Abwassermonitoring Epidemiologischer Krimi: Woher kommen die mutierten Impfpolioviren im Abwasser?
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08. Dezember 2024, 08:00 Uhr
Im Abstand weniger Wochen im November tauchen im Abwasser sieben deutscher Großstädte mutierte Impfpolioviren auf. Forscher suchen nun nach weiteren Spuren. Der Fall zeigt auch den Wert von Abwassermonitoring.
Es ist ein rätselhafter Fall: Zuerst wird das Virus im Abwasser entdeckt, das in eine Kläranlage in München strömt. Es ist Ende Oktober, die Münchner Kläranlage Teil einer wissenschaftlichen Studie. Seit August 2023 testen Wissenschaftler unter der Leitung des Umweltbundesamtes und des Robert Koch-Instituts, ob sich auch Polioviren im Abwasser nachweisen lassen. Nun werden sie fündig: Es handelt sich um einen Nachfahren eines abgeschwächten Poliovirus, wie es in Impfstoffen verwendet wird. Fachname zirkulierendes Vakzine Abgeleitetes Poliovirus Typ 2, kurz: cVDPV2.
Nachweise von Impfpolioviren aus ganz Deutschland
Das Problem: München bleibt kein Einzelfall. Bis Ende November taucht das Virus plötzlich an allen sieben Standorten auf, die an dem Projekt teilnehmen. Sie sind über ganz Deutschland verteilt: Neben München nehmen Hamburg, Köln, Bonn, Düsseldorf, Mainz und Dresden teil. Den Forschern wird klar: Es gibt ein Problem.
Die Impflücken bei Polio werden größer
Durch die Coronapandemie ist der Nachweis von Viren im Abwasser ein großes Thema. Auch die Kinderlähmung ist schnell ein wichtiges Ziel: Zwar ist das Poliovirus in Deutschland durch erfolgreiche Impfkampagnen in der Vergangenheit weitgehend ausgelöscht. Anderswo zirkuliert der gefährliche Erreger aber noch. Und auch in Deutschland wird der Impfschutz wieder schwächer: Viele Menschen nehmen das Virus nicht mehr ernst, weil sie dramatische Fälle der Erkrankung nicht mehr kennenlernen.
Kinderlähmung: Viele bemerken die Krankheit nicht, aber manchmal verläuft sie tödlich
Eine Infektion bemerken viele Menschen auch kaum, weil die Symptome meist mild sind. Bei einigen wenigen greift das Virus aber das Nervensystem an. Das kann zu Lähmungen führen, die mitunter tödlich sind, etwa wenn die Atmung oder der Schluckreflex betroffen sind. Da früher viele Kinder an dieser Krankheit starben, ist der geläufige Name: Kinderlähmung. Mediziner nennen sie stattdessen "Poliomyelitis". Die Seuchenschützer wollen den Erreger deshalb im Auge behalten und frühzeitig informiert sein, wenn er nach Deutschland zurückkommt.
Nachweis von Polioviren im Abwasser ist aufwendig
Im Abwasser ist Polio nicht ohne Weiteres nachweisbar. Anders als bei Corona gibt es aktuell – zum Glück – nicht mehrere hunderttausend Infizierte pro Woche, die das Virus ausscheiden und über das Toilettenwasser in Richtung Kläranlage spülen. Die Abwasserproben müssen also zunächst aufbereitet werden. Im Labor werden dazu Zellkulturen gezüchtet, die für Polioviren empfänglich sind. Sie werden mit der Probe aus dem Abwasser gemischt. Ist darin Virus enthalten, vermehren es die Zellen. Daraufhin kann man das Erbgut nachweisen und untersuchen. An den sieben Standorten des der Studie werden diese Versuche regelmäßig durchgeführt. Deswegen sind die Wissenschaftler so überrascht, dass nun das cVDPV2 innerhalb kürzester Zeit an allen sieben Standorten auftaucht.
Wo zirkuliert das Impfpoliovirus?
Der Münchner Nachweis von Impfpolioviren ist nicht der Erste. Seit Beginn des Projektes sind bereits einige Male vereinzelt verschiedene Typen dieser Viren entdeckt worden, doch immer mit zeitlichem Abstand und nie an mehreren Orten gleichzeitig. Für geimpfte Menschen sind diese abgeschwächten Erreger ungefährlich. Menschen ohne Impfschutz können daran allerdings erkranken und den Erreger so vermehren. Zugleich ermöglichen sie dem Virus, durch Mutation wieder gefährlicher zu werden. Polio könnte auf diese Weise wieder von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Die aktuellen Funde sprechen dafür, dass genau das gerade passiert. Die Frage ist nur: wo? Werden die Viren von Reisenden nach Deutschland gebracht? Oder sind die Ansteckungen bereits innerhalb des Landes im Gang?
Ansteckung mit Polio: Fäkal-oral
Polio wird durch Schmier- und Tröpfcheninfektion weitergegeben. Anders als bei Corona reicht es nicht aus, im gleichen Raum wie eine infizierte Person zu sein. Man muss schon in nahem Kontakt sein. Am besten funktioniert die Übertragung fäkal-oral, wie das die Experten nennen: Toiletten werden geteilt, infektiöses Material gerät an die Hände, die es durch Berührungen ins eigene Gesicht bringen. Wer sich nach dem Toilettengang die Hände nicht gründlich wäscht, kann Opfer dieses Übertragungsweges werden. Wo diese Übertragungsorte sind, darüber können Experten laut einer RKI-Sprecherin derzeit nur spekulieren.
Entdeckte Impfpolioviren: Zu wenig Daten für genetisches Puzzle
Das genetische Material der nachgewiesenen Viren reicht nicht aus, um die Übertragungskette oder die Herkunft genau nachzuvollziehen. Klar ist nur: Die Viren stammen nicht direkt aus einer Impfung, sondern sie haben einige Zeit in verschiedenen Wirten verbracht. Der ursprüngliche Impfstoff wurde wahrscheinlich in Afrika und Asien eingesetzt. Und: Vor seinem Auftauchen in Deutschland ist das Virus schon an anderen Stellen in Europa aufgetaucht, im spanischen Barcelona und in Polens Hauptstadt Warschau. Ganz aktuell ist ein weiterer Nachweis aus Finnland. Möglich also, dass Reisende nach Europa das Virus mitbringen, möglich auch, dass es bereits hier ist und innerhalb des Kontinents zirkuliert.
Impflücken schließen: Nur die Impfung kann Polio auslöschen
Das Robert Koch-Institut hofft nun auf die Wachsamkeit von Hausärzten und Kliniken, darauf, dass Ärzte auffällige Symptome melden. Für die Aufklärung des Poliorätsels benötigen Wissenschaftler rasch weitere Daten. Für die Allgemeinheit dagegen ist noch wichtiger, dass Ärzte ungeimpfte Eltern und Kinder vom Wert der Impfung überzeugen können. Nur durch ein Schließen der Impflücke kann das Virus sicher aus Deutschland ferngehalten werden, so die Überzeugung der Experten. "Es ist wichtig, dass alle Menschen in Deutschland ihren Polio-Impfschutz prüfen. Man sollte in seinem Leben mindestens vier Mal sicher gegen Polio geimpft worden sein, egal ob mit OPV- oder IPV-Impfstoff", sagt etwa Roman Wölfel, Oberstarzt am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr.
Polioimpfung OPV-Impfstoffe werden in der Regel als Schluckimpfung verabreicht und enthalten abgeschwächte Viren. IPV-Impfungen enthalten nur inaktivierte Virusbestandteile.
Polionachweise bekräftigen den Wert der Abwasserüberwachung
Der Fall illustriert auch, wie wichtig die Überwachung von Abwasser auf Infektionskrankheiten ist. Ohne die routinemäßige Überprüfung wären die Viren nicht entdeckt worden. Für Haushaltspolitiker, die darüber nachdenken, ob man nach dem Abklingen der Coronapandemie einige der teuren Maßnahmen wieder herunterfahren kann, könnte das ein eindeutiger Hinweis sein: Wer bei der Überwachung spart, könnte später furchtbare Überraschungen erleben.
Links/Studien
- Robert Koch-Institut: Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren in Abwasserproben an weiteren Orten in Deutschland nachgewiesen, Epidemiologisches Bulletin 49/2024
- Robert Koch-Institut: Hinweis auf Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren in Abwasserproben an mehreren Orten in Deutschland, Epidemiologisches Bulletin 48/2024
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. Dezember 2024 | 17:17 Uhr
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