember 2024, 16:30 Uhr

Spanien, Polen, Deutschland, Vereinigtes Königreich, Finnland: Nun wurden schon in fünf europäischen Ländern Polioviren im Abwasser gefunden. Der zuständige WHO-Wissenschaftler bezeichnet das als "verwirrend", "unorthodox" und "sehr besorgniserregend". Die Ermittlung der Herkunft der pathogenen Viren gestaltet sich schwierig.

Mann mit Brille und Kopfhörern vor einem Mikrofon
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Bislang sind in Europa keine aktuellen Lähmungsfälle aufgrund des Virus bekannt, und das Risiko eines Ausbruchs der Poliomyelitis (Kinderlähmung) wird wegen der hohen Impfraten in den europäischen Ländern als gering eingestuft. Trotzdem rätseln Wissenschaftler, wie und warum sich das Poliovirus so schnell und großflächig ausbreitet und was das am Ende alles bedeuten wird.

Shahin Huseynov ist bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Polio in der Europäischen Region zuständig. "Verwirrend", "sehr unorthodox" und "sehr besorgniserregend" hatte er die Lage schon genannt, als "nur" die Fälle aus Spanien (Barcelona), Polen (Warschau) und Deutschland (München, Köln, Bonn, Hamburg, Dresden, Düsseldorf, Mainz) bekannt waren. Vor einer Woche wurde das Virus allerdings auch noch im Vereinigten Königreich (Leeds, London, West Sussex) und Finnland (Tampere) nachgewiesen.

Huseynov ist einer von vielen Forschern, die versuchen, herauszufinden, woher das Poliovirus stammt und wie es sich in so kurzer Zeit so weit verbreiten konnte. "Genetisch gesehen ist das Bild sehr, sehr ungewöhnlich. Es ist sehr faszinierend", sagt der WHO-Wissenschaftler im Magazin "Science". Die Proben stammen von einem in Afrika zirkulierenden Stamm ab, sagt er, aber das Ausmaß der Variationen – sowohl vom Hauptstamm als auch untereinander – mache es schwer zu rekonstruieren, wo das Virus zuerst nach Europa kam und ob es mehrfach eingeschleppt wurde oder nur einmal und dann immer weiter übertragen.

Aktuelle Polio-Nachweise: Ursprung wahrscheinlich in Afrika, aber sicher ist das nicht

Fakt ist, bei allen neu entdeckten Isolaten des Virus handelt es sich um von Impfstoffen abgeleitete Polioviren des Typs 2, die von dem abgeschwächten Lebendvirus abstammen, das im oralen Polioimpfstoff (OPV) verwendet wird, also bei der Schluckimpfung. Diese Schluckimpfung gibt es in Europa gar nicht mehr, aber in einigen Ländern Afrikas und Asiens. Die jetzt gefundenen Isolate stammen von einem Stamm ab, der vor einigen Jahren in Nigeria auftauchte und sich in ganz Afrika verbreitet hat. Die größte Übereinstimmung besteht mit einem Stamm, der jetzt in Algerien, Guinea und Mali zirkuliert, sagt Robb Butler, WHO-Direktor für übertragbare Krankheiten in der Europäischen Region, gegenüber "Science".

Übertragungsweg von Polio Das Poliovirus wird hauptsächlich fäkal-oral per Schmierinfektion übertragen. Empfängliche Menschen bekommen Viren versehentlich an die Hände und reiben es dann unabsichtlich ins Gesicht. Vor allem schlecht gereinigte, geteilte Sanitäranlagen sind potenzielle Übertragungsorte.

Normalerweise ist es durch die Analyse von Sequenzvariationen möglich, herauszufinden, woher ein Poliovirus stammt und wie es sich verbreitet hat. Nicht so in diesem Fall. Die genetischen Daten liefern kein klares Bild, sagt Shahin Huseynov. Die Analyse zeige vielmehr, dass das Virus schon seit etwa einem Jahr unentdeckt zirkuliert. Huseynov hält Afrika als Ursprungs- und Zirkulationsort für am wahrscheinlichsten, aber auch Europa könne nicht ausgeschlossen werden, alles sei möglich.

Poliovirus aus Impfstoff erlangt Pathogenität zurück

Von Impfstoffen abgeleitete Polioviren vom Typ 2 entstehen, wenn das in der Schluckimpfung verwendete Virus über längere Zeit in Gebieten mit geringem Impfschutz zirkuliert. Problematisch daran ist, dass die Viren dann ihre Fähigkeit, sich auszubreiten und Lähmungen zu verursachen, wiedererlangen. Sie sind also wieder pathogen. Wenn es zu sporadischen Ausbrüchen in Ländern mit hoher Impfquote kommt, sterben sie aber meist wieder aus, so wie 2022 in den USA, Israel und im Vereinigten Königreich.

In allen Ländern, in denen das Poliovirus nun nachgewiesen wurde, sind die Impfraten hoch. Allerdings gebe es in jedem Land Gebiete mit unzureichend oder gar nicht geimpften Kindern, so dass das Risiko von Lähmungsfällen bestehen bleibt, sagt Sabrina Bacci, Leiterin der Abteilung für durch Impfung vermeidbare Krankheiten und Immunisierung beim Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) im Magazin "Science". Große Sorgen bereite eine mögliche Ausbreitung auf die Ukraine oder Bosnien und Herzegowina, weil dort die niedrigen Impfraten zu einem anhaltenden Ausbruch und möglicherweise zu Lähmungsfällen führen könnten.

Wahrscheinlich schon Polio-Ansteckungen innerhalb Deutschlands

Die vielen Nachweise des Virus in Deutschland deuten darauf hin, dass es hier nun schon lokal übertragen wird. Die hierzulande übliche Impfung mit inaktivierten Polioviren (IPV) sorgt zwar dafür, dass Geimpfte nicht erkranken. Aber sich anstecken und das Virus (unbemerkt) weitergeben können sie durchaus. Ungewöhnlich an den deutschen Nachweisfällen ist allerdings, dass die Isolate aus den sieben deutschen Städten jeweils enger mit denen aus Spanien und Polen verwandt sind als untereinander. Ein weiteres Rätsel für die Forscher. "Deshalb können wir die lokale Übertragung in Deutschland nicht bestätigen, aber auch nicht dementieren", sagt Shahin Huseynov.

Am plausibelsten ist derzeit wohl die Hypothese einer Mehrfach-Einschleppung des Virus nach Europa mit anschließenden lokalen Ansteckungswegen innerhalb Europas. Spanien, Polen und Deutschland haben die Überwachung des Abwassers noch einmal verschärft. Die drei Länder überprüfen auch die Impfunterlagen, um etwaige Immunitätslücken zu finden, und suchen nach Lähmungsfällen, die möglicherweise übersehen wurden. "Die Länder tun das Richtige", sagt Oliver Rosenbauer, ein Sprecher der Globalen Polio-Ausrottungsinitiative (Global Polio Eradication Initiative, GPEI) im Magazin "Science". "Es ist großartig, dass sie ein Risiko für die öffentliche Gesundheit erkannt haben, bevor es die Chance hatte, eine tatsächliche Krankheit zu verursachen."

Wahrscheinlichstes Szenario ist weiterhin, dass das Virus in Europa wieder aussterben wird. Aber das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) hat die europäischen Länder, die noch kein Abwasser-Monitoring betreiben, dringend aufgefordert, die Überwachung zu intensivieren. Einige Experten bringen außerdem eine neue Form der Schluckimpfung, die sogenannte nOPV2 ins Spiel. Diese würde, großflächig eingesetzt, die Übertragung nachweislich stoppen. Allerdings wäre sie auch ein gewisser Rückschritt für all die Länder, die seit Jahrzehnten auf die Schluckimpfung verzichten, weil Polio in ihnen als ausgerottet galt.

Podcast Kekulés Gesundheits-Kompass 71 min
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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. Dezember 2024 | 17:17 Uhr

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