Blutzucker-Sensoren für Nicht-Diabetiker Internet-Trend: Lohnt sich glukosebewusste Ernährung?
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01. April 2024, 10:50 Uhr
"Glucose Revolution" nennt sich eine Bewegung im Internet, die sich mit Blutzuckerschwankungen bei Nicht-Diabetikern auseinandersetzt. Weniger Schwankungen sollen gesünder sein und angeblich sogar mit einem geringeren Risiko für Krebs in Zusammenhang stehen. Um einen ausgeglichenen Blutzucker zu erreichen, wird häufig ein Gewebezuckersensor (CGM) genutzt. Wissenschaftliche Evidenz für die versprochenen Gesundheitsvorteile ist aber noch kaum vorhanden.
Keine Hafermilch auf nüchternen Magen, ein Löffel Apfelessig vor dem Essen und wenn Süßigkeiten, dann besser als Dessert. Diese "Glukose-Hacks" empfehlen Influencerinnen und Influencer ihren Followern derzeit in den sozialen Medien. Das Ziel dabei: Der Blutzuckerspiegel soll möglichst konstant in einem Zielbereich zwischen 80 und 110 mg/dl, kurzfristig ein wenig drunter oder drüber, gehalten werden. Die Ratschläge richten sich an stoffwechselgesunde Menschen, die keinen Diabetes haben. Auch für diese Menschen soll ein ausgeglichener Blutzuckerspiegel gesundheitliche Vorteile bieten, denn: Nicht-Diabetiker erleben im Laufe eines Tages ebenfalls Blutzuckerschwankungen.
Auch "gesunde" Menschen erleben Blutzuckerschwankungen
Nehmen wir kohlehydratreiche Nahrung zu uns, steigt der Blutzucker im Normalfall an, auch bei stoffwechselgesunden Menschen ist das ein normaler Prozess. Der Körper reagiert auf die Kohlehydrate in der Nahrung und schüttet das Hormon Insulin aus, was den Blutzuckerspiegel dann schnell wieder sinken lässt. Im Blutzuckerverlauf zeigt sich eine Spitze, auch als "Peak" bezeichnet. Wird sehr kohlehydratreiche Nahrung auf nüchternen Magen verzehrt, kann dieser Peak höher ausfallen. Werden Kohlehydrate dagegen gemeinsam mit Fetten und Proteinen gegessen, fällt der "Peak" in der Regel flacher aus, weil diese Stoffe die Aufnahme der Kohlehydrate im Körper verlangsamen.
Weniger Heißhunger, mehr Energie
Das Ziel der glukosebewussten Ernährung ist es, derartige Peaks zu vermeiden – denn nach dem Peak kommt der Crash. Häufig sinkt der Blutzuckerspiegel nach einer Spitze schnell wieder ab und kann dann kurzfristig unter dem Ausgangsniveau liegen. Dann wird wieder etwas gegessen, der Blutzucker steigt wieder – es entsteht die Dynamik einer "Achterbahn". So zumindest nennen es die Vertreterinnen und Vertreter der "Glukose-Revolution".
Und sie führen eine Vielzahl an Studien ins Feld, denn: Die Liste der mit stabilen Blutzuckerwerten verbundenen, versprochenen gesundheitlichen Vorteile ist zunächst lang. Weniger Heißhunger, Erschöpfung, hormonelle Probleme, Akne, Falten und psychische Probleme, dafür mehr Energie und ein besseres Immunsystem. Sogar das Risiko für Krebs soll die glukosebewusste Ernährung senken.
Vordenkerin des Konzepts ist die französische Biochemikerin Jessie Inchauspé, die im Internet als "Glucose Goddess" – Deutsch: Glukose-Göttin – Tipps gibt. "Das Thema Glukose ist für alle Menschen wichtig, nicht nur für Menschen, die Diabetes haben", erklärt sie auf ihrem Youtube-Kanal und in ihrem internationalen Bestseller-Roman "Der Glukose-Trick".
Lückenloses Monitoring dank Gewebezuckersensor
"Blutzucker-Schwankungen sind eigentlich nichts, wovor man Angst haben muss. Aber es kann Spaß machen, sich damit auseinanderzusetzen, wie eigentlich diese Blutzucker-Dynamik im Körper stattfindet. Weil die sehr stark damit zusammenhängt, wie wir uns zum Beispiel im Hinblick auf unsere Energie im Tagesverlauf fühlen", findet Anne Latz, Ärztin in der Psychosomatik. Sie ist ebenfalls Teil der Glukose-Bewegung und informiert auf Instagram über die Vorteile einer entsprechenden Ernährung. Außerdem hat sie das Startup "Hello Inside" mitgegründet, das Gewebezuckersensoren an Nicht-Diabetiker verkauft.
Mit diesen Sensoren kann jeder und jede selbst zu Hause sehen, wie sich der eigene Blutzuckerwert beinahe in Echtzeit verhält. Früher musste man sich dafür in den Finger stechen, mittlerweile bekommt man die Daten direkt per NFC-Chip aufs Handy – und zwar rund um die Uhr.
Was sind Gewebezuckersensoren?
Gewebezuckersensoren, auch CGM (Continous Glucose Monitoring System) genannt, wurden ursprünglich für Menschen mit Typ 1-Diabetes entwickelt, für diese Gruppe ist die Nutzung der Sensoren auch bereits gut etabliert. Sie werden beispielsweise im Fettgewebe des Oberarms invasiv circa zwei Millimeter tief angebracht und messen rund um die Uhr, wie sich die Zuckerwerte verändern. Die Sensoren können von den Nutzerinnen und Nutzern selbst zu Hause angebracht werden.
Die Nutzung von CGM-Systemen bei stoffwechselgesunden Menschen ist noch recht neu, außerdem nutzen Ausdauersportler mitunter Gewebezuckersensoren, um ihr Training zu optimieren. Ein prominentes Beispiel ist der Marathon-Rekordhalter Eliud Kipchoge.
Die Nutzung von Gewebezuckersensoren hat der glukosebewussten Ernährung im Netz womöglich erst zu gesteigerter Reichweite verholfen. "Der Blutzuckersensor stellt mir quasi ein kleines Fenster in den Körper bereit, wo ich direkt sehe, was passiert", sagt Anne Latz. Sie habe beim Tragen des Sensors viel experimentiert und dabei starke Veränderungen an ihrem Körper festgestellt. "Seeing is believing", findet sie.
Damit ist Latz nicht die einzige Influencerin, die derzeit in den sozialen Medien von den gesundheitlichen Vorteilen einer glukosebewussten Ernährung berichtet. Und dabei Ratschläge gibt, beispielsweise: Kohlehydrate sollten am besten gemeinsam mit Proteinen und Fetten gegessen werden, vor dem Essen ein Salat hilft außerdem, "Peaks" zu minimieren.
Glucose-Influencer verweisen auf Studien - Wissenschaftler sehen Datenlage aber als gering am
Neben diesen persönlichen Berichten und Tipps sieht es, was die wissenschaftliche Evidenz angeht, beim Thema glukosebewusste Ernährung noch eher spärlich aus. Aus der Diabetesforschung weiß man: Chronisch erhöhter Blutzucker ist mit einer Vielzahl von gesundheitlichen Folgen assoziiert.
Ein Beispiel ist die Diabetische Neuropathie, bei der in Folge des hohen Blutzuckers Nervenschäden auftreten. Aber ab wann genau ein "Peak" bei gesunden Menschen mit einer normalen Ernährung tatsächlich schädlich ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Ernährungswissenschaftlerin Jasmin von Zezschwitz findet, die Studienlage dazu sei noch zu dünn: "Man kann derzeit nicht ausreichend belegen, dass es einen Mehrwert gibt, wenn Gesunde ihren Blutzucker kontrollieren."
Dabei zitieren Influencer wie die Biochemikerin Inchauspé sogar ausgesprochen viel wissenschaftliche Evidenz. 159 Studien führt die "Glukose-Goddess" alleine zum Thema Glukosewerte und Glukose-Hacks auf ihrer Website auf. Das vermittelt den Eindruck, die wissenschaftlichen Basis ihrer Aussagen sei bereits gut belegt.
Studien aus der Diabetesforschung lassen sich nicht immer übertragen
Dabei gibt es allerdings ein Problem: Die zitierten Studien wurden häufig nicht an stoffwechselgesunden Menschen durchgeführt, sondern an Menschen mit Typ-2 Diabetes, mitunter auch an Typ-1-Diabetikern.
Diese Gruppen lassen sich kaum mit gesunden Menschen vergleichen, sagt Ernährungswissenschaftlerin von Zezschwitz: "Die meisten Menschen mit Typ 2-Diabetes haben ja nicht nur eine Krankheit, sondern sie haben metabolisches Syndrom, das heißt, sie haben in der Regel noch mindestens kardiovaskuläre Erkrankungen, sie haben potenziell eine Fettleber oder sie haben durch ihre Ernährung nicht das gesundheitsförderndste Mikrobiom." Gerade wenn es um Krankheiten wie Krebs gehe, sei es zudem gefährlich, aus den in einzelnen Studien gefundenen Korrelationen auch Kausalitäten abzuleiten.
Abgesehen davon steht die "Glukose-Goddess" Inchauspé derzeit in der Kritik, weil sie Tabletten verkauft, die Blutzucker-Peaks um "bis zu vierzig Prozent" senken sollen. Die wissenschaftlichen Belege für die Wirkung der "Anti-Spike Formula" genannten Tabletten veröffentlicht die Biochemikerin auf ihrer Website. Allerdings handelt es sich lediglich um vier Studien, die einzelne Inhaltsstoffe der Tabletten untersucht haben, die meisten von ihnen mit weniger als 40 Probanden, teilweise mit Typ 2-Diabetikern. 60 Tabletten, von denen immer zwei pro Mahlzeit (bei Bedarf) eingenommen werden sollen, kosten etwas über vierzig Euro.
Wie sinnvoll ist die Interpretation der Ergebnisse?
Eine weitere Problematik des Blutzucker-Trackings bei Menschen ohne Diabetes ist zudem, dass das Tracking in diesem Fall nicht unter medizinischer Aufsicht stattfindet. Bei "Hello Inside" hat man sich um eine Kontextualisierung der Ergebnisse bemüht, hier werden die CGM-Sensoren in Verbindung mit einer App verkauft, die ebenfalls Erklärungen liefert und bei der Interpretation der Blutzuckerwerte unterstützt. Auch eine Ernährungsberatung und diverse Lerninhalte sind Teil des Angebots, mit dem das Startup rechtfertigt, dass die Sensoren etwas teurer als beim ursprünglichen Hersteller FreeStyle Libre verkauft werden. Das Unternehmen gibt es mittlerweile seit rund drei Jahren, aktuell hat das Start-Up circa 1.700 zahlenden Kundinnen und Kunden, der Großteil davon ist weiblich.
Mario Aichsleder, CEO von "Hello Inside", erklärt die wissenschaftliche Basis seines Unternehmens folgendermaßen: Man habe versucht, das Thema "wissenschaftlich schon auch okay unterzubringen, ohne dass es jetzt die exakten Studien gibt. Aber dennoch genügend Anzeichen und Proxy-Studien dafür".
Anderseits setze sich das Unternehmen auch dafür ein, diese Forschungslücke zu schließen, denn: Erst durch die regelmäßige Nutzung von Glukosesensoren durch gesunde Menschen kann man mehr darüber herausfinden, wo Risiken und Potenziale des Glukose-Trackings tatsächlich liegen. Laut Aichsleder konnten die Daten aus der Nutzung von "Hello Inside" bereits für zwei Studien genutzt werden.
Deutsche Diabetes Gesellschaft sieht keinen Nutzen
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft DDG empfiehlt hingegen kein Glukose-Monitoring für Nicht-Diabetiker. Pressesprecher Baptist Gallwitz findet: "Im Alltag bei normalen Tätigkeiten macht das Tragen eines Sensors bei Gesunden keinen Sinn, da sich hieraus nicht sicher klare Handlungsanweisungen ergeben. Körpergewichtsregulation ist gut auch ohne das Tragen eines Glukosesensors möglich und ein Zusatznutzen des Tragens von Sensoren hierzu ist nicht durch Studien belegt." Gleiches gelte für die Optimierung der Konzentrationsfähigkeit oder der Schlafarchitektur und des Schlafverhaltens.
Falsche Schlüsse für sehr viel Geld?
Außerdem kann man anzweifeln, wie sinnvoll die Interpretation des "Blutzucker-Peaks", der durch eine einzelne Mahlzeit ausgelöst wird, tatstächlich ist. "Das ist eine der großen Gefahren in dem Bereich", sagt Jasmin von Zezschwitz. "Menschen denken, diese eine Spitze, die ich da jetzt habe, das hängt jetzt an dem einen Essen, was ich gegessen habe", dabei seien die Zusammenhänge wesentlich komplexer. Auch, was am Vortag gegessen wurde, könne beeinflussen, wie stark ein Blutzucker-Peak ausfalle.
Dass Blutzuckerwerte individuell und komplex sind, betont auch das Team von "Hello Inside" immer wieder. Ob die zugehörige App tatsächlich immer ausreicht, um sinnvolle Interpretationen ohne eine direkte ärztliche Betreuung, wie sie bei Diabetikern in diesem Zusammenhang üblich ist, zu ersetzen, ist noch ungeklärt. "Wenn ich bei sowas nicht wirklich gut begleitet werde und mir gesagt wird, Blutzuckerschwankungen sind normal, dann ziehen ganz viele da ganz falsche Schlüsse - für sehr viel Geld", kritisiert die Ernährungsberaterin von Zezschwitz.
Gefahr für Menschen mit Essstörungen
Tatsächlich gibt es eine Bevölkerungsgruppe, der auch Anne Latz von der Nutzung eines Glukose-Monitoring-Systems abrät: Frauen mit Essstörungen. Es bestehe die Gefahr, dass Tracking für diese Menschen zwanghaft werde: "Diese Frauen sollten jetzt nicht versuchen, die Blutzuckerspiegel zu optimieren."
Andererseits wirbt das von Latz mitgegründete StartUp "Hello Inside" damit, dass ein besser regulierter Blutzucker auch ein "besseres Gewichtsmanagement" ermögliche. Dabei richtet sich das StartUp explizit an Frauen, auch mit dem Ziel, den "Gender Research Gap" in der Medizin, also die mangelnde Forschung an weiblichen Körpern, zu bekämpfen.
Gleichzeitig sind junge Frauen überdimensional häufiger von Essstörungen wie Magersucht oder Orthorexie, einer Krankheit, bei der zwanghaft versucht wird, sich "gesund" zu ernähren, betroffen. Gerade letzteres wird bereits mit Social-Media-Trends in Zusammenhang gebracht.
Übermäßiges Tracking: Zwanghafte Kontrolle und psychische Belastung?
Baptist Gallwitz von der DDG findet, es gelte zu bedenken, dass das übermäßige Tracken oder die zwanghafte Kontrolle von Körperfunktionen möglicherweise auch zu einer psychischen Belastungssituation führen könne.
Inwiefern die Sensoren eine Rolle bei der Diagnose von Prädiabetes spielen können, ist noch nicht geklärt. Jasmin von Zezschwitz sagt, sie könne sich vorstellen, dass Glukose-Monitoring bei Gesunden in diesem Punkt zumindest erste Anzeichen liefern könne: "Was das angeht, haben wir in Deutschland eine Versorgunsglücke".
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft schreibt: "Zur Diabetesdiagnose sind Sensoren nicht geeignet, da die Diagnose eine Erkrankung anhand von Glukosebestimmungen aus venösem Blut in einem Labor mit einer exakten Bestimmungsmethode oder anhand der Bestimmung des "Blutzuckerlangzeitwertes" HbA1c festgemacht wird." Sensoren seien bei Nicht-Diabetikern lediglich in seltenen Fällen medizinisch sinnvoll, beispielsweise wenn es um das sogenannte Dumping-Syndrom (hier gibt die Bauchspeicheldrüse zu schnell zu viel Insulin ab) oder bei einer krankhaften tumorbedingten Mehrproduktion von Insulin gehe.
Rückführung von Elektroschrott noch offen
Ob sich eine glukosebewusste Ernährung und Blutzucker-Tracking lohnt, muss aktuell womöglich jeder und jede für sich entscheiden – denn wissenschaftlich ist der gesundheitliche Nutzen von Glukosesensoren bei gesunden Menschen nicht ausreichend belegt. Wer nun seine Werte trackt, kann damit womöglich aber auch zu mehr Wissen in diesem Bereich beitragen – allerdings zu einem nicht unerheblichen Preis.
Ein Sensor ist zwei Wochen lang am Körper aktiv und kann hinterher nicht weiter genutzt werden. Damit entsteht beim Glukose-Monitoring auch fortlaufend Elektroschrott. "Hello Inside" versuche, Lösungen zu finden, die diesen Schrott minimieren oder in den Wertstoffkreislauf zurückführen, verspricht Mario Aichsleder. Aktuell sei man aber noch nicht so weit: "Es ist leider so, dass wir davon ausgehen müssen, dass der Endkunde dieses Ding wirklich nimmt und in den Restmüll wirft."