Ukraine-Krieg Auf dem Balkan werden alte Ängste wach
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16. März 2022, 14:28 Uhr
Die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren waren ein Trauma für Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina. Die Menschen dort reagieren deshalb besonders feinfühlig, wenn in Europa wieder ein großer Krieg geführt wird. Alte Ängste werden wach, Erinnerungen an Belagerung und Völkermord kommen wieder hoch. Aus diesem Grund ist die Solidarität mit der Ukraine dort besonders groß. Ein Bericht von Gordan Duhaček aus Zagreb.
Meine in Sarajewo lebende Schwester Mirna rief mich vor wenigen Tagen an, nachdem sie in der Stadt eine große Anzahl von EUFOR-Soldaten in Tarnuniformen gesehen hatte. "Es ist schrecklich, all diese Soldaten zu sehen. Was denkst du, wird es wieder Krieg geben?", fragte sie mich, als sie im Nachmittagsstau von Sarajevo steckte. Das ist heutzutage die häufigste Frage in der Region.
Was sind die EUFOR-Truppen? (bitte aufklappen)
Mit der Abkürzung EUFOR werden gemeinsame Militärverbände der Europäischen Union bezeichnet. Sie werden aufgrund eines UN-Mandats in verschiedenen Krisengebieten eingesetzt, um die Sicherheitslage dort zu verbessern oder humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Sie sind mit Soldaten aus verschiedenen Ländern besetzt.
In Bosnien und Herzegowina sind die EUFOR-Truppen seit 2004 im Einsatz. Sie sollen die Umsetzung des Vertrags von Dayton unterstützen und überwachen, der den Bosnienkrieg von 1992-1995 beendete.
So wie meine Schwester, machen sich viele Menschen auf dem Balkan derzeit Gedanken, wie sie einem Krieg entkommen könnten. Meine Schwester hat einen kroatischen Pass und könnte Bosnien und Herzegowina problemlos verlassen. "Aber was ist mit Eldin?", fragte sie mit Blick auf ihren langjährigen Partner, mit dem sie aber nicht verheiratet ist und der keine EU-Staatsbürgerschaft besitzt. Sie erwähnte auch eine Freundin aus der nordbosnischen Stadt Tuzla, die bereits einen Koffer gepackt habe, um aus der Wohnung so schnell wie möglich fliehen zu können.
Ich habe versucht, meine Schwester zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass es in Bosnien und Herzegowina keinen Krieg geben wird – obwohl ich selbst nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, dass es völlig ausgeschlossen ist.
Militärpatrouillen in Bosnien und Herzegowina
Die verstärkte Präsenz der EUFOR-Kräfte auf der Straße und die Überflüge französischer Kampfjets sollen das Gefühl vermitteln, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina keinen Grund zur Sorge haben – doch nach den Reaktionen in den sozialen Netzwerken zu urteilen, wurde damit die gegenteilige Wirkung erzielt.
Der Krieg in der Ukraine hat aber nicht nur in Bosnien und Herzegowina, sondern auch in Kroatien schmerzhafte Erinnerungen an die Jugoslawienkriege in den 1990ern wachgerufen. "Es ist, als wäre ich ins Jahr 1991 zurückgekehrt", sagte Neven Fitnić, ein 44-jähriger Geschäftsmann aus Zagreb, der den Krieg in der Ukraine von Anfang an obsessiv verfolgt.
Erinnerungen an Belagerung und Völkermord
Bilder vom zerbombten Kiew und von langen Flüchtlingskolonnen erinnern ihn und viele andere Kroaten an die Belagerung von Vukovar im Jahr 1991. "Seit Tagen fühle ich mich unwohl. Ich frage mich, ob es einen Atomschlag geben wird", sagte Fitnić, der während des Kroatienkrieges ein Kind war. Er hält den russischen Präsidenten Wladimir Putin für gefährlich und unterstützt die kroatische Hilfe für die Ukraine.
Die Jugoslawienkriege: Wer kämpfte gegen wen? (bitte aufklappen)
Als Jugoslawienkriege oder Balkankriege bezeichnet man eine Serie von militärischen Konflikten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Im Juni 1991 erklärten die jugoslawischen Teilstaaten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Die serbisch dominierte Jugoslawische Volksarmee griff ein, um die Abspaltung zu verhindern. In Slowenien wurden die Kämpfe schnell wieder eingestellt, die Jugoslawische Volksarmee zog sich zurück (sog. Zehn-Tage-Krieg) und Slowenien wurde unabhängig. Dazu trug auch die Tatsache bei, dass es in Slowenien keine nennenswerte serbische Minderheit gab.
In Kroatien, wo die serbische Minderheit deutlich größer war, verschärften sich die ethnischen Konflikte. Außerdem wollte die jugoslawische Bundesregierung Kroatien nicht in seinen alten Grenzen in die Unabhängigkeit entlassen. Zankapfel waren die mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiete, vor allem der sog. Krajina, die man von Kroatien loslösen und dem jugoslawischen Bundesstaat zuschlagen wollte. Die Kämpfe gingen nach einer kurzen Waffenruhe deshalb weiter: auf der einen Seite die kroatische Armee, auf der anderen die Armee der selbsternannten Serbischen Republik Krajina und diverse serbische Freischärler. Die jugoslawische Bundesarmee griff auf Seiten der serbischen Separatisten in den Bürgerkrieg ein. Beide Konfliktparteien verübten Kriegsverbrechen. Der Krieg endete 1995 mit dem Sieg der Kroaten und der Reintegration der Separatistengebiete.
Im März 1992 erklärte auch Bosnien und Herzegowina seine Unabhängigkeit. Hier war die Lage besonders kompliziert, weil es in dieser Teilrepublik drei zahlenmäßig starke Volksgruppen gab, die sich zusätzlich durch ihre Religion unterschieden: die katholischen Kroaten, die orthodoxen Serben und die muslimischen Bosniaken. Traurige Berühmtheit erlangte die Belagerung von Sarajevo, die über den gesamten Zeitraum des Bosnienkrieges andauerte und geschätzt 11.000 Todesopfer forderte. Sie war mit 1.425 Tagen die längste Belagerung im 20. Jahrhundert. Die Luftbrücke zur Versorgung Sarajevos dauerte länger als die Berliner Luftbrücke. Während des Bosnienkrieges wurde auch der Völkermord von Srebrenica verübt. Dabei wurden 1995 mehr als 8.000 überwiegend männliche Bosniaken von Serben ermordet. Den ersten Schritt zur Beendigung des Konflikts bildete eine Einigung der Bosniaken und Kroaten im Jahr 1994. Erst mit dem Dayton-Vertrag von 1995 gelang es, auch die serbischen Bewohner des Landes zu befrieden.
Auch das überwiegend von Albanern bewohnte Kosovo erklärte 1992 seine Unabhängigkeit von Serbien, die aber international nicht anerkannt wurde. Nach einer Phase gewaltlosen Widerstands von Albanern gegen die serbische Obrigkeit kam es ab 1997 vermehrt zu Angriffen der albanischen "Befreiungsarmee des Kosovo" gegen die serbische Polizei. 1999 führte die NATO einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit dem erklärten Ziel, eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern. Im Anschluss an den Krieg wurde der Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt, blieb aber formal Bestandteil der Bundesrepublik Jugoslawien. 2008 erklärte das Kosovo erneut die Unabhängigkeit, die inzwischen von weit mehr als der Hälfte aller Staaten anerkannt ist.
Nach zwei Jahren Pandemie liegen die ohnehin schon strapazierten Nerven der Menschen auf dem Balkan blank. Sowohl in Kroatien als auch in Bosnien und Herzegowina gab es in den Supermärkten Hamsterkäufe. Vor allem Mehl, Öl und Konserven landeten dabei in den Einkaufswagen. "Nur für den Fall der Fälle", lautet die übliche Erklärung. Manche fügen hinzu: "Die Lebensmittelpreise steigen sowieso. Es ist besser, jetzt einzukaufen, solange es billiger ist."
Ukraine: Parallelen zu den Jugoslawienkriegen
Viele Menschen haben außerdem ein Problem mit der These vom "ersten Krieg in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges", die in den westlichen Medien die Runde macht. Die Menschen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina verweisen mit Empörung darauf, dass es hier vor drei Jahrzehnten einen Krieg gab. Und sie sind über den Westen erbittert – denn viele glauben, dass Europa und die USA Anfang der 1990er-Jahre sofort militärisch hätten eingreifen müssen, um den damaligen serbischen Anführer Slobodan Milošević zu stoppen. Sie blicken mit einem gewissen Neid auf die enorme Hilfe, die die Ukraine jetzt bekommt.
Viele vergleichen den Krieg in der Ukraine mit dem "Heimatkrieg", wie der Krieg der 1990er-Jahre hier genannt wird. Die Ukrainer nehmen in dieser Optik dieselbe Rolle ein wie damals die Kroaten, und den russischen Aggressor identifiziert man mit den damaligen Serben und der jugoslawischen Armee.
Große Solidarität mit der Ukraine
Wegen der eigenen Kriegserfahrung ist die Solidarität mit der Ukraine in Kroatien besonders groß. Zwar hat das Land bislang nur einige Tausend ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, man empfängt sie aber mit offenen Armen. Für Kinder aus der Ukraine, die in Zagreb ankamen, wurde beispielsweise ein Besuch im Zoo organisiert, wo ein Mittagessen und Geschenkpäckchen auf die Kleinen warteten. So wollten die Helfer die Gedanken von Kinder von der Tragödie ablenken, die ihnen in der Heimat widerfahren ist.
In den sozialen Medien organisieren die Bürger Kroatiens Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge. Die beliebteste dieser Facebook-Gruppen ist SOS Ukraine – dort haben sich bereits fast 20.000 Menschen versammelt. "Wir haben Leute, die Wasser, Lebensmittel und andere notwendigen Dinge liefern, wir kümmern uns um absolut alles. Seit der Gründung der Gruppe hat sich keiner der sieben Admins um etwas anderes gekümmert", sagte eine Initiatorin der Gruppe, die anonym bleiben wollte, dem Nachrichtenportal Index.
Die Angst bleibt – auch im EU-Land Kroatien
Dass man sich in der Ukraine-Hilfe engagiert, ist vielleicht auch eine Art, mit der eigenen Angst fertig zu werden. Den Beteuerungen des kroatischen Präsidenten Zoran Milanović, es werde sicher keine bewaffneten Konflikte in der Region geben, glauben die meisten Menschen jedenfalls nicht. Mit seiner Pro-Putin-Rhetorik spaltete Milanović schon lange vor dem Ukraine-Krieg die kroatische Gesellschaft. Und erst recht will man ihm im benachbarten Bosnien und Herzegowina nicht glauben, wo er für Empörung sorgte, als er den Völkermord von Srebrenica relativierte.
Das ist nämlich ein weiterer Grund für die Nervosität der Menschen auf dem Westbalkan: Politiker, die das Feuer mit rhetorischem Benzin löschen. "Politiker sagten 1991 in Kroatien, dass es keinen Krieg geben würde. Dann sagten 1992 Politiker in Bosnien, dass es keinen Krieg geben würde. Und wir wissen, was passiert ist", beendete meine Schwester unser Telefonat.
Unser Autor Gordan Duhaček ist politischer Journalist und Kolumnist bei Index.hr, einem der bekanntesten unabhängigen Nachrichtenportale auf den Westbalkan. Gordan Duhaček wurde in Sarajevo geboren, hat in Wien Publizistik studiert und lebt seit Jahren in Zagreb. Bevor er zu Index.hr wechselte, arbeitete er u.a. für den kroatischen Kultsender Radio 101 und das Nachrichtenportal Tportal.hr.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 12. März 2022 | 07:30 Uhr