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Aids HIV-Heilung: Zweiter Berliner Patient weckt große Hoffnungen

22. Juli 2024, 14:31 Uhr

An der Berliner Charité konnte erneut ein Mann von HIV geheilt werden. Das geht bisher nur in sehr seltenen Fällen, denn die Betroffenen müssen gleichzeitig an einer bestimmten Form von Blutkrebs erkrankt sein. Doch der Heilungsverlauf des zweiten Berliner Patienten weckt jetzt die Hoffnung, dass künftig auch eine Heilung für alle HIV-Erkrankten möglich sein könnte. Auf der Welt-Aids-Konferenz in München (22.-26.7.2024) präsentieren die Forscher jetzt ihre Ergebnisse.

Sie haben es noch einmal getan: Einem Team der Berliner Charité ist es erneut gelungen, einen Menschen von einer HIV-Infektion zu heilen. Der erste Berliner Patient hatte 2008 Medizingeschichte geschrieben. Es war die erste HIV-Heilung überhaupt und seitdem ist das auch nur wenige weitere Male gelungen.

Die Berliner präsentieren nun die Daten des zweiten Berliner Patienten. Bei ihm sei der Charité zufolge trotz ausbleibender antiviraler Therapie seit mehr als fünf Jahren kein HI-Virus mehr nachweisbar. Doch besonders spannend an diesem zweiten Patienten ist die Behandlung. Denn die wich leicht von den bisherigen Fällen ab und eröffnete somit einige neue Perspektiven. Sie mache eine neue Erklärung des Heilungsmechanismus nötig, heißt es aus Berlin.

Stammzellentherapie nur für Krebskranke

Es ist heutzutage gut möglich, mit einer HIV-Infektion zu leben, es gab deutliche Fortschritte bei der Therapie. Wenn sie gut eingestellt sind, können die Betroffenen meist ein recht normales Leben führen. Und dennoch ist die Krankheit eben normalerweise nicht heilbar. Denn für eine der seltenen Heilungen kommt nur in Betracht, wer gleichzeitig an bestimmten Formen von Blut- oder Lymphknotenkrebs erkrankt ist und bei denen sich diese Krebserkrankung nicht allein mit einer Strahlen- oder Chemotherapie eindämmen lässt. Dann kann nämlich eine Stammzelltransplantation gemacht werden. Die ist allerdings sehr gefährlich für den Patienten: Das Immunsystem kann die fremden Zellen abstoßen, was zu ernsthaften, manchmal auch lebensbedrohlichen Komplikationen führen kann. Das therapiebedingte Sterblichkeitsrisiko liegt bei rund zehn Prozent.

Bei dem komplexen Eingriff würden also Stammzellen einer gesunden Person auf den erkrankten Menschen übertragen und damit praktisch das Immunsystem ausgetauscht, heißt es von der Charité. So lasse sich neben dem Krebs auch das HI-Virus mit bekämpfen. Bisher hat man dafür Stammzellenspender genutzt, die eine spezifische genetischen Mutation haben. Etwa ein Prozent der europäischen Bevölkerung hat nämlich eine sogenannte Delta-32-Mutation an einem bestimmten Rezeptor, die sie immun gegen HIV macht. Der CCR5-Rezeptor ist quasi die Andockstelle, an die das HI-Virus bindet, um die Immunzellen im Körper zu befallen. Nimmt man also Stammzellen mit dieser Mutation, kann es zur Heilung kommen – so wie beim ersten Berliner Patienten.

Auch eine halbe Mutation führt zum Erfolg

Doch da gibt es ein Problem: Es haben nicht nur wahnsinnig wenige Menschen diese spezielle Mutation, sondern auch die Gewebeeigenschaften eines Spenders müssen zum Empfänger passen. Die klassische Suche nach der Nadel im Heuhaufen also. Im Fall des zweiten Berliner Patienten ist die nicht gelungen. Die Charité-Fachleute haben sich deshalb für einen anderen Weg entschieden.

Bei dem heute 60-jährigen Mann war schon 2009 ein positiver HIV-Test gemacht worden, 2015 bekam er die Diagnose Akute myeloische Leukämie. Das Risikoprofil des Patienten machte zusätzlich zur Chemotherapie auch eine Stammzelltransplantation notwendig, heißt es von der Charité. "Weil es für die Stammzellspende leider keine geeignete HIV-immune Person gab, haben wir eine Spenderin ausfindig gemacht, die auf ihren Zellen neben der normalen Version des CCR5-Rezeptors zusätzlich auch die mutierte Version der Andockstelle trägt", erklärt Olaf Penack, Oberarzt an der behandelnden Klinik. "Das ist der Fall, wenn ein Mensch die Delta-32-Mutation nur von einem Elternteil vererbt bekommt. Das Vorhandensein beider Rezeptor-Versionen verleiht allerdings keine Immunität gegen das HI-Virus." Aber das betrifft deutlich mehr Menschen: rund 16 Prozent der europäischstämmigen Bevölkerung hat eine Mutation wie die Stammzellenspenderin.

Die jetzt mehr als fünfjährige virusfreie Beobachtungszeit deutet darauf hin, dass das HI-Virus aus dem Körper des Patienten tatsächlich komplett entfernt werden konnte. Wir sehen ihn deshalb als von seiner HIV-Infektion geheilt an.

Olaf Penack, Charité Berlin

Die Erwartung war also eigentlich, dass der Mann nicht vollständig von HIV geheilt werden könnte. Doch es kam anders: Im Jahr 2018 setzte der Mann die antivirale Therapie eigenständig ab. Und bis heute gibt es keine Hinweise auf Virus-Reste in seinem Körper, so die Fachleute. Das Immunsystem funktioniere und Krebszellen seien keine nachweisbar. "Der Patient ist in erfreulich guter gesundheitlicher Verfassung", sagt Olaf Penack.

Dem Wirkmechanismus auf der Spur

Aber wie kann das sein? Es muss noch mindestens einen anderen Wirkmechanismus geben, sind sich die Medizinerinnen und Mediziner sicher. "Bisherige Stammzelltransplantationen ohne immunen Spender führten dazu, dass sich das HI-Virus nach wenigen Monaten wieder vermehrte", sagt Christian Gaebler, HIV-Experte und Arbeitsgruppenleiter an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité und dem Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). "Dass die Heilung gelang, obwohl die Stammzellspenderin nicht immun gegen das HI-Virus war, ist äußerst überraschend", bilanziert er.

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Gaeblers Schlussfolgerung ist, dass die Heilung wohl nicht auf die genetische CCR5-Ausstattung der Stammzellspenderin zurückzuführen sei, sondern darauf, dass die transplantierten Immunzellen der Spenderin alle HIV-infizierten Zellen des Patienten beseitigt hätten. "Mit dem Austausch des Immunsystems haben wir offenbar alle Virus-Verstecke zunichtegemacht, sodass das HI-Virus die gespendeten neuen Immunzellen nicht mehr infizieren konnte." Allerdings gehörte der zweite Berliner Patient auch zu den Menschen, die sowohl die normale als auch die mutierte Version des CCR5-Rezeptors in ihren Zellen tragen. Noch sei unklar, ob dieses Detail zur HIV-Heilung beigetragen haben könnte.

Die Forschenden ziehen mehrere potenzielle Faktoren in Betracht. "Möglicherweise hat die Geschwindigkeit einen Einfluss, mit der das neue Immunsystem das alte ersetzt", sagt Christian Gaebler. Denn dieser Prozess sei beim zweiten Berliner Patienten mit unter 30 Tagen sehr schnell abgeschlossen gewesen. "Vielleicht verfügt aber auch das Immunsystem der Spenderin über besondere Eigenschaften, wie beispielsweise besonders aktive natürliche Killerzellen, die dafür sorgen, dass schon eine geringe HIV-Aktivität erkannt und beseitigt wird", mutmaßt HIV-Experte Gaebler.

Hoffnung auf neue Behandlungsansätze

Was es auch war – von der Aufklärung dieses Wirkmechanismus erhoffen sich die Forschenden neue Schlüsse für die zukünftige Behandlung von Menschen mit HIV. Denn das Ziel ist klar, sagt Gaebler. Er will HIV-Infektionen in Zukunft nicht nur im Einzelfall, sondern in der Breite heilen können. "Sobald wir besser verstehen, welche Faktoren beim zweiten Berliner Patienten zur Entfernung aller HIV-Verstecke beigetragen haben, lassen sich die Erkenntnisse hoffentlich für die Entwicklung neuartiger Behandlungskonzepte wie zum Beispiel zellbasierter Immuntherapien oder therapeutischer Impfstoffe nutzen", so der Forscher.

Doch zunächst werden die Charité-Fachleute die Daten zu ihrem zweiten Berliner Patienten einem Fachpublikum präsentieren. Auf der Welt-Aids-Konferenz in München kommende Woche halten sie einen ausführlichen Vortrag zu dieser Heilung.

Studie

Die aktuell vorliegenden Daten zum zweiten Berliner Patienten werden am 24. Juli auf der Welt-Aids-Konferenz in München unter dem Titel "The next Berlin patient: sustained HIV remission surpassing five years without antiretroviral therapy after heterozygous CCR5 WT/Δ32 allogeneic hematopoietic stem cell transplantation" vorgestellt. Die Daten sind noch nicht von unabhängigen Fachleuten begutachtet worden, eine Publikation in einem Fachjournal ist der Charité zufolge geplant.

(kie)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. Juli 2024 | 16:11 Uhr

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