Erinnerungs-Forschung Sekunden später: Wie sich selbst das Kurzzeitgedächtnis an Dinge erinnert, die gar nicht da sind
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Und was die Welt damit zu tun hat.
11. April 2023, 08:55 Uhr
Unseren Langzeiterinnerungen können wir sowieso nicht trauen. Und offenbar auch nicht den kurzzeitigen. Eigentlich ist das nicht schlimm: Unser Gehirn möchte schließlich nur ein bisschen effizienter arbeiten. Und konstruiert sich so gern mal eigene Realitäten.
- Unser Gehirn kann falsche Erinnerungen konstruieren
- Und das auch Sekunden nach dem visuellen Reiz
- Das hängt damit zusammen, wie wir die Welt sehen
Bevor wir zum Eigentlichen kommen, tippen Sie mal eben hier – und gleich wieder zumachen, versprochen?
Nennen Sie es eine charmante Hommage an Hollywood – oder eben einfach einen psychologischen Coup, der der Kriminalpsychologin Julia Shaw vor einigen Jahren gelang. Immerhin hat sie es damit in allerlei Münder und Medien geschafft – oder sagen wir besser: In die Erinnerung verblüffter Mitmenschen, vielleicht sogar in deren Langzeitgedächtnis. Ganz sicher vergessen werden sie zumindest ihre Probandinnen und Probanden nicht mehr, denen sie da möglicherweise einen mehr oder weniger großen Schreck eingejagt hat. Als sie ihnen eingetrichtert hatte, sie hätten als Kinder Straftaten begangen. Also jetzt nicht mal eben im Klassenzimmer jemanden ein freches Bein stellen, sondern so richtig schwerwiegende Dinge wie Diebstahl oder sogar Totschlag.
Wer's glaubt, glaubt's wirklich
Julia Shaw muss offenbar sehr überzeugend sein, aber als Psychologin hat sie halt so ihre Tricks: Der erste clevere Schachzug war, bei den Eltern der Versuchspersonen echte Fakten abzufragen – den Wohnort, die beste Jugendfreundschaft oder ein echtes emotionales Erlebnis aus dieser Zeit. Von genau dem sollten auch die Probandinnen und Probanden im Labor erzählen. Anschließend hat ihnen Shaw die angebliche Erinnerung der Eltern an besagte Straftat aufgetischt, hier kamen auch der Jugendfreund oder die Jugendfreundin und der Wohnort ins Spiel.
Auf die Reaktion, was der Quatsch soll, hat Shaw berechnenderweise verständnisvoll reagiert: Sich an negative Ereignisse nicht erinnern zu können, das sei schließlich vollkommen normal. "Sie sollten sich vorstellen, wie es denn gewesen wäre, hätten sie diese Straftat wirklich begangen. Was sie gesehen, gehört, gerochen haben", sagte Julia Shaw in einem Interview mit dem Onlinemagazin Editon F. "Nach drei Treffen innerhalb von drei Wochen haben sie mir dann die Straftat beschrieben, auch, was sie dabei empfunden haben."
Ist das noch Überzeugung oder schon Erinnerung?
Volltreffer. Für siebzig Prozent der Versuchspersonen seien die eingepflanzten Erinnerungen zur eigenen Realität geworden. Ein schlechtes Gewissen hatte Shaw dabei nicht: "Wir pflanzen aus Versehen ganz oft falsche Erinnerungen in unser Gegenüber ein." Aber vielleicht hat sie selbst eine falsche Erinnerung an ihre Studienergebnisse? Diese siebzig Prozent lösten in der Fachwelt zumindest Skepsis aus. Sie hätte etwa nicht zwischen "falscher Erinnerung" und "falscher Überzeugung" unterschieden.
Klar, ist nicht dasselbe: Sie können überzeugt sein, dass Sie damals im Schrebergarten von Mama und Papa ein verdammtes Chaos ausgelöst haben, als sie versehentlich die Fliege auf dem Apfelsaft verschluckt haben, und vor Schreck durch die Rosenbeete getrampelt sind, was wiederum auch nicht sehr angenehm war, weder für Sie, noch für die Rosen. Daran erinnern müssen Sie sich nicht – die Erzählung der Eltern genügt. Und die meinten darin vielleicht eigentlich ihre Schwester, wer weiß das schon so genau, nach alle den Jahren.
In einer Fachzeitschrift gab es unter Beteiligung von Julia Shaw schließlich eine Diskussion, wie die Erinnerung nun wissenschaftlich zu kodieren sei und ob ein deutlich geringerer Wert von nicht mal einem Drittel nicht realistischer sei. Für solche Diskurse sind Fachzeitschriften auch da, aber eigentlich ist das an dieser Stelle auch egal. Denn fest steht: Bei unserer Erinnerung sollten wir in der Regel ein Portiönchen Skepsis walten lassen. Vielleicht noch mehr, als uns das bisher klar ist?
Schubladendenken – Teil 1: Gedächtnis
Die angebliche Straftat im Jugendalter, die Fliege auf dem Apfelsaft, samt Stampede durchs Rosenbeet – das sind so Dinge, die in unserem Gehirn eine klare Schublade haben: das Langzeitgedächtnis, die Akten unseres Lebens sozusagen. Okay, im Aktenschrank kommt eben mal was durcheinander. Einfacher scheint es beim Pendant für die Gegenwart zu sein, dem Kurzzeitgedächtnis: Die Erinnerung an die vergangenen Sekunden scheint in trockenen Tüchern, an ihr gibt's nichts zu rütteln. Tja, wenn da Marte Otten von der Uni Amsterdam nicht wäre. Denn die Verhaltensforscherin und ihr Team glaubten offenbar nicht so recht an die Untrüglichkeit des Kurzzeitgedächtnisses.
Es gibt im Übrigen gar nicht dieses eine Kurzzeitgedächtnis, im Alltagsschnack vielleicht, aber zumindest ist die Forschung da ein bisschen weiter. Sie kennt zum Beispiel das ikonische Gedächtnis, das extrem kurzlebig ist – Dinge werden bis zu einer halben Sekunde festgehalten. Und dann das Arbeitsgedächtnis mit längerer Speicherdauer ab vier Sekunden. Allerdings kann das nur die legendären sieben Dinge – besser gesagt: Informationseinheiten – gleichzeitig behalten, beschrieben mit der sogenannten Millerschen Zahl.
Forschende legen inzwischen nahe, dass auch ein sogenanntes fragiles Gedächtnis existiert. Wie beim Arbeitsgedächtnis mit mindestens vier Sekunden Speicherdauer, aber einer Kapazität von bis zu 14 Informationseinheiten. Und einer Einschränkung, der Name verrät's: eine gewisse Anfälligkeit für falsche Erinnerungen, Illusionen. Zum Beispiel, dass Sie sich ganz sicher sind, dass Ihr Smartphone heute in den Aktenkoffer gewandert ist, obwohl es noch auf dem Schuhschrank liegt. Solche Illusionen sind von Gedächtnislücken zu unterscheiden. Den im Falle einer Gedächtnislücke wären Sie ratlos, was den Verbleib des Telefons betrifft und Ihnen käme weder der Aktenkoffer noch der Schuhschrank in den Sinn.
Schubladendenken – Teil 2: Weltwissen
Vielleicht aber doch. Dann nämlich, wenn Sie das Smartphone meistens am Schuhschrank ablegen. Die Macht der Gewohnheit ist in diesem Fall sowas wie das Füllmittel für Ihre Gedächtnislücke. Und ein guter Grund, darüber nachzudenken, was die gewohnten Dinge noch so mit unserem Gedächtnis anstellen. Besagte Marte Otten und ihre Forschungsgruppe nennen diese gewohnten Dinge "Weltwissen".
Kommen wir noch mal zu dem, was Sie am Anfang dieses Textes gesehen haben. Ja, also was haben Sie eigentlich gesehen?
Sicher erinnern Sie sich. Und die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass Sie sich richtig erinnern. Oder eher nicht? Besser noch mal kurz nachdenken, um nicht dem trügerischen Schein der Erinnerung zu unterliegen? Na dann, lösen wir auf:
Sie haben …
… ein gespiegeltes C gesehen (Ɔ).
Wenn Sie daneben lagen: Machen Sie sich nichts draus, das ist schon ganz anderen passiert (Marte Ottens Versuchspersonen nämlich). Wenn Sie nur ein bisschen gezögert haben oder ganz und gar richtig lagen: Bilden Sie sich bloß nichts drauf ein, in einer wissenschaftlichen Versuchsumgebung hätte das vielleicht ganz anders ausgesehen.
Effizient – und fehleranfällig
Das legt zumindest die Untersuchung nahe, die Marten Ottes Amsterdamer Forschungsgruppe jetzt angestellt hat. Die hat vermutet, dass unsere Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis zumindest zum Teil durch Weltwissen geformt sind, also "vorherige Erwartungen über wahrscheinliche Ereignisse oder Objekte, die auf lebenslangem Lernen und Entwicklung basieren". Sie können sich dieses Weltwissen als eine Art Effizienz-Upgrade für unser Langzeitgedächtnis vorstellen. Auf diese Weise ist es für das Gehirn einfacher, vergangene Beobachtungen zu rekonstruieren.
Und welches Weltwissen wäre denn naheliegender als das ABC? "In diesem Fall beziehen sich die relevanten Erwartungen auf eine stark überlernte Kategorie von visuellen Symbolen, nämlich Buchstaben des Alphabets", schreiben die Forschenden. Überlernt, uiuiui, klingt vielversprechend. Aber schon richtig: Diese 26 Zeichen (Umlaute und ß nicht vergessen) sind spätestens seit der Schulreife gewissermaßen mit unserer DNA verwachsen. In verschiedenen Experimenten wurden den Versuchspersonen Buchstaben gezeigt, an die sie sich kurze Zeit später erinnern sollten.
Der Kniff: So wie in unserem Fall zu Beginn dieses Textes, waren einige Buchstaben gar keine Buchstaben, sondern falsch herum dargestellt. Interessanterweise konnte dieses Manko die Probandinnen und Probanden nicht durchweg überzeugen, sie glaubten im großen Umfang, die richtigen Buchstaben gesehen zu haben: "lllusorische Erinnerungen machen fast zwanzig Prozent der Berichte aus, wenn das Gedächtnis bei 500 Millisekunden abgefragt wird", schreiben die Forschenden. Nach drei Sekunden sind sogar dreißig Prozent Illusion.
Nicht immer alles wortwörtlich nehmen
Während die Erinnerung an fälschlicherweise richtige Buchstaben – also die Erinnerung an ein C statt an das tatsächlich gezeigte Ɔ – ein Selbstläufer war, war eine umgekehrte Erinnerung im Grunde kein Thema. Die Forschenden schließen daraus, dass der Grund für die falsche Erinnerung nicht an der ähnlichen Ästhetik liegen kann. Sondern das Weltwissen für das Malheur im Kurzzeitgedächtnis verantwortlich ist. Denn richtige Buchstaben sind wir gewohnt, wir kämen also nicht auf die Idee, dass wir ein spiegelverkehrtes C gesehen haben, außer dieses spiegelverkehrte C ist ein grundlegender Bestandteil unseres alltäglichen Lebens.
Eine biologische Erklärung könnte den Forschenden zufolge die sogenannte Fuzzy-Trace-Theorie (FTT) sein, also die Theorie der unscharfen Spur. Sie besagt, dass unser Gedächtnis aus zwei Teilen besteht: Dem wortwörtlichen Teil und dem Kernteil, in dem die Bedeutung einer Sache gespeichert wird. "Es ist möglich, dass die wörtliche Repräsentation des visuellen Inputs der physische Pseudo-Buchstabe ist [Anm.: der spiegelverkehrte], und dass der hochrangige Inhalt, der gespeichert wird, so etwas wie "Buchstabe" und "gespiegelt" ist", schreiben die Forschenden. "Bei einer solchen Repräsentation ist es möglich, dass der "Buchstaben"-Gedanke stärker ist als der "gespiegelte" Gedanke und daher länger überlebt."
Allerdings sage diese Theorie voraus, dass eine hohe Ähnlichkeit zwischen einem Ziel und seinem gespiegelten Gegenstück falsche Erinnerungen hemmen sollte – mit den vorliegenden Daten würde das aber nicht übereinstimmen. "Daher scheint es, dass die FTT das Auftreten dieser Art von Gedächtnistäuschungen im STM [Kurzzeitgedächtnis] nicht genau erklären kann."
Das Problem mit dem Erinnerungskarussell
Zumindest eines ist für die Forschungsgruppe klar: "Es scheint also, dass das Kurzzeitgedächtnis nicht immer eine genaue Darstellung dessen ist, was gerade wahrgenommen wurde", schreiben sie. "Stattdessen wird das Gedächtnis bereits bei der Bildung der ersten Gedächtnisspur von dem geprägt, was wir zu sehen erwarten."
Zu sehen, was wir erwarten zu sehen, ohne es wirklich gesehen zu haben – das ist ein Problem, oder kann zumindest zu einem werden. Unabhängig davon, ob das Weltwissen dran schuld ist oder uns eine findige Kriminalpsychologin eine vollkommen falsche Erinnerung eingetrichtert hat. Viel sinnbringender erscheint es da, die falschen Erinnerungen zu erkennen – und zwar von außen. Ein paar Jahre nach ihrem beachtlichen Experiment wollte Julia Shaw wissen, ob Menschen in der Lage sind, zu erkennen, wann Studierende von echten und wann von falschen Erinnerungen sprechen. Sie stellte fest, dass Außenstehende dabei nicht pfiffiger als der Zufall sind.
Gerade vor Gericht ist das eine ungünstige Gemengelage. "Zeugenaussagen sind problematisch, weil sich falsche Erinnerungen einschleichen können. Man ist sich dessen aber nicht bewusst. In einem Prozess können dadurch Unschuldige verurteilt werden", sagt Shaw im Interview mit Edition F. Besonders schwierig wird es, wenn potenziell Schuldigen bei der Vernehmung eine falsche Erinnerung untergeschoben wird, an die sie schließlich selbst glauben. "Ich möchte, dass Juristen, Anwälte und Richter verstehen, dass man seinen Erinnerungen nicht trauen kann und dass man sogar die eigenen falschen und echten Erinnerungen nicht unterscheiden kann", so Shaw. "Eine falsche Erinnerung ist aber nicht dasselbe wie eine Lüge."
Achtsam, bitte!
Sind wir unserem Gedächtnis und seinem Erinnerungsjahrmarkt also schutzlos ausgeliefert? Irgendwie ja, irgendwie nein. Achtsamkeit ist zumindest schon mal ein guter Weg, die Erinnerungen auf den rechten Pfad zu lenken. Das Smartphone mit vollem Bewusstsein auf das Schuhschränkchen zu legen, oder nach Bedarf in den Aktenkoffer, könnte schon mal ein guter Anfang sein.
Oder diese Übung, mit ein paar munteren Menschen beim Ballspiel – zählen Sie bitte die Pässe des Teams in weiß:
Und danach tippen Sie hier und beantworten diese Frage:
Erinnern Sie sich an den Gorilla?
Nein?
Ab Sekunde 23.