Christina Morina
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34 Jahre Mauerfall Forscherin: "Ostdeutsche haben sich schon vor 1989 mit Demokratie beschäftigt"

09. November 2023, 04:59 Uhr

Heute vor 34 Jahren wurde die Mauer geöffnet. Ein Nachdenken über Demokratie gibt es im Osten Deutschlands nicht erst seit 1989. Das beschreibt die Historikerin Christina Morina in ihrem neuen Buch "Tausend Aufbrüche". Was das mit dem Demokratieverständnis heute zu tun hat, warum die AfD ein deutsch-deutsches Unterfangen und ein Sammelbecken der Enttäuschungen ist, und warum wir endlich wieder anfangen müssen, mehr über die Mitte der Gesellschaft zu sprechen, erklärt sie im Interview.

Christina Morina
Christina Morina, Professorin für Allgemeine Geschichte, sieht die hohe Zustimmung zur AfD als gesamtdeutsches Problem. Bildrechte: Rebke Klokke

Frage: Sie sehen die Debatte über Ostdeutschland kritisch. Was nervt Sie?

Christina Morina: Ich bin nicht die Einzige, die Ermüdung oder Frustration darüber empfindet, dass die Diskussionen seit Jahren mit Skandalisierungen und Zuspitzungen geführt werden. Man dreht sich im Kreis mit gegenseitigen Vorhaltungen. Ständig bilanzieren wir, wie gut oder schlecht es in Ostdeutschland vorangegangen ist – das führt uns nicht weiter. Irgendwie sind wir stecken geblieben. Historische Forschung kann hier einen Beitrag leisten, Diskussionen anders zu führen. Das war auch die Motivation für mein Buch: Ich wollte die jüngste deutsche Zeitgeschichte als integrierte Ost-West-Geschichte erforschen.

Wie kann die Debatte anders geführt werden?

Indem wir anders als üblich auf die Geschichte und Gegenwart blicken. Für das Buch habe ich mir die Frage gestellt, was es eigentlich bedeutet, dass sich die DDR als Deutsche Demokratische Republik bezeichnet hat und wie man diesen Staat, diese vermeintliche Republik, in die deutsche Nachkriegsgeschichte integrieren kann.

Müssen wir die DDR-Vergangenheit anders bewerten?

Wir sind es gewohnt, die bundesrepublikanische Geschichte als Demokratiegeschichte zu erzählen und die Geschichte Ostdeutschlands als Diktaturgeschichte bis 1989. Das war die DDR selbstverständlich auch. Aber sie war eben dem Selbstanspruch nach auch eine volksdemokratische Republik. Man hat eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung dort zuwege bringen wollen und die sozialistische Demokratie postuliert. Hinzu kommt, dass sich – in unserer üblichen Lesart – die "Ostdeutschen" erst ab 1989/90 mit Demokratie befassten. Und dann seien sie im Grunde ungelernt zur Demokratiegeschichte Deutschlands, also der bundesrepublikanischen Demokratiegeschichte, hinzugekommen.

Wir sind gewohnt, die bundesrepublikanische Geschichte als Demokratiegeschichte zu erzählen und die Geschichte Ostdeutschlands als Diktaturgeschichte bis 1989. Diese schematische Sicht möchte ich aufbrechen.

Christina Morina Professorin für Allgemeine Geschichte, Uni Bielefeld.

Stimmt, die Ostdeutschen werden immer erst ab 1989 mit Demokratie in Verbindung gebracht …

Diese schematische Sicht möchte ich aufbrechen. Wie hat man sich vor 1989/90 in der DDR mit Demokratie beschäftigt? Welche Vorstellungen von Demokratie gab es und wie äußerten sich diese im Alltag? Das sind alles Fragen, die bislang nicht systematisch gestellt wurden. Dazu analysierte ich viele Briefe, persönliche Dokumente, Flugblätter und Petitionen aus der Breite der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands. Das Ergebnis: Man findet in West und Ost einen sehr vielfältigen Demokratiediskurs. 

Christina Morina: Zur Person Christina Morina ist 1976 in Frankfurt/Oder geboren und Professorin für Allgemeine Geschichte an der Uni Bielefeld. Ihre Schwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie im Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis. Christina Morina wurde 2007 mit einer Arbeit über den Krieg gegen die Sowjetunion in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert. Sie habilitierte sich 2017 mit einer Arbeit über die Ursprünge des Marxismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Die allgemeine Bevölkerung war im Osten also demokratischer als angenommen?

So würde ich es nicht formulieren. Die DDR war als kommunistische Diktatur gedacht und das politische System diktatorisch angelegt. Dennoch hat sich die DDR als demokratisch bezeichnet, sie wollte das bessere Deutschland sein, mit der wirklichen wahren Demokratie. Das verfolge ich bis in die Mitte der 40er-Jahre zurück. In der Propaganda und in der Bildung hat der sozialistische Demokratiebegriff oder auch der Republik-Begriff eine zentrale Rolle gespielt. Was hat diese Präsenz gesellschaftlich bedeutet? Das sollten wir unbedingt fragen, und das nicht nur auf die Propagandaebene bezogen.

Und was hat sie bedeutet?

Neben dem scheindemokratischen Diskurs der Partei gab es auch in der DDR-Gesellschaft echte demokratische Impulse. Menschen waren viel politischer, als wir heute oft annehmen. Gerade den krassen Gegensatz zwischen Anspruch und Realität nahmen viele wahr, und sie rieben sich daran. Die Menschen diskutierten über Demokratie, gerade, weil der Staat sie mit scheindemokratischen Parolen überzog. Es gab also schon vor 1989/90 sozusagen ein auf Eis gelegtes demokratisches Bedürfnis in der DDR.

Neben dem scheindemokratischen Diskurs der Partei, gab es auch in der DDR-Gesellschaft echte demokratische Impulse. Menschen waren viel politischer, als wir heute oft vermeinen

Christina Morina

Sie können jetzt unmöglich von allen DDR-Bürgern reden?

Nein, natürlich nicht. Was sich aber sagen lässt, ist, dass die Ostdeutschen ein vielschichtiges, mindestens zwiespältiges Gepäck in die Revolution eingebrachten. Einerseits gab es da diejenigen, die sich für die Partei und den "demokratischen Sozialismus" mobilisieren ließen und dieses Regime mitgetragen haben. Auf der anderen Seite gab es aber auch einen breiten Teil der Bevölkerung – das sieht man in den Briefen – die sich im alltäglichen Leben an dieser riesigen Kluft zwischen dem, was wirklich ist und dem, was postuliert wird, abgearbeitet und nach Demokratisierungspotenzialen gesucht und gefragt haben.

DDR-Bürger waren also politisch, ohne Anhänger des Staates zu sein?

Ja. Im Umbruch und nach dem Mauerfall, eigentlich auch schon vorher, entwickelten sie Demokratie-Ideen gegen die Einparteienherrschaft, die sehr basisdemokratisch, direktdemokratisch und weniger in parlamentarischen und repräsentativen Verfahren angelegt waren. Dieser vielstimmige Demokratiediskurs – oder wie ich es formuliere: Dieser Demokratieanspruch-Diskurs führt nach 1989/90 folgenreich in die politische Kulturgeschichte der gesamten Bundesrepublik hinein.

Wie wirkt sich das auf das heutige Demokratieverständnis in Ostdeutschland aus?

Ja, das ist die Riesenfrage, die ja nicht nur mich umtreibt. Die Auswirkungen kann man produktiv und konstruktiv sehen. Da sind Angela Merkel und Joachim Gauck sozusagen als Spitzen einer demokratischen Selbstbefreiungsbewegung, die als Ostdeutsche in der Berliner Republik eine enorme Präsenz erreicht haben. Auf der anderen Seite sind in Ostdeutschland in einer beachtlichen Minderheit gewisse volksdemokratische und basisdemokratische Demokratievorstellungen weiter vorhanden, die ihre Wurzeln in der DDR und im Umbruch von 1989/90 haben und es in meiner Sicht erlauben, einen Bogen zum dort so starken Rechtspopulismus zu spannen. Darin liegt ein Grund, warum die AfD in Ostdeutschland so viel mehr Unterstützung hat.

Die AfD hat einen hohen Zuspruch im Osten –  auch im Westen steigt die Zustimmung, wie die Wahl in Hessen gezeigt hat. Zeigt sich der Einfluss des Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten noch immer?

Man kann diese hohe Zustimmung nicht mit einer Ursache erklären – auch nicht mit fünf. Es gibt viele kurzfristige, mittelfristige und langfristige Faktoren, die eine Rolle spielen. Ich sage seit Jahren – wie die allermeisten, die sich damit professionell beschäftigen –, dass diese hohe Zustimmung ein gesamtdeutsches Problem ist, die AfD ist ein deutsch-deutsches Unterfangen. Da laufen Dinge zusammen, die gewissermaßen zusammengehören: eine westdeutsche Tradition von Nationalkonservatismus, eine nur begrenzte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, auch im Westen, und eben das spezifisch Ostdeutsche mit einer historisch gewachsenen Parteien- und Staatsskepsis und einer Vorliebe für Basisdemokratie, wie gerade beschrieben.

Die hohe Zustimmung zur AfD ist ein gesamtdeutsches Problem. Die AfD ist ein deutsch-deutsches Unterfangen.

Christina Morina

Es gibt also viele Faktoren, auch weniger präsente?

Da geht einiges zusammen. Und jetzt in der jüngsten Zeit kommt insbesondere auch der Eindruck hinzu, dass eine Regierung im Amt mit den Problemen der Zeit nicht angemessen umgeht, nicht hinreichend kommuniziert und nicht lösungsorientiert genug erscheint. Das wird vielfach so wahrgenommen und führt bei aktuellen Wahlen noch einmal zu einem Extraboost für populistische Positionen. Die AfD nimmt im Grunde in der Bundesrepublik jetzt die Rolle ein, die alles in sich versammelt, was es nicht nur an Nationalismus, Ressentiment und Rassismus gibt, sondern auch an diverser Frustration und Enttäuschung. Sie sammelt sehr viel auf, sie gewinnt Wähler aus allen anderen Parteien, nicht nur von rechts. Sie hat da eine sehr spezifische Funktion, über die wir uns sehr viele Gedanken und Sorgen machen sollten.

Die AfD nimmt im Grunde in der Bundesrepublik jetzt die Rolle ein, die alles in sich versammelt, was es nicht nur an Nationalismus, Ressentiment und Rassismus gibt, sondern auch an diverser Frustration und Enttäuschung gibt.

Die AfD ist also für die ganze Bundesrepublik ein Problem?

Die AfD ist ein gesamtdeutsches Problem, wie die Wahlergebnisse in Hessen und Bayern gezeigt und unterstrichen haben. Sie ist kein allein ostdeutsches Phänomen, das sagen wir seit Jahren. Im Gegenteil: es ist viel zu kurzsichtig, die AfD nur darauf zu minimieren. Es gibt in Deutschland einen ziemlich großen Bodensatz an Potenzial für eine eher völkische Idee von Demokratie und eine eher homogene Gesellschaftsvorstellung. Alle diese liberalen und multikulturalistischen Ideen, die die 1990er- und 2000er-Jahre stark geprägt haben, erleben nun eine Art Gegenströmung. Die AfD versteht es, diese zu sammeln, zu verstärken und sich selbst daraus stark zu machen.

In der FAZ argumentierten Sie, wir reden in der Ostdebatte zu viel über die Ränder der Gesellschaft. Wir sollten mehr Aufmerksamkeit auf normale Bürger lenken. Wer ist für Sie der normale Bürger?

Der ganz normale Bürger ist natürlich eine schwierige Bezeichnung. In meinem Buch sage ich dazu ein bisschen mehr. Ich meine damit Menschen, die in dem Zeitraum, über den ich jeweils spreche, kein hervorgehobenes Amt hatten oder eine irgendwie als historisch zu achtende Verantwortung. Also Bürgerinnen wie Sie und ich, die sich in ihrem Alltag politisch äußern, ohne dass sie das dezidiert vorhaben. Wir alle benutzen tagtäglich politische Begriffe, ohne formale Rahmung, und diese unvermittelte Sprache über Politik und Demokratie und Bürgersein interessiert mich.

Rechtes Gedankengut, Rassismus, Chauvinismus, Ausgrenzungsideen oder auch Gemeinschaftsvorstellungen, die stark homogen gedacht sind -  all' das sind nicht Probleme der gesellschaftlichen Ränder. Sondern diese Ränder nähren sich aus Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft. Diese schematische Sicht möchte ich aufbrechen.

Christina Morina

Uns, die normalen Bürger, sollten wir also mehr in den Blick nehmen?

In den Diskussionen über die Polarisierung der Gesellschaft folgen wir viel zu oft Skandal-Logiken, auch und vor allem über die Medien vermittelt. Das sehen wir besonders gut bei Wahlen und das ist gerade im AfD-Kontext besonders folgenreich: Dort, wo sich bei ostdeutschen Kommunalwahlen der Bürgermeister von der AfD durchsetzt, wird viel stärker hingeschaut, als dort, wo er es nicht schafft, das steht nur auf Seite vier der Zeitung.

Es betrifft auch, wie eben schon erwähnt, die AfD als Sammelbecken der Enttäuschungen und Frustrationen. Rechtes Gedankengut, Rassismus, Chauvinismus, Ausgrenzungsideen oder auch Gemeinschaftsvorstellungen, die stark homogen gedacht sind -  all' das sind nicht Probleme der gesellschaftlichen Ränder. Sondern diese Ränder nähren sich aus Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft.

Was können wir tun?

Ich plädiere dafür, den Blick umzudrehen und von der Breite, der Mitte der Gesellschaft auszugehen. Dann sieht man die Probleme eben nicht nur als Randprobleme. Dann sehen wir auch eine Zivilgesellschaft in Ostdeutschland, die viel stärker ist, als sie medial wiedergegeben wird. Die jedoch noch stärker werden muss, um den Herausforderungen im Osten, die ja doch sehr besonders sind, etwas entgegensetzen zu können. Auch und gerade in diesem Sinne, sollten wir mehr über die Mitte der Gesellschaft sprechen.

Links/Studien

Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, Siedler Verlag 2023.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Oktober 2023 | 20:00 Uhr

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