Berufsplanung Warum fehlen Frauen in MINT-Fächern? Und warum merken Frauen das auf der Toilette?
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17. Oktober 2022, 08:37 Uhr
Physik, Chemie, Technik: Junge Frauen finden die Fächer sehr spannend, zeigt eine Untersuchung der IU Internationale Hochschule. Am Ende studieren die meisten aber doch was anderes. Oder wenn sie MINT-Fächer studieren, steigen später 90 Prozent aus den Berufen wieder aus. Was ist da los?
Der Sommer hat sich ausgetrudelt, die Universitäten und Hochschulen füllen sich so langsam wieder, und in den MINT-Studiengängen tummeln sich immer dieselben nicht: junge Frauen. Aber warum eigentlich? Schließlich finden immerhin 70 Prozent der Mädchen Physik, Chemie, Biologie und Mathematik-Informatik spannend? Das jedenfalls zeigt eine aktuelle Studie der IU Internationale Hochschule. Die Untersuchung "MINT-Bildung. Was junge Frauen darüber denken" wollte herausfinden, warum Mädchen die Fächer einerseits spannend finden, aber nicht studieren. 800 Mädchen wurden befragt. "Das Interesse ist bei 70 Prozent der Mädchen durchaus sehr groß, und gleichzeitig sehen über 40 Prozent der Mädchen große Hürden für sich selbst, in so einen Bereich zu gehen," schildert Prof. Dr. Sibylle Kunz, selbst Wirtschafts- und Medieninformatikerin, eines der Ergebnisse.
Abschreck-Faktor 1: Schlechte Vorbereitung in der Schule
Und was sind das für Hürden, die Mädchen zurückschrecken lassen? "Zum einen, dass sie sich durch die Schule nicht hinreichend auf ein Studium in diesen Fächern vorbereitet fühlen. Da führt am ehesten die Biologie. Die Mädchen sagen, 'da fühlen wir uns noch am sichersten', Chemie und Physik kommen noch vor Informatik, am Schluss Technik," weiß Sibylle Kunz.
Kurios, alle Kinder werden in den Schulen aber doch mit dem gleichen Wissens-Korn gefüttert, Mädchen fühlen sich danach offenbar nicht "satt", sondern ungenügend vorbereitet, Jungen dagegen schon? Klemmt es hier nur im Unterricht und bei denen, die unterrichten? Fast die Hälfte der befragten Schülerinnen nannte der Untersuchung zufolge Langeweile und langweiliges Lehrpersonal als Grund für Desinteresse an den Fächern. Ein Drittel sagte auch, die Inhalte seien zu kompliziert. Aber vielleicht ist es auch eine Frage des Selbstbewusstseins. "Frauen stellen ihr Licht eher unter den Scheffel", weiß Sibylle Kunz aus der Arbeit in der Erwachsenenbildung.
Abschreck-Faktor 2 und 3: Stolz und Vorurteil
Ein weiterer Grund, warum Mädchen MINT-Fächer meiden, sind Umwelteinflüsse, sagt Medieninformatikerin Kunz und beschreibt einige Antworten der Mädchen: "Was denken die anderen von mir, wenn ich das gut finde, was denken die Mädchen untereinander?" Eine weitere Rolle spielen Vorurteile: "Ich will kein Nerd sein." Und auch Vorurteile verhindern Kunz zufolge, sich für ein MINT-Studium einzuschreiben: "Das Bild des typischen Informatikers ist einfach keine erstrebenswerte Identifikations-Figur."
Abschreck-Faktor 4: Fehlende Identifikationsfiguren
Apropos Identifikation. Meine Tochter will Zahnärztin werden, weil sie nur Zahnärztinnen kennt; im Weltbild meiner Söhne sind Ärzte Ärztinnen. Raten Sie mal, warum.
Oder wie Prof. Kunz sagt: "Es fehlen ganz klar Vorbilder in der Familie. Nur ganz wenige haben Vorbilder, die wirklich in Berufen arbeiten. Und wenn, dann eher männliche Vorbilder bei Familien, Verwandten, Freunden." Ein Prinzip, das übrigens auch umgekehrt greift: In der Psychologie beispielsweise fehlen die Männer, was insofern schade ist, weil männliche Patienten bei mehr männlichen Therapeuten dann tatsächlich die Wahl hätten, ob sie zu einem Mann oder einer Frau in Therapie gehen.
An der IU haben sich inzwischen zwölf Professorinnen aus IT und Wirtschaft zusammengetan, um das Phänomen der fehlenden MINT-Affinität bei Frauen weiter zu erforschen. So fungieren sie im Rahmen einer rein weiblich besetzten Ringvorlesung für Schülerinnen selbst als Rollenvorbilder.
Kritische Momente in der Schule
"Damit das klar ist, die Mädchen haben sowieso die vier." Erste Stunde im Grundkurs Chemie, an einem Gymnasium in den 80er-Jahren."
"Für ein Mädchen wäre die Antwort ok gewesen, aber von Dir hätte ich sowas nicht erwartet": Physikunterricht, Klasse 10 an einem Leipziger Gymnasium, 2021.
Auch Prof. Kunz hatte einen solchen Pädagogen in der Oberstufe im Matheleistungskurs: "Mädchen lernen nur auswendig und die Jungs haben das Verständnis von Natur aus,' sagte der.'" Das sei zwar lange her, aber die Antworten der Mädchen auf die Frage nach demotivierenden Momenten lesen sich in der Untersuchung heute ganz ähnlich: "Du verstehst das einfach nicht!" –"Du hast doch einen schlauen Taschenrechner, der kann das doch, warum kannst du damit nicht umgehen?" Hier wollen Kunz und ihr Team in Zukunft noch genauer hinschauen." Denn: "Obwohl Mädchen und Jungs die gleichen Voraussetzungen haben, obwohl Mädchen nachweislich gut in den Naturwissenschaften sind und dieses Problem im sehr frühem Lebensalter, in der Grundschule noch nicht besteht. Irgendwo in dieser Pubertätsphase oder dann in der Phase kurz vor der Studienwahl, verlieren wir sie."
Der Blickwinkel in die Zukunft entscheidet mit
Sibylle Kunz zufolge denken die Mädchen, dass ein Studium sehr anstrengend und sehr lernintensiv ist, sodass wenig Zeit bleibt, um sich ein Studium nebenbei zu finanzieren: "Das hat uns geschockt, dass hier nicht vom Ende her gedacht wird, vom Berufsfeld und den Zukunftsaussichten, sondern vom Anfang her." Schließlich sind Berufe im MINT-Bereich gut bezahlt. Dem Institut für deutsche Wirtschaft (IW) zufolge verdienen Absolventen und Absolventinnen der Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft oder Maschinenbau im Durchschnitt 15 Prozent mehr als Leute, die andere Fachrichtungen studiert haben. Und tatsächlich scheinen viele Frauen und Mädchen den Aspekt Geld eher als Hinderungsgrund zu sehen statt als Motivationsfaktor, wie Professor Kunz verdeutlicht: "Mädchen planen anders. Die denken vom Geld her, 'das habe ich nicht, dann mache ich es nicht'." Eine Studie aus Bamberg von 2022 ebenfalls zum Thema Fächerwahl junger Menschen zeigte genau das: Für die jungen Männer war der Wunsch nach einem hohen Einkommen größer als für Frauen, was dazu führt, dass Jungen eher ein MINT-Studienfach wählen als Frauen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist einer Studie der Uni Bamberg zufolge aus dem Jahr 2020 dagegen ein Fakt, der junge Frauen beeinflusst, junge Männer dagegen nicht.
MINT-Berufe und Familie: Geht das überhaupt?
Sind MINT-Berufe tatsächlich so wenig familientauglich? Sibylle Kunz, selbst zweifache Mutter und nach eigenen Angaben immer berufstätig, auch in den ersten drei Lebensjahren der Kinder, flexiblen Arbeitszeiten sei Dank, bejaht das. "MINT-Berufe sind prädestiniert für flexibles Arbeiten," sagt die Professorin, Frauen könnten sich Stellen teilen, die eine vormittags, die andere nachmittags. Das impliziert zwar das Stereotyp, dass MINT-Frauen die häusliche, unbezahlte Care-Arbeit mit ihrem Beruf kombinieren, nicht aber MINT-Männer. Aber das wiederum ist eine andere Debatte. Fakt ist aber, wie Informatikerin Kunz weiß: "Nach dem Studium, wenn die Frauen in den 40ern sind, verlieren wir erschreckenderweise etwa 90 Prozent von ihnen aus Tech-Berufen und MINT-Karrieren. Man weiß noch nicht so genau, warum. Einige machen sich selbständig, einige verlassen die Branche komplett. Aber die Gründe dafür müssen wir noch erforschen."
Weitere Ursachen für die Entscheidung gegen MINT-Fächer
Das Bamberger Forschungsteam hatte eine weitere, andere Erklärung für die Entscheidung von Mädchen gegen MINT-Studiengänge gefunden. Frauen wählten demnach seltener MINT-Fächer als Männer, weil sie vergleichsweise bessere Noten in Deutsch als in Mathematik hatten und sich in ihrem Fächerwahlverhalten an dem orientieren, worin sie sich selbst als stärker einschätzen. Hier könnte die Schule nachhelfen, indem die Lehrkräfte die Kompetenzen von Mädchen und jungen Frauen im Fach Mathematik stärker betonen würden, schlug das Bamberger Forschungsteam vor.
Was helfen würde: Durchgängiger Informatikunterricht ab Klasse 5
Was würde denn richtig gut vorbereiten? "Zum Beispiel Informatikunterricht, durchgängig ab Klasse 5", sagt Medieninformatikerin Sibylle Kunz und setzt nach: "Und zwar Informatikunterricht, der seinen Namen auch verdient. Der sich nicht auf reines Anwendungswissen beschränkt, also den Umgang mit Excel, Powerpoint und Word vermittelt. Informatikunterricht sollte zeigen, wo überall Informatik drin ist, wie funktioniert algorithmisches, also problemlösendes Denken. Wie löse ich ein Problem und löse strukturell? Das ist eine der wichtigsten Eigenschaften." Und genauso wichtig; sagt die Medieninformatikerin: "Informatikunterricht sollte sich nicht auf Programmieren lernen reduzieren. Er sollte auch die Anwendungen, die Mensch-Maschine-Interaktion zeigen und die Entwicklungsmöglichkeiten in der Zukunft."
Warum brauchen wir eigentlich Frauen in MINT-Berufen?
"Ein klassisches Beispiel sind die Algorithmen im Bereich künstliche Intelligenz, die beispielsweise bei der Bewerber-Vorauswahl helfen", erzählt Sibylle Kunz und verweist auf den "Klassiker", dass eine KI bei Amazon auf die Bewerber-Vorauswahl trainiert war, anhand der aktuell eingestellten Mitarbeiter. "Das hat dazu geführt, dass der Algorithmus gedacht hat, 'männlich ist ein Erfolg versprechendes Kriterium'. Also stelle ich eher männliche Bewerber ein."
Wann merken wir dass Frauen in MINT-Berufen fehlen? Auf der Toilette!
Was wiederum dazu führt, dass Frauen nicht, oder nur am Rande mitgedacht werden, sozusagen die "Abweichung von der männlichen Norm". Zum Beispiel in der Architektur. Im MDR in Leipzig gibt es Gebäude, in denen die Toilette kombiniert ist mit der Teeküche. Die auf wundersame Weise im Frauentoiletten-Bereich angesiedelt ist. Oder im MDR Hochhaus: Als Mann trifft man hier auf allen Etagen auf großzügige Räume mit fünf Entleerungsgelegenheiten, Frauen haben drei Toiletten. Dass die Waschbecken in einem Vorraum schlecht aufgehoben sind, wissen Menstruierende schon lange, spätestens seit Erfindung der Menstruationstasse, die man dann von einem Räumchen ins andere tragen muss. Oder bestenfalls mit blutigen Fingern von einem Raum in den anderen huschen müssen und hoffen, dass sie allein am Waschbecken sind. Abgesehen davon, dass Frauen in Mittagspausen unfreiwillig viel Zeit auf Toiletten verbringen, einfach weil weniger Toiletten da sind. Aber was hat das nun mit Frauen in MINT-Fächern zu tun? Ach ja. Die Architekten dieses MDR-Gebäudes waren zwei Männer, Gunther Staak und Prof. Hans Struhk. Und was haben die MDR-Toiletten jetzt noch mal mit MINT-Berufen zu tun? Wo Frauen nicht anwesend sind, werden sie nicht mitgedacht.
Links/Studien
Hier lesen Sie die Forschungsergebnisse der Studie aus Bamberg. Hier lesen Sie das Whitepaper der IUBH International Hochschule.