Demokratieforschung Studie: Viele Ostdeutsche fremdeln mit Demokratie und wünschen sich autoritären Staat
Hauptinhalt
28. Juni 2023, 20:05 Uhr
Antisemitische Ressentiments sind weit verbreitet, ausländerfeindliche Aussagen werden von vielen akzeptiert, der Wunsch nach einer autoritären Herrschaft ist ausgeprägt: Eine neue Studie zum Zustand der Demokratie in Ostdeutschland stellt vor allem Mitteldeutschland ein erschreckendes Zeugnis aus.
- Einer Studie zufolge haben viele Menschen in Ostdeutschland einen "Hang zur Verschwörungsmentalität".
- Zwei Drittel der Befragten sehnt sich nach autoritären Strukturen, wie in der DDR.
- Mehr als ein Viertel der Ostdeutschen zeigt sich der Studie zufolge ausländerfeindlich.
Eine aktuelle Studie der Universität Leipzig belegt ein Demokratieproblem in den ostdeutschen Bundesländern. Die Untersuchung mit dem Titel "Policy Paper" wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Studienleiter Oliver Decker erklärte: "Unsere Untersuchung zeigt, dass sich derzeit viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr demokratische Teilhabe und Sicherung der demokratischen Grundrechte wünschen, sondern die scheinbare Sicherheit einer autoritären Staatlichkeit."
Die repräsentative Befragung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Uni Leipzig (EFBI) unter gut 3.500 Menschen ergab einen Hang zur Verschwörungsmentalität, den "Wunsch nach autoritärer Unterwerfung" und eine sogenannte hohe politische Deprivation. Zwei Drittel halten es demnach für sinnlos, sich politisch zu engagieren, und kaum jemand glaubt, einen Einfluss auf die Regierung zu haben.
Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie im Alltag funktioniert, ist der Befragung zufolge schwach ausgeprägt. "Wir beobachten also ein ausgeprägtes Fremdeln mit der Demokratie, sie wird von Vielen nicht als etwas Eigenes verstanden", ergänzt der an der Studie beteiligte stellvertretende Direktor des EFBI, Johannes Kiess. Diese Werte seien sei etwa 20 Jahren konstant.
Else-Frenkel-Brunswick-Institut an der Universität Leipzig (EFBI)
Das Else-Frenkel-Brunswik-Institut wurde im Herbst 2020 gegründet und erforscht die Demokratie in Sachsen. Es soll vor allem die demokratisch engagierte Zivilgesellschaft im Freistaat unterstützen. Im Mittelpunkt der Forschung stehen nach Angaben des Instituts verschiedene Formen der Diskriminierung sowie die Strategien und Dynamiken antidemokratisch und autoritär motivierter Bündnisse.
Das EFBI bildet eine eigenständige Forschungseinheit an der Universität Leipzig und ist dort in das Leipzig Research Center Global Dynamics (ReCentGlobe) eingebunden. Finanzielle Förderung bekommt das EFBI vom Freistaat Sachsen. Geleitet wird das Institut vom renommierten Sozialforscher Oliver Decker. Er leitet bereits seit 2002 die Leipziger Autoritarismus Studien, auch bekannt als "Mitte"-Studien.
Die Namensgeberin des Instituts Else Frenkel-Brunswick (1908-1958) war eine österreichisch-us-amerikanische Psychologin und Psychoanalytikerin. Die Tochter eines jüdischen Warenhausbesitzers musste 1914 wegen eines Pogroms mit ihrer Familie nach Wien flüchten. Im Laufe ihrer akademischen Karriere in den USA wurden Antisemititsmus, Autoritarismus, Vorurteile und Ambiguitätstoleranz ihre Forschungsschwerpunkte.
Sehnsucht nach der Einparteiendiktatur
Zwei Drittel der Ostdeutschen zeigten eine ausgeprägte Sehnsucht nach der DDR. Etwa die Hälfte rechne sich zu den Gewinnern der deutschen Einheit, ein Drittel hingegen zähle sich zu den Verlierern. Insgesamt sei die Identifikation als Ostdeutsche hoch. Der Rückblick auf die DDR hängt den Studienautoren zufolge nicht zuletzt mit dem Wunsch nach einer Einparteiendiktatur zusammen. Eine hohe Zustimmung gab es den Angaben zufolge zur Forderung nach "einer einzigen starken Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert". Statt pluralistischer Interessensvielfalt werde eine "völkische Gemeinschaft" gewünscht. Entsprechend hätten extrem-rechte Parteien mit ihren ideologischen Angeboten im Osten besonders viele Anknüpfungspunkte in der Breite der Bevölkerung.
Rechtsextreme Ideologie in Mitteldeutschland besonders präsent
Gleichzeitig belegt die Studie eine hohe Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen in den ostdeutschen Bundesländern. Mehr als ein Viertel der Ostdeutschen zeigt sich ausländerfeindlich. Positionen mit eindeutig rechtsextremen Inhalten werden in einzelnen Bundesländern nur von 20 bis 30 Prozent abgelehnt, sieben Prozent vertreten sogar ein rechtsextremes Weltbild. Besonders ausgeprägt ist die Zustimmung zu rechtsextremen Gedanken demnach in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
In Mitteldeutschland ist das Potential für extrem-rechte und neonazistische Parteien, Wähler zu finden, besonders hoch.
In diesen Bundesländern fänden rechte Positionen wie klassische Judenfeindlichkeit und die Befürwortung einer Diktatur Zustimmung bei rund einem Drittel der Bevölkerung, erklärten die Studienleiter Elmar Brähler und Oliver Decker. Konsequenterweise fänden sich unter den Anhängern der AfD die meisten Menschen mit rechtsextremen Einstellungen.
Zur Studie "Policy Papers"
Die Studie trägt den vollständigen Titel "Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Die rechtsextreme Einstellung in den ostdeutschen Bundesländern".
Aus dem Abstract der Studie:
"In diesem Policy Paper berichten wir die Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Erhebung in den ostdeutschen Bundesländern. Die Stichprobe umfasst N = 3.546 Befragte und gestattet Vergleiche zwischen einzelnen Bundesländern und Bevölkerungsgruppen, die bei kleineren Stichproben nicht möglich sind. Wir betrachten die rechtsextreme Einstellung, die Zufriedenheit mit der Demokratie und die Verbreitung ausgewählter Ressentiments. Weiterhin wird ein Längsschnittvergleich durchgeführt, der die Entwicklung über die letzten 21 Jahre abbildet. In einer ersten Analyse der Ursachen werden auch ostdeutsche Identität, Erfahrungen der Transformation und die Bewertung der DDR als Einflussfaktoren auf die rechtsextreme Einstellung berücksichtigt.
Else-Frenkel-Brunswick-Institut
MDR AKTUELL hat bei anderen Sozialpsychologen nachgefragt, wie sie die Studie einschätzen. Dabei hieß es, es sei nichts dagegen einzuwenden, anhand der Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen auch auf eine rechtsextreme Einstellung zu schließen. Etwas fraglicher sei dagegen die Interpretation der Skala, auf der die Befragten ihre Zustimmung oder Ablehnung zu den Aussagen ankreuzen konnten.
Diese umfasste die Antwortmöglichkeiten: "Lehne völlig ab", "Lehne überwiegend ab", "Stimme teils zu, teils nicht zu", "Stimme überwiegend zu" und "Stimme voll und ganz zu". Je nachdem, welcher Seite man die Unentschiedenen zurechne, die "Stimme teils zu, teils nicht zu" angekreuzt haben, könne man zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommen. Die Studie hätte dann auch deutlich positiver interpretiert werden können.
Wir haben den Artikel am 18. Juli 2023 um die Einschätzung anderer Sozialpsychologen ergänzt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 28. Juni 2023 | 10:00 Uhr