Demenz Neue genetische Resilienz gegen Alzheimer gefunden
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19. Mai 2023, 08:49 Uhr
Ein Team von Wissenschaftlern aus Kolumbien, den USA und Deutschland hat ein Gen entdeckt, das Alzheimer aufhält. Und es hat die Hirnregion gefunden, die bei der Behandlung wahrscheinlich besonders wichtig ist.
Es sind zum Teil abgeschiedene Bergdörfer im Nordwesten Kolumbiens, wo Alzheimer so früh bei Menschen auftritt, wie nirgendwo sonst so gehäuft auf der Welt. In diesen Orten in den Ausläufern der Anden tragen viele Menschen eine Genmutation in sich. Diese Menschen sind alle Nachfahren von baskischen Einwanderern, die vor mehr als 250 Jahren ins Land kamen und die Mutation mitbrachten. Wenn beide Elternteile die Mutation haben, wird ihr Kind sie auch haben. Hat nur ein Elternteil die Mutation, dann stehen die Chancen beim Kind bei 50 Prozent. Das durchschnittliche Leben eines Menschen mit der sogenannten Paisa-Mutation verläuft so: Mit 44 Jahren erste kognitive Beeinträchtigungen, mit 49 Jahren eine ausgeprägte Demenz, mit 60 Jahren der Tod.
Dass man all das weiß und die Hintergründe kennt, ist Francisco Lopero zu verdanken. Der mittlerweile berühmte Neurologe stammt auch aus der Paisa-Region und forscht seit 30 Jahren zu diesem Thema. Schon 2019 berichtete er über eine Frau mit dieser Mutation, die jedoch bis zu ihrem 70. Lebensjahr keinerlei Demenz-Erscheinungen aufwies: Eine beachtliche Ausnahme. Und nun gibt es die zweiten Fall dieser Art, einen Mann, der bis zum Alter von 67 Jahren keine kognitiven Beeinträchtigungen hatte. Mit 72 begann eine leichte Demenz, mit 74 starb der Mann, allerdings an einer anderen Ursache.
Wie lässt sich dieser deutlich spätere Alzheimer-Verlauf als normalerweise erklären?
"Was wir mit der Untersuchung dieser beiden Fälle getan haben, ist, Mutter Natur zu lesen", sagt Lopera. "Das Spannendste ist, dass die Natur uns sowohl die Ursache von Alzheimer als auch das Heilmittel dafür offenbart hat." Es sind Erkenntnisse, die man ohne eine solche Probanden-Kohorte wie im Nordwesten Kolumbiens nicht hätte gewinnen können. Klar ist nun, dass beide Personen zwar ein Gen trugen, das Alzheimer verursacht, aber außerdem noch ein anderes, das sie mehr als zwei Jahrzehnte lang vor den Symptomen der Krankheit schützte. "Die Lösung besteht also darin", sagt Francisco Lopera, "die Natur zu imitieren, indem wir Therapien entwickeln, die den Schutzmechanismus dieser genetischen Varianten bei Personen nachahmen, die gefährdet sind, an Alzheimer zu erkranken."
Das Spannendste ist, dass die Natur uns sowohl die Ursache von Alzheimer als auch das Heilmittel dafür offenbart hat.
Für die Vorbeugung und Behandlung unheilbarer Krankheiten habe sich damit eine große Tür geöffnet, meint Lopera. Und sein Kollege Yakeel T. Quiroz, Co-Autor der Studie, fügt hinzu: "Die Erkenntnisse, die wir aus diesem zweiten Fall gewinnen, können uns Hinweise darauf geben, wo im Gehirn wir ansetzen müssen, um das Fortschreiten der Krankheit zu verzögern oder zu stoppen, und sie werden uns helfen, neue Hypothesen über die Abfolge der Schritte zu bilden, die tatsächlich zur Alzheimer-Demenz führen können."
Gemeinsame Forschung in Kolumbien, den USA und Deutschland
Der männliche Proband war Teilnehmer einer Studie, in deren Rahmen 6.000 Personen mit der bekannten Paisa-Mutation für Neuroimaging-, Biomarker- und Genuntersuchungen nach Boston kommen. In der gleichen Studie war auch schon der Fall der Frau aufgedeckt worden, die zwei Kopien einer seltenen genetischen Variante trug, die APOE3 betrifft – ein Protein, das stark mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht wird. Die Forscher konnten bei dem männlichen Patienten jedoch das Vorhandensein jener Variante ausschließen. Also musste es diesmal etwas anderes sein. Der vielversprechendste Kandidat war eine neue und seltene Variante. Das Team gab ihr den Namen Reelin-COLBOS.
In Studien unter der Leitung von Diego Sepulveda-Falla vom Institut für Neuropathologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf konnte das Team die schützende Rolle der Reelin-COLBOS-Variante in Mausmodellen und neuropathologischen Studien weiter verifizieren. "Beide Fälle, der APOE-Christchurch- und der Reelin-COLBOS-Fall, zeigen in den postmortalen Analysen ein ausgeprägtes Schutzmuster, das eine global, das andere sehr lokal", erklärt Sepulveda-Falla. "Diese herausragenden Fälle lehren uns, dass der Schutz vor der Alzheimer-Krankheit unterschiedliche Formen annehmen kann und dass eine Therapie vielleicht schon dann erfolgreich sein kann, wenn sie auf Schlüsselstrukturen des Gehirns wie den entorhinalen Kortex abzielt. Sie zwingen uns, unsere bisherigen Konzepte über Neurodegeneration und kognitiven Abbau zu überdenken. Dies sind aufregende Zeiten für uns und hoffentlich auch für die Alzheimer-Forschung".
Die Forscher bezeichnen Reelin als einen "Cousin" des bekannteren APOE. Sowohl Reelin als auch APOE konkurrieren um die Bindung an ähnliche zelluläre Rezeptoren und drängeln sich quasi um denselben Platz. "Die Tatsache, dass wir im ersten Fall eine Variante gefunden haben, die APOE betrifft, und im zweiten Fall Reelin, sagt uns, dass dieser Signalweg, der unter anderem die Phosphorylierung von Tau steuert, der Schlüssel zum Verständnis sein könnte, warum diese Patienten geschützt waren", erklärt Studien-Co-Autor Joseph F. Arboleda-Velasquez. "Dies ist für die Therapieplanung von entscheidender Bedeutung, denn es zeigt uns deutlich, dass mehr Reelin möglicherweise positive Auswirkungen haben könnte."
Die entscheidende Stelle im Gehirn
Die Neuro-Imaging-Scans bei dem männlichen Probanden ergaben, dass er zwar eine hohe Amyloid-Beta-Plaque-Belastung und in einigen Hirnregionen Tau-Tangles aufwies, sein entorhinaler Kortex jedoch nur eine sehr geringe Tau-Pathologie aufwies. Mit anderen Worten: An vielen Stellen des Gehirns waren viele Alzheimer-auslösende Ablagerungen, aber an der wohl entscheidenen Stelle waren es deutlich weniger. Der entorhinale Kortex (auch limbischer Assoziationskortex genannt) spielt eine entscheidende Rolle für Gedächtnis und Lernen, und seine Degeneration führt zu kognitiven Beeinträchtigungen und Demenz. "Dieser Fall deutet darauf hin, dass die entorhinale Region ein winziges Ziel darstellen könnte, das für den Schutz vor Demenz entscheidend ist", so Yakeel T. Quiroz.
Da die Wissenschaftler Gentherapien erforschen wollen, wird es immer wichtiger zu verstehen, auf welche Hirnregion man sich bei der Verabreichung konzentrieren muss. Viele Behandlungen der Alzheimer-Krankheit, einschließlich der vor kurzem von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassenen Medikamente und anderer Präparate, die sich derzeit in der klinischen Erprobung befinden, zielen darauf ab, den Aufbau von Amyloid-Plaques zu verringern. Die Ergebnisse der Studie weisen auf potenzielle neue Behandlungsmöglichkeiten hin, da die beiden geschützten Patienten extrem hohe Amyloidwerte in ihrem Gehirn aufwiesen und dennoch geschützt waren.
Die Forscher merken an, dass sie nicht völlig ausschließen können, dass andere Faktoren, einschließlich zusätzlicher Genvarianten, zur Widerstandsfähigkeit des Patienten gegen Alzheimer-Symptome beigetragen haben könnten. Aber ihre experimentellen Beweise deuten stark auf die Reelin-COLBOS-Variante hin.
Die Forschungsgruppe plant, ihre gemeinsame länderübergreifende Arbeit fortzusetzen, um weitere geschützte Patienten aus diesen kolumbianischen Familien zu identifizieren und aus jedem außergewöhnlichen Fall zu lernen. Außerdem forschen sie nach Behandlungsmöglichkeiten, die auf den neu gefundenen Schutzweg abzielen.
Links/Studien
Die Studie "Resilience to autosomal dominant Alzheimer’s disease in a Reelin-COLBOS heterozygous man" ist im Journal Nature Medicine erschienen.
(rr)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 30. März 2023 | 22:40 Uhr