Wissen, was wir lesen Unsichtbare Frauen
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30. August 2020, 15:00 Uhr
Ein Buch über das Versagen der Wissenschaft. Dann, wenn Daten die Hälfte der Weltbevölkerung ignorieren. Doch genau das passiert jeden Tag, beim Schneeräumen, in der Medizin, im Nahverkehr. Eine Pflichtlektüre für den Beginn einer besseren Menschheit, findet Florian Zinner.
Worum geht es?
Darum, dass 3,8 Milliarden Menschen auf der Welt ignoriert werden, mindestens. Steht ja auch vorne drauf. Es ist nicht ganz so schlimm, aber fast und vor allem schlimmer als gedacht. Das Buch zeigt: von Gleichberechtigung fehlt jede Spur – aller, mal guten, mal gut gemeinten Bemühungen zum Trotz. Das Buch zeigt, dass es nicht nur darum geht, die Gehälter von Frauen auf das Niveau von Männern zu bringen oder dass Papi sich auch mal Elternzeit nimmt. Es illustriert viel mehr den Teufelskreis in einer von Männern gestalteten Welt, der sich in der Sprache, in der Stadt- und Toilettenplanung, im Gesundheitswesen wie im sexistischen Schneeräumen (richtig gelesen!) widerspiegelt. Es geht darum, dass Frauen beim Klavierspielen das Nachsehen haben (weil die Klaviatur sich an Männerhänden orientiert) und darum, dass ihre Arbeit vielfach unbezahlt bleibt. Das Buch handelt davon, dass Herzinfarkte bei Frauen oft nicht erkannt werden, weil die geläufigen Symptome schlichtweg männlicher Natur sind. Das Buch handelt von einer Gesellschaft, deren Gleichberechtigungsbemühungen auf der Grundlage von Daten über Männer geschaffen werden. Für alle, die ein Fachwort hören wollen: Gender Data Gap (Geschlechtspezifische Datenlücke). Und es handelt davon, dass Gleichberechtigung nicht dadurch entsteht, das Wörtchen Geschlecht zu ignorieren.
Wie schafft es das Buch, mich zu fesseln?
Dadurch, dass Widerspruch zwecklos ist. Caroline Criado-Perez zündet ein Faktenfeuerwerk und liefert einen Quellen-Anhang, der ein Siebtel des Buches ausmacht. Denn was hier fesselt, ist kein Manifest voller Weltschmerz, sondern eine Sammlung ungemütlicher, belegter Fakten, bei denen die Kopp-in-Sand-Taktik schier aussichtslos ist. Stattdessen ist das Buch die Chance, ein besserer Mensch zu werden. Das gilt vor allem für Männer, aber auch für Frauen. Möglicherweise aber vor allem auch für männliche Feministen, die glauben, dass alles ganz einfach ist mit der Gleichberechtigung. Pustekuchen. In einer Welt, die auf Daten zurückgreift, deren Grundlage das männliche Geschlecht bildet, ist eben nichts einfach.
Wer hat's geschrieben?
Caroline Criado-Perez ist keine, die mal eben aus der Versenkung springt und eine unbequeme 500-Seiten-Lektüre auf den Tisch knallt. Criado-Perez ist eine bekannte britische Journalistin und Aktivistin – und ganz nebenbei Trägerin des britischen Ritterordens. Eine Frau, die leider schon einiges einstecken musste, aber glücklicherweise auch einiges bewegt hat. Caroline Criado-Perez war es im Übrigen auch, die verhindert hat, dass auf britischen Banknoten künftig nur noch Männer zu finden sind.
Wie ist es geschrieben?
Ganz schön unaufgeregt für ein Thema, bei dem ein bisschen Aufregung nur verständlich wäre. Die Autorin klagt nicht an, die Anklage entsteht – wenn alles klappt – im Kopf der Lesenden, ganz von alleine. Sie liefert nüchterne Fakten in schnörkelloser und verständlicher Sprache. Das macht das Buch umso sympathischer und dürfte mit seiner leisen, eindringlichen Art unterm Strich wirkungsvoller sein als lautstarker Aktivismus.
Bereits im Vorwort erklärt die Autorin, was es mit dem emotional aufgeladenen Thema der gendergerechten Sprache auf sich hat – und was passiert, wenn einem die Sprache wurscht ist und bleibt. Auch hier wieder: Widerspruch zwecklos. Wünschenswert wäre dann allerdings gewesen, diese Erkenntnis konsequenter in die deutsche Übersetzung des Buches einfließen zu lassen, die leider nicht durchgängig genderneutral bzw. -gerecht verfasst ist.
Was bleibt hängen?
Dass es die Männer teilweise gar nicht böse meinen, sie aber selbst ein Opfer der patriarchalen Gesellschaft sind und Dinge vielleicht gar nicht besser wissen können, diese aber entscheiden – ein Kernproblem. Und, noch mal, die Sache mit den Toiletten: Wenn die für Männer und Frauen gleich groß und gleich viel vorhanden sind, sieht auf dem Papier alles gleichberechtigt aus. Klingt prima, isses aber nicht: Denn Frauen brauchen mehr Zeit auf der Toilette. Aus biologischen Gründen und deshalb, weil sie häufiger Kinder und eingeschränkte Menschen dorthin begleiten. Und dass sie das machen, davon profitiert die Gesellschaft ungemein. Auch in diesem Punkt spart die Autorin nicht mit Folge-Fakten: Die systematische Benachteiligung von Frauen und die Gender Data Gap betreffen in ihren Konsequenzen die ganze Gesellschaft, auch die Männer.
Was hängenbleibt: Ich fühle mich schlecht, ich muss umdenken, ich muss handeln. Welch Privileg.
Der Rezensent Florian Zinner besaß als Kind ein Laienmikroskop mit Zubehör sowie die Gesamtausgabe von "Alles was ich wissen will" – also Band 1 und 2. Seitdem weiß er vor allem alles was er wissen will – und: dass die Antworten meistens kompliziert sind.
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