MDR WISSEN Podcast Dürfen wir Tiere essen?
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07. Juni 2021, 09:16 Uhr
Was ist denn das für eine naive Frage? Erstens, wer sollte uns das denn verbieten und zweitens gibt die Wirklichkeit doch darauf eine klare Antwort: Jeder Deutsche isst rein statistisch 1.100 Tiere in seinem Leben – unter anderem 1.000 Hühner, 45 Schweine und 5 Rinder. 88 Milliarden Tiere werden also durch eine Generation Deutscher zerkaut!
Lassen wir also die Zahlen zunächst mal beiseite. Fleisch essen ist keine Erfindung des Menschen. Das ist ein Prinzip der Evolution: Überleben oder sterben, fressen oder gefressen werden. Jedes und jeder ist irgendwie doch nur Futter für die anderen. Auch jenseits unserer Zuchtanlagen und Schlachthäuser ist die Welt ein brutaler Ort voller Leid. Professor Thomas Metzinger, Philosoph an der Uni Mainz:
Sehr viele rein wildlebende Tiere leiden ganz enorm. Über 90 Prozent von denen werden gefressen, bevor sie selbst Kinder haben können. Die Evolution hat etwas Grausames erzeugt auf diesem Planeten, lange bevor es überhaupt Menschen gab.
Schon unsere Urahnen vor Millionen von Jahren aßen zwar vor allem Pflanzen aber auch Fleisch, sagt Prof. Sven Herzog, Wildtierökologe von der TU Dresden: "Frühe Menschen haben pflanzliche Kost aber eben auch Fleisch aufgenommen – aber eben nicht aktiv gejagt. D.h. man kann sich vorstellen, solche Menschen haben zum Beispiel eine Eidechse gefangen. Sie haben beispielsweise das Fleisch eines verendeten Tieres gegessen. Haben möglicherweise später vielleicht auch noch versucht, einen Löwen von seiner Beute zu vertreiben oder ähnliches."
Das erfolgreichste Raubtier des Planeten
Das änderte sich dann ganz gewaltig, als sich vor ein oder zwei Millionen Jahren abzuzeichnen begann, dass wir das Zeug zum erfolgreichsten Raubtier auf unserem Planeten haben. Fleisch stand regelmäßig auf unserer Speisekarte. Damit änderte sich unser Leben von Grund auf: Die Beherrschung des Feuers, die Entwicklung unserer Sprache, der Ursprung von Arbeitsteilung, der Ursprung der Geschlechterrollen, der Beginn sozialer Hierarchien, bis zur Entstehung von Kultur könnte mit dem Fleisch in Verbindung stehen. Vielleicht verließen unsere Vorfahren Afrika sogar aus dem Grund, weil sie den Herden nach Eurasien folgten? Und das ist noch nicht alles sagt Herzog.
Da gibt es die Hypothese, dass der Konsum von tierischem Eiweiß im Grunde für die Großhirnentwicklung des Menschen eine wichtige Rolle gespielt hat. Und manche schließen daraus auch, dass man auch noch heute zumindest in bestimmten Lebensaltern – nicht unbedingt mehr als Erwachsener, aber als Jugendlicher oder Kind – auch tierisches Eiweiß braucht.
Als diese Umstellung zu immer mehr tierischem Eiweiß stattfand, waren wir noch nicht sesshaft. Wir zogen in kleinen Gemeinschaften umher und fühlten uns wahrscheinlich als Teil des natürlichen Kommen und Gehens. Wir konnten genauso gut auf der Jagd umkommen, wie die Tiere, die wir erlegen wollten. Wir fühlten uns wahrscheinlich noch nicht als außerhalb des Systems stehend, als etwas Besonderes, als die Krone der Schöpfung. Prof. Sven Herzog interpretiert Jagdtrophäen, Schädelknochen von getöteten Tieren aus der frühen Menschheitsgeschichte deshalb so: "Nicht unbedingt als Siegeszeichen wie das gerne gedeutet wird, sondern vermutlich eher als Entschuldigungsgeste, als Wertschätzungsgeste. Und wenn man dieses Tier im Jenseits wiedertrifft, dass das Tier dann möglicherweise besänftigt ist."
Tiere töten ohne Schuldgefühle
Und irgendwann beschlossen wir, etwas Besonderes zu sein. In unserem Verständnis traten wir aus dem Tierreich heraus und erschufen Theorien und Gedankengebäude, die uns in unserer besonderen Rolle, in unserer Genialität und Gottgleichheit bestätigten. Im Jenseits brauchten wir keinen Bären oder kein Mammut mehr zu fürchten. Unsere Theorien bzw. unsere Religionen hatten keinen Platz für Tiere im Paradies und nahmen uns damit die Angst, die Schuldgefühle und wahrscheinlich auch den Respekt.
Aus Sicht von Philosoph Metzinger und Professorin Simone Horstmann, Theologin aus Dortmund gehört das Christentum zu diesen Religionen dazu, dass fast alle Religionen davon ausgehen, dass einzig und allein der Mensch ewigkeitsfähig sei. Dass also im Grunde jegliches andere nichtmenschliche Leben, egal ob Tiere oder Pflanzen hinten runterfallen, da sie keinen Ewigkeitswert haben. Und diese Denkstruktur gilt bis in unsere heutige Wirklichkeit hinein.
Christen essen Fleisch. Es hat auch mal Opfer gegeben in der Frühgeschichte der Menschheit. Das sind alles Beispiele dafür, wie aus einer reinen Weltanschauung heraus ein bestimmter Umgang mit Tieren gerechtfertigt wird.
Was bedeutet es, sich moralisch zu verhalten?
Wir dürfen also Tiere essen. Ganz offiziell sogar. Zertifiziert und bestätigt von ganz oben. Vom lieben Gott und seinen Kolleginnen und Kollegen. Wieso also die Frage: Dürfen oder auch sollten wir Tiere essen? Die Antwort ist ganz einfach meint Dr. Luise Müller, Philosophin an der Uni Hamburg: Wir stellen die Frage, weil wir sie stellen können und zwar als einzige Spezies auf diesem Planeten.
Ich glaube, was uns wahrscheinlich schon unterscheidet, ist, dass wir überhaupt zu dieser Frage fähig sind: Was bedeutet es, sich moralisch zu verhalten? Und das stellt uns in die Verantwortung, uns das eben auch zu fragen und das uns auch gegenüber anderen Tieren zu fragen, was wir tun sollen und dürfen und was nicht.
Was dürfen wir mit Tieren tun und was nicht? Wie bitteschön soll man auf diese Frage eine Antwort finden? Wovon sollten wir uns dabei leiten lassen? Prof. Thomas Metzinger versucht darauf seit Jahren eine Antwort zu finden, jenseits von Ideologien, Religionen, und Sentimentalitäten. Seine zentrale Frage ist: Wer hat auf diesem Planeten ein Bewusstsein?
Also alle biologischen Lebewesen, die wir kennen, haben den Durst nach Dasein. Alle Lebewesen wollen leben, solange wie sie können. Jetzt ist die Frage, welche dieser Lebewesen erleben diesen Durst nach Dasein und die Angst vor dem Tod bewusst?
Wie viel Leiden bringe ich eigentlich in die Welt?
Als Beispiel nennt Metzinger die Fische. "Die haben Schmerzrezeptoren, die wir auch haben und die zeigen auch ganz eindeutig Schmerzverhalten, Vermeidungsverhalten. Ein Fisch geht nie mehr an eine Stelle, wo ihm einmal etwas Böses widerfahren ist. Aber daraus zu schließen, dass es tatsächlich eine Innenperspektive gibt, also dass es sozusagen JEMANDEN darin gibt, der das als negativ erlebt, das ist ein großer Schritt."
Es könnte ja zum Beispiel auch Tiere geben, die bewusste Schmerzerlebnisse haben, aber eigentlich gar kein ‚Ich-Gefühl‘. Wie ein Haus, in dem zwar das Licht an ist, aber niemand drin wohnt. Solche Tiere dürfte man schlachten und essen.
Metzinger führt ähnlich dem ökologischen Fußabdruck, den wir durch unser Leben hinterlassen, den Fußabdruck des Leidens ein. Er sagt, wir sollten uns folgende Frage immer stellen: "Wie viel Leiden bringe ich eigentlich in die Welt durch das, was ich mache?"
Aber wie soll ich das wissen, wie viel Leid ich in die Welt bringe, wenn niemand genau sagen kann, was denn Bewusstsein überhaupt ist? Ein Ich-Gefühl? Bis heute hat die Wissenschaft darauf keine Antwort. Wir ahnen, dass Wirbel- und Säugetiere, mit denen wir lange gemeinsam evolutionär verbunden waren, vielleicht ähnlich fühlen und leiden können wie wir, sagt Wildtierökologe Herzog.
Das klassische Beispiel ist ja die Elefantenmutter, die ihr Kalb verloren hat, ist aber auch der Hund, der trauert, wenn ein Angehöriger, also ein Mensch, eine Bezugsperson verlorengegangen ist. Also da gibt es sicher sehr viele Beispiele dafür. Keiner von uns war je Elefant oder Hund aber da gibt es eben sehr gute Indizien oder Hinweise darauf.
Um die Frage zu klären, wem wir in der Massentierhaltung oder beim Schlachten Leid zufügen, sollten wir die Forschung auf diesem Gebiet vorantreiben, fordert Metzinger genauso wie Philosophin Müller: "Letztendlich hundertprozentig wissen können wir das nicht, weil wir mit Tieren nicht kommunizieren können. "Ich glaube einfach, dass es moralisch signifikante Unterschiede gibt in sowas wie Leidensempfinden bei sehr kleinen Tieren, die vielleicht auch ein sehr kurzes Leben haben und Tieren, die uns auch sehr ähnlich sind. Wie zum Beispiel Orang-Utans oder andere Affenarten."
Ess ich dich, oder ess ich dich nicht?
Für die Theologin Horstmann ist diese rein wissenschaftliche Sicht, der Aspekt des Bewusstseins auf die Frage, wen wir schlachten und essen dürfen, schlichtweg ein Graus:
Also wenn ich vor dem Hintergrund der Frage‚ ‚Ess ich Dich, oder ess ich Dich nicht?‘ die Frage stelle, wie viel Subjekt steckt jetzt da drin, dann kann das keine streng objektive wissenschaftliche Perspektive mehr sein.
Sie habe große Sorge vor einer Ethik, die sich versteht wie eine Art Taxonomiebehörde, so Horstmann weiter. "Die Angst hat vor jeglichen Sentimentalitäten, wo ich über rationale Diskurse überhaupt erstmal erheben müsste, welchen moralischen Status hat ein Tier, darf ich dann so empfinden. Und wenn das im Grunde der ethische Vorbau ist, vor allen emotionalen Zugängen, finde ich das hanebüchen."
Als eine Spezies mit einem speziellen Verstand, als eine Spezies mit ethischen und moralischen Grundsätzen sollten wir natürlich wissen, was wir den Geschöpfen auf diesem Planeten antun, wenn wir sie in Massen halten, dabei wahrscheinlich tatsächlich quälen und anschließend schlachten. Aber brauchen wir für ein vernünftiges Handeln wirklich einen Beweis, dass sie leiden? Eigentlich nicht sagt Philosophin Müller.
Ich glaube wir schulden Ihnen, dass wir vernünftig mit Ihnen umgehen. Und der Gegensatz dazu wäre, dass wir tun können, was wir wollen mit Ihnen. Ich glaube, wir müssen sie wahrnehmen als moralisch relevante Wesen, die wir in unserem Handeln berücksichtigen müssen.
Wie wird die Zukunft das bewerten?
Die Frage, dürfen wir Tiere essen, ist letztlich die Frage, wie wir mit den Geschöpfen auf diesem Planeten umgehen, wie wir sie behandeln und wie wir unsere Rolle sehen und definieren. Dass, was wir jetzt mit Tieren machen, erscheint uns heute normal, wird sich aber aus der Sicht nachfolgender Generationen möglicherweise als nicht wiedergutzumachendes Verbrechen an den Geschöpfen unseres Planeten darstellen. So wie wir heute die Sklaverei betrachten, die Hexenverbrennungen oder die Behandlung von Frauen als Menschen zweiter Klasse.
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Parlament aller Menschen oder sogar aller bewussten Tiere der nächsten 5.000 Jahre, und die sollen zusammen bestimmen, was wir heute kaputt machen dürfen und was nicht. Wahrscheinlich würden die meisten von uns sofort ins Gefängnis wandern.
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