Plakative Darstellung Trauma im Gehirn
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Psychologie Erben wir die Traumata unserer Eltern?

03. Mai 2020, 10:15 Uhr

"Das haben wir mit der Muttermilch aufgesogen," sagt der Volksmund. Gilt das auch für traumatische Erlebnisse unserer Vorfahren? Welche Spuren hinterlässt das Trauma der Mutter oder des Vaters in unseren Genen? Antworten auf diese Fragen finden Psychologen vor allem bei der Generation, die kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde.

Andreas Dreyer, heute Pfarrer in Niedersachsen, wird Anfang der 1960er-Jahre geboren. Als er vier Jahre alt ist, lassen ihn seine Eltern zum ersten Mal allein zu Hause. Ausgerechnet an diesem Abend gehen die Sirenen. Der kleine Junge reagiert darauf anders als man es erwarten würde.

Ich bin dann wohl von einer Panik erfasst worden und umgehend noch im Schlafanzug aus dem Haus raus gelaufen. Ich bin zu einer steinernen Brücke gelaufen, unter der ich Schutz suchen wollte.

Andreas Dreyer, Pfarrer

Er machte sich also nicht auf die Suche nach seinen Eltern, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Ohne zu wissen warum, sucht der 4-Jährige nicht Schutz bei seinen Eltern. Erst später erfährt Andreas Dreyer, dass sich seine Mutter während des Krieges vor den Bomben genau unter einer solchen Brücke versteckt hat. Als er klein war, hatte sie ihm nie davon erzählt.

Erben wir die Ängste unserer Vorfahren?

Dafür gibt es einen wissenschaftlichen Begriff: epigenetische Vererbung. Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München forscht seit Jahren dazu, welchen Einfluss die Erfahrungen der Eltern auf die Gene ihrer Kinder haben und welche Rolle sie bei deren Entwicklung spielen. Als eine Art Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen bestimmt die Epigenetik mit, unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird. Dabei spielen auch Traumata und Ängste eine Rolle.

Der Hamburger Kindertraumatherapeut Andreas Krüger kennt aus seiner Praxis verschiedene Formen, wie belastende Erfahrungen und Ängste von einer Generation auf die nächste übergehen:

Die erste, am tiefsten greifende Weitergabe ist die epigenetische. Dabei wird vererbt, wie ein Mensch mit Stress umgeht. Auch durch Stress ausgelöste Krankheiten wie eine Posttraumatische Belastungsstörung können von der Mutter aufs Kind übergehen.

Andreas Krüger, Kindertraumatherapeut

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Erwachsenen Verletzungen aus der Vergangenheit verschweigen oder mit den Kindern darüber reden. Man kann Kinder von solchen Dingen nicht fernhalten, sagt die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation Michaela Huber:

Kinder lesen die Körperhaltung ihrer Eltern. Die kriegen alles mit, auch wenn die Erwachsenen nicht darüber reden. Schultern hochziehen in einer Verteidigungshaltung, ein starrer Blick - diese subtilen Signale, die liest ein Kind.

Michaela Huber, Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation
Eine Frau stützt sich auf Ihre Hände und denkt nach
Ängste und Traumata lassen sich vor Kindern nicht verbergen. Sie lesen die Körpersprache der Erwachsenen. Bildrechte: Colourbox.de

Betroffene Kinder entwickeln Symptome, als hätten sie selbst das Leid der Eltern erlebt. Sie fühlen Ängste, innere Leere und Schuld. Sie haben Alpträume und psychosomatische Erkrankungen.

Uni Magdeburg forscht zu Prozessen im Gehirn

Was bei diesen Weitergabeprozessen genau im Gehirn passiert, wollen Biologinnen und Biologen der Uni Magdeburg ergründen. Dazu untersuchen sie Nachkommen von gestressten und nicht gestressten Mäuseweibchen. Biologieprofessorin Anna Katharina Braun hat dabei Folgendes beobachtet:

Die Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen reagieren sehr sensibel, wenn sich die soziale Umwelt ändert. Ein gestresstes Tier muss mit deutlich weniger Verdrahtung zurecht kommen als das nicht gestresste.

Anna Katharina Braun, Biologin
Ein Wurf neugeborener Mäuse
Der Stress ihrer Eltern überträgt sich auch auf junge Mäuse. Bildrechte: imago/blickwinkel

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt ein Forscherteam in Zürich. Um auszuschließen, dass die Stressauswirkungen über den direkten Mutter-Kind-Kontakt übertragen werden, haben sie Mäuseväter gestresst. Nach der Paarung wurden diese Männchen sofort von den nicht gestressten Weibchen getrennt und hatten auch nie Kontakt zu den Nachkommen. Trotzdem zeigen auch diese Jungtiere Veränderungen im Verhalten, in der Hirnstruktur bis hin zu genetischen Veränderungen. Diese sind inzwischen auch beim Menschen nachgewiesen.

Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München untersuchen Wissenschaftler derzeit die Gründe für Störungen in einem Stress-Gen: Traumaerfahrungen in der Kindheit und vererbte Traumata. Direktorin Elisabeth Binder verweist auf Befunde bei Nachkriegskindern:

Veränderungen in ein und demselben Gen zeigen sich auch bei Kindern von Überlebenden des Holocaust. Das heißt, das Trauma kann sowohl einem selbst passieren, als auch in einer vorangegangenen Generation vorhanden gewesen sein.

Elisabeth Binder, Direktorin des MPI für Psychiatrie

Die Wissenschaftler betrachten dazu die Prozesse der Epigenetik. Sie untersuchen die Schalter in der DNA, die Gene an- oder abschalten - als Reaktion auf äußere Einflüsse wie Hunger oder Kriegserlebnisse. Für nachfolgende Generationen kann das gravierende Folgen haben. Hungersnöte haben zum Beispiel noch bei den Enkeln der Betroffenen eine geringere Lebenserwartung bewirkt. Für den Pfarrer Andreas Dreyer erklärt sich so, was ihn als 4-jährigen unter eine schützende Brücke getrieben hat:

Meine Mutter ist die Angst auch den Kriegsjahren vor Bombenalarm nie wieder losgeworden. Und ich habe das sozusagen mit der Muttermilch oder sogar noch vorher aufgenommen.

Andreas Dreyer, Pfarrer

Die Traumata unserer Vorfahren wirken in uns weiter. Die Wissenschaft kann diese Prozesse immer besser erklären und entwickelt erste Behandlungsansätze. Für Elisabeth Bender sind das die Ziele ihrer Forschung:

Eine Möglichkeit ist, für uns negative epigenetische Veränderungen entweder rückgängig zu machen oder positive epigenetische Veränderungen als Gegenspieler zu induzieren.

Elisabeth Bender
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