Kommentar Diabetes Typ 1 und 2: Wann ist endlich Schluss mit Schuldzuweisungen und Stigma?
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14. November 2024, 12:55 Uhr
Wer Diabetes hat, ist faul und dick, so ein verbreitetes Stigma. Das stimmt längst nicht immer und ist für die Betroffenen belastend. Studien zufolge können solche Vorurteile die Diabetes-Therapie behindern. Der Weltdiabetestag wäre ein guter Anlass, davon abzulassen. Ein Kommentar.
Am 14. November ist Weltdiabetestag. Der Tag soll einen Beitrag zur Aufklärung und Früherkennung von Diabetes leisten. Und das ist relevant wie nie zuvor: Weltweit steigen die Fälle von Diabetes. Der Anteil der Erwachsenen mit Typ 1 und Typ 2-Diabetes hat sich zwischen 1990 und 2022 von sieben auf 14 Prozent verdoppelt. Beides sind Stoffwechselerkrankungen, die das Zusammenspiel von Insulin und Zucker im Körper betreffen.
Die Gründe für Diabetes sind komplex
In ihrer Entstehung haben sie allerdings nicht viel gemeinsam: Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Typ 2 bedeutet, dass das Insulin im Körper nicht ausreicht, um den Zuckerstoffwechsel kontrolliert stattfinden zu lassen, die Bauchspeicheldrüse ist überlastet. Die Gründe können sehr unterschiedlich sein – aber: Sie sind komplex.
Das wird häufig nicht so wiedergegeben. Jährlich dominieren Bilder von dicken Bäuchen und großen Haufen Würfelzucker die Berichterstattung zum Weltdiabetestag. "Bewegung statt Bonbons", eine der Überschriften in diesem Jahr. Natürlich ist ein hoher Zuckerkonsum, gepaart mit zu wenig Bewegung, einer der zentralen Risikofaktoren für die Entstehung von Typ-2-Diabetes. Aber: Der Aufklärung und besseren Behandlung der Krankheit nutzt es nichts, diese Stigmata aufzubauen und Diabetiker als faule, gefräßige Menschen darzustellen. Psychische Belastungen wie Stress, viel Alkohol und Rauchen sind neben der genetischen Veranlagung und dem Alter übrigens auch wichtige Risikofaktoren für Diabetes Typ 2.
Das Zucker-Stigma sorgt für Scham bei den Betroffenen
Ich bin von Diabetes Typ 1 betroffen und kenne das Zucker-Stigma auch. Ich habe die Krankheit mit zwei Jahren bekommen und schon als Kind musste ich mir ständig die Frage stellen lassen, ob ich "zu viel genascht" hätte. Werden Süßigkeiten verteilt und ich greife zu, fragt man mich noch als Erwachsene, ob ich das überhaupt "darf". Als ich beim Radio arbeitete, waren Diabetiker-Witze ein etabliertes Genre. Der Moderator hat alle Schokolade aus dem Adventskalender schon am ersten Dezember gegessen? Diabetes-Alarm! Von gut gemeint bis ziemlich gemein gab es ein breites Spektrum an Reaktionen.
Sie alle haben eine zentrale Folge für Diabetikerinnen und Diabetiker: Sie verbinden die Krankheit mit einer Scham, die nicht angebracht ist. Und dem Behandlungserfolg auch nicht dient. Denn wer sich schämt, möglicherweise von dieser "Krankheit der Dicken und Faulen" betroffen zu sein, der geht vielleicht nicht zum Arzt, wenn er potenzielle Symptome an sich feststellt. Und wer dünn ist, glaubt vielleicht, dass er keinen Diabetes haben kann. Das stimmt nicht, auch dünne Menschen können Diabetes Typ 2 haben – der Anteil wird unterschätzt, sogar aus medizinischer Sicht, wie zwei Forschende im Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism argumentieren.
Circa 1,3 Millionen Menschen haben Diabetes, ohne es zu wissen
Dabei sollten eigentlich viel mehr Menschen mit ihrem Arzt über mögliche erste Symptome für Diabetes und Prädiabetes sprechen: Werden erste Anzeichen für Prädiabetes (leicht erhöhte Langzeit-Blutzuckerwerte) und Diabetes Typ 2 frühzeitig erkannt, kann man das Risiko, dass die Krankheit sich manifestiert, minimieren. Auch Kinder und Teenager können übrigens Prädiabetes entwickeln. Obwohl unerkannter Diabetes schwere Folgen für den Körper haben kann, ist die geschätzte Dunkelziffer hoch: Etwa 1,3 Millionen Menschen haben in Deutschland vermutlich Diabetes, ohne es zu wissen.
Auch in der Therapie selbst helfen die Scham und das negative Stigma um Diabetes nicht. Als Typ-1-Diabetikerin habe ich die Krankheit lange am Arbeitsplatz versteckt, bin zum Blutzuckermessen auf Toilette. Man hatte mir dazu geraten, damit man mich im Job nicht für weniger leistungsfähig hält. An der Uni fragte mich jemand, ob meine Insulinpumpe, die ich für die Therapie verwende, meinen Freund nicht störe. Diese Krankheit gilt nun mal nicht gerade als sexy.
Dabei ist es überlebenswichtig, dass wir mit Diabetes offen umgehen. Das zeigt etwa der Fall der 13-jährigen Schülerin Emily, die 2019 auf Klassenfahrt starb, weil die Lehrerinnen nichts von ihrer Diabetes-Erkrankung wussten. Mit Sicherheit ist der Fall komplex, aber er wirft die Frage auf, warum die Schülerin über mehrere Tage offenbar niemandem von den Problemen mit ihrer Diabetes-Therapie erzählte. Wer Diabetes Typ 1 hat, muss den Blutzuckerspiegel kontinuierlich überwachen. Das lässt sich eigentlich kaum verheimlichen – und wer es dennoch tut, bringt sich in Gefahr.
Mehr Stigma = weniger erfolgreiche Therapie bei Typ 2?
Die Therapie von Typ-2-Diabetes funktioniert ein wenig anders. Hier hilft es tatsächlich meistens, wenn die Betroffenen ihren Lebensstil verändern. Also mehr Bewegung, mehr Ballaststoffe, mehr Proteine und weniger Kohlenhydrate. Inwiefern das Zucker-Stigma dabei hilft, kann man anzweifeln. Zumindest bei Adipositas weiß man mittlerweile, dass "fat shaming" die Probleme nur vergrößert. Eine Studie mit Typ-2-Diabetikern aus China hat im vergangenen Jahr gezeigt, dass eine höhere Stigmatisierung der Betroffenen mit einer geringeren Medikamentionsadhärenz (wie gut die Patienten sich an ihre Therapie hielten) und einer geringeren Lebensqualität verbunden waren. Das zeigt, dass die Diskriminierung von Typ-2-Diabetikern als "dick und faul" einer erfolgreichen Therapie im Wege stehen könnte. Ein Zusammenhang, den wir gerade angesichts der steigenden Fallzahlen im Blick behalten sollten.
Wer Diabetes hat, ist nicht "selbst schuld"
Ich wünsche uns allen zum Weltdiabetestag, dass wir endlich aufhören, den Betroffenen zu unterstellen, sie seien auf irgendeine Weise "selbst schuld" an ihrer Krankheit. Ich persönlich habe mich entschieden, meinen Diabetes nicht mehr zu verstecken und letzten Sommer meinen ersten Bikini gekauft. Jetzt kann jeder den Katheter an meinem Bauch sehen und ich bekomme mehr Fragen gestellt. Was ich gut finde, denn so kann ich direkt mit einigen Vorurteilen aufräumen. Hoffentlich sind wir eines Tages an einem Punkt, an dem wir mit allen chronischen, körperlichen oder psychischen Erkrankungen derart offen umgehen und die bestmögliche Behandlung bekommen, ganz frei von Scham und Stigma.
Links/Studien
- Lean (Pre)Diabetes – Underestimated and Underexplored - hier geht es um Prädiabetes bei schlanken Menschen
- Diabetes mellitus – Definition, Klassifikation, Diagnose, Screening und Prävention (Update 2023): Ein guter Forschungsüberblick
- The status of stigma in patients with type 2 diabetes mellitus and its association with medication adherence and quality of life in China: A cross-sectional study - hier geht es um die Auswirkungen der Stigmatisierung von Typ-2-Diabetikern in China.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | 14. November 2024 | 08:00 Uhr
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