Klima und Meeresökologie Zähe marine Hitzwellen: Der Klimawandel hat den Rand der Tiefsee erreicht
Hauptinhalt
30. September 2023, 05:53 Uhr
Die Häufigkeit und Dauer von Hitzewellen im Meer haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Forschende zeigen jetzt: Besonders heftig fallen sie dort aus, wo bisher niemand hingeschaut hat. Das heißt: Der Klimawandel ist dort angekommen, wo die Tiefsee beginnt. Und das hat Folgen.
- Marine Hitzewellen sind besonders in tieferen Ozeanschichten problematisch, werden bisher aber kaum beachtet
- Meereslebewesen können teilweise nicht flüchten und Ökosysteme Schaden nehmen
- Die Folgen bekommen auch Menschen zu spüren
Je größer der Dunst, desto weniger Dunst, könnte man sagen. Die Tiefsee ist für die Menschheit weitestgehend Terra Inkognita. Im Gegensatz zum Weltraum können wir in die Tiefen der Ozeane nicht einfach reingucken. Das macht die lichtlosen Gewässer auch so anfällig für sträfliche Vernachlässigung. "So tief, wie die Meere sind, kann man ausrechnen, dass neunzig Prozent des belebten Raumes der Erde der Tiefsee gehört", sagt die renommierte Meeresbiologin und Tiefseeforscherin Antje Boetius. "Und wir haben noch nicht mal ein Promille davon untersucht. Leider sehen wir auch, dass unsere menschlichen Handlungen Spuren hinterlassen."
Damit meint Boetius nicht nur die Überfischung und die Einleitung von Stoffen, die im Meer nichts zu suchen haben, leere Duschbadflaschen zum Beispiel oder in Kleinstteile zerbröselter Plastikmüll. Sondern auch den Klimawandel. Sprechen wir von den Auswirkungen der Erderwärmung auf die Weltmeere, dann geht es uns im Grunde um zwei Dinge: Das Schmelzen der Polkappen und der Anstieg des Meeresspiegels zum einen und die Oberflächentemperatur der Meere zum anderen. Während in diesem Jahr abermals Hitzewellen an Land tobten – zum Beispiel in Südeuropa –, spielte sich auch auf den Meeresoberflächen Hitzewellen ab: Im Nordatlantik und Mittelmeer hat das Wasser in diesem Nordhalbkugelsommer Rekordtemperaturen erreicht.
Marine Hitzewellen: Vor allem an der Meeresoberfläche dokumentiert
Das sind die Hitzewellen, die gut dokumentiert ihren Weg in die Schlagzeilen gefunden haben, weil wir sie verhältnismäßig einfach messen können und beim Bad an den Stränden der iberischen Halbinsel mitunter auch spüren. Aber nur etwas unterhalb der Badetiefe, schon in vierzig Metern, sei eine regelmäßige Überwachung der Meeresökologie schwierig und anstrengend. "Mit zunehmender Tiefe nimmt diese Schwierigkeit exponentiell zu", sagte Diego Kersting dem Science Media Center. Der deutsch-spanische Meeresökologe und derzeit Gastwissenschaftler am Institut für Geologische Wissenschaften der FU Berlin war in der Vergangenheit an Studien beteiligt, die Massensterben im Mittelmeer dokumentiert haben, bedingt durch marine Hitzewellen. Eindeutige Daten, aber nur solche nah an der Oberfläche. "Ich spreche dabei nicht nur von der biologischen Überwachung, also der Überwachung der Sterblichkeit, sondern auch von der Überwachung der physikalisch-chemischen Parameter – zum Beispiel der Temperatur –, die für die Erkennung von Veränderungen und deren Verknüpfung mit biologischen Auswirkungen auf lokaler Ebene unerlässlich sind."
Ein internationales Forschungsteam wollte weder weiterhin an der Meeresoberfläche kratzen noch bei vierzig Metern darunter aufhören. Im Fachblatt Nature Climate Change ist Mitte September erstmals eine Studie erschienen, die sich mit den Auswirkungen mariner Hitzewellen auseinandersetzt, sowohl im Flachwasser als auch in der Tiefsee. Das Team hat Tiefen bis 2000 Meter ins Visier genommen und Daten zu marinen Hitzewellen von 1993 bis 2019 ausgewertet. Den Forschenden zufolge war die höchste Hitzewellenintensität nicht an der Oberfläche zu verzeichnen, sondern in 50 bis 250 Metern Tiefe: Also in der gesamten Flachsee und im Übergang zur Tiefsee. (Als Tiefsee werden gemeinhin Meerestiefen ab 200 Metern bezeichnet.) Obwohl die Intensität dieser Hitzewellen mit zunehmender Tiefe abnimmt, nimmt die Dauer der Ereignisse im Vergleich zur Oberfläche um das Zweifache zu.
Organismen, die in tieferen Gewässern leben, reagieren im Allgemeinen empfindlicher auf die Erwärmung.
Vereinfacht gesagt hat das einen bestimmten Grund: Schon allein Oberflächenwasser reagiert recht träge auf Temperaturänderungen, weshalb einem Bad im noch sommerwarmen Baggersee auch im September nichts im Wege steht, ein 25-Grad-warmer Apriltag aber nur unter Hartgesottenen für Schwimmvergnügen im noch winterkalten Wasser sorgt. Je tiefer, desto langsamer ändert sich die Wassertemperatur; in der Tiefsee ist sie in der Regel das ganze Jahr über gleichbleibend.
Folgen der marinen Hitzewelle für Fische: Können Tiere einfach ins kühle Nass tauchen?
"Organismen, die in tieferen Gewässern leben, reagieren im Allgemeinen empfindlicher auf die Erwärmung, da sie im Vergleich zu Organismen in Oberflächengewässern an stabilere Umweltbedingungen – zum Beispiel Temperatur – angepasst sind", erklärt Diego Kersting. Die Ergebnisse der Studie seien für ihn deshalb "höchst besorgniserregend". Die Sorge scheint berechtigt: Das Forschungsteam hat die Hitzewellendaten mit Biodiversitätsdaten zu den Verbreitungsgebieten von mehr als 25.000 Arten kombiniert und kommt zu dem Schluss, dass die biologische Vielfalt in den oberen 250 Metern am stärksten gefährdet sein könnte.
Was tun also Fische, wenn Sie merken, dass es um sie herum wärmer ist als ihnen auf Dauer gut tun würde? Sie tun das, was auch Menschen tun würden: Sich in kühlere Räume flüchten, zumindest sofern die zur Verfügung stehen. Im Grunde müssen die Tiere, sofern höherer Druck und weniger Licht nicht außerhalb ihrer Komfortzone liegen, einfach in kühlere Tiefen abtauchen. "Fische suchen im Sommer ganz natürlich im tieferen, kühleren Wasser Zuflucht", so Rainer Froese, Ökologe am Geomar in Kiel. Allerdings müssen diese tieferen Stellen dann auch genügend Sauerstoff enthalten, was durch die Überdüngung der Küstenmeere – insbesondere der Ostsee – nicht gegeben ist." Studien, an denen Froese mitgearbeitet hat, zeigen eine Abnahme des gelösten Sauerstoffs um etwa die Hälfte im Vergleich zur Oberfläche bereits unterhalb von zwölf Metern Wassertiefe. "Damit können die Fische nicht mehr normal wachsen und sind zu dünn. An tieferen Stellen sinkt der Sauerstoffgehalt unter den Mindestwert für das Überleben."
Durch den Aspekt der Überdüngung bekommen die aktuellen Erkenntnisse zu marinen Hitzewellen eine noch brisantere Note, aber schon ganz generell geht aus der Untersuchung hervor, dass Fischen nicht immer der Sprung vom warmen ins kühle Nass gelingt. Darauf verweist Sonia Bejarano, Ökologin am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen: "Die Ergebnisse der aktuellen Studie sprechen gegen die Annahme, dass Arten tatsächlich tiefer tauchen können, um einen besseren Lebensraum zu finden, oder dass es sicherer und 'kühler' ist, wenn sie überall tiefer leben."
Marine Hitzewellen gehen endemischen Arten an den Kragen
Besonders problematisch werden marine Hitzewellen dort, wo sie Hotspots mit endemischen Arten bedrohen, so Benjarano. Also Gebiete mit einzigartigen Arten, die in ihrer Funktion durch andere unersetzlich sein können: "Dies sind Gebiete, in denen die Auswirkungen der marinen Hitzewellen und der Verlust von Arten mit hohen Kosten für die Natur, die biologische Vielfalt und das Funktionieren der Ökosysteme verbunden sind."
Generell lässt sich sagen: Marine Hitzewellen sind dort besonders dramatisch, wo Meereslebewesen von Natur aus keinen großen Schwankungen ausgesetzt sind. Sie führen zwar nicht zwangsläufig zum sofortigen Absterben einer Art. Aber durch die Umgebungstemperatur entscheidet sich, ob eine Art funktionsfähig bleibt und sich weiter fortpflanzen kann. Das betrifft nicht nur Fische, sondern auch wirbellose Tiere und Korallen. Dass Warmwasserkorallen von Hitzewellen betroffen sein können, ist bekannt. Sie leben allerdings bis maximal einhundert Meter tief. Anders Kaltwasserkorallen, deren Lebensraum hundert bis tausend Meter tief ist. Für Korallenforschung und -schutz ist es natürlich wichtig, zu wissen, dass auch sie von Hitzewellen betroffen sein können.
Hitzewellen im Meer auch für Menschen problematisch – Störung der Bedingungen an Land
Meeresökologin Sonia Bejarano macht klar, dass durch die marinen Hitzewellen nicht nur die direkt betroffenen Arten ein Problem haben: "Wenn wir auch an die enge Verbindung zwischen Meer und Mensch denken, sind marine Hitzewellen in den Gebieten besonders alarmierend, die die Meeresfischerei erhalten, welche die Ernährungssicherheit in besonders unterernährten Gebieten der Welt unterstützt." Eine Reaktion auf den menschgemachten Klimawandel gibt es also prompt – oder sagen wir: Eine Antwort aus dem Meer zurück an den Menschen, nur eben allzuoft an die falschen. Zudem können marine Hitzewellen auch die atmosphärischen Bedingungen an Land stören, Wochen bis Monate. Bejarano: "Marine Hitzewellen im Nordostpazifik trugen zum Beispiel zu den drei aufeinanderfolgenden trockenen Wintern in Kalifornien zwischen 2011 und 2014 bei. Im Wesentlichen können marine Hitzewellen extreme Wetterereignisse über Land weniger vorhersehbar machen."
Je tiefer es geht, desto deutlicher wird, dass das Leben und Walten da unten von dem Leben und Walten da oben abhängig ist. Klar, eine Welt, in der es durch Lichtmangel keine Photosynthese und damit keine Pflanzen gibt, ist von dem abhängig, was von der Oberfläche Richtung Meeresgrund sinkt. Wenn Algen unter marinen Hitzewellen leiden, wirkt sich das also auch auf das Nahrungsangebot ein paar Stockwerke tiefer aus. "Und das geht ziemlich schnell", sagt Antje Boetius. "Wir waren sehr erstaunt, in unseren Langzeitreihen festzustellen, dass man die Veränderung, die Erwärmung der Meere, auch tatsächlich sofort in einer Veränderung der Tiefseelebewesen erkennen kann." Da hilft dann auch kein kühles Nass mehr.
mit SMC
Links/Studien
Die Studie Marine biodiversity exposed to prolonged and intense subsurface heatwaves erschien im September 2023 in Nature Climate Change.
DOI: 10.1038/s41558-023-01790-6
Dieses Thema im Programm: Drei Minuten Zukunft | 22. Juli 2022 | 15:00 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/6bfd1a80-23b0-4af8-a3df-9a2822f22886 was not found on this server.