MDR KLIMA-UPDATE | 11. März 2022 Katalysator Krieg: Warum Putins Angriff Deutschland zur Klimaneutralität zwingt
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11. März 2022, 11:04 Uhr
Putins Krieg in der Ukraine macht überdeutlich: 100 Prozent Stromerzeugung mit Erneuerbaren macht Deutschland nicht nur klimaneutral, sondern auch unabhängig von gefährlichen Regierungen. Bis dahin müssen wir sparen.
Liebe Abonnentinnen und Abonnenten,
seit zwei Wochen und zwei Tagen läuft Russlands Angriff auf die Ukraine. Meine erste Reaktion auf den Einmarsch war pure Fassungslosigkeit, gefolgt von Schock und Angst und Mitgefühl für das Leid, dass Putin den Menschen in der Ukraine und Europa bringt. Und dann kam eine weitere Sorge dazu: Würde nun der Krieg die Klimakrise – die größte Menschheits-Herausforderung unserer Zeit – in den Hintergrund drängen, wie zuvor die Pandemie?
Mit Erstaunen stelle ich inzwischen aber fest: Es passiert wohl genau das Gegenteil. Der Krieg wird zum Katalysator für den Umbau unserer Energieversorgung – er beschleunigt Veränderungen, die schon lange überfällig sind.
Persönliche Bereitschaft zum Energiesparen plötzlich da
Putins Krieg legt schonungslos offen, wie angreifbar wir durch unsere Abhängigkeit von fossiler Energie aus Russland sind. Schmerzhaft wird uns klar, dass wir den Kauf von russischem Gas, Öl und Kohle so schnell wie möglich stoppen müssen, um Putin das Geld für seine Gewalt so gut es geht zu entziehen. Und das ist keine Erkenntnis, zu der nur Experten gelangen, sondern sie scheint mir längst angekommen bei den Menschen in unserem Land.
Plötzlich scheinen viele zum Sparen bereit: Eine sonst schnell frierende Freundin findet es auf einmal kein Problem, tagsüber im Homeoffice warme Kleidung zu tragen, statt die Heizung aufzudrehen. Mit dem Auto zur Arbeit fahrende Kollegen erzählen mir, auf den Autobahnen seien auf einmal die Raser verschwunden, plötzlich fahre niemand mehr schneller als 130 Kilometer pro Stunde. Und wo der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck vor einigen Wochen noch befürchtete, es werde bei einem weiteren Anstieg der Benzin- und Strompreise zu sozialen Unruhen kommen – da trägt laut aktuellen Umfragen eine große Mehrheit mit, wenn es durch die Sanktionen zu spürbaren Verteuerungen kommt.
Erneuerbare Energien befreien uns aus der Abhängigkeit
Werden die Gas- und Öllieferungen aus Russland gestoppt, dann müssen wir uns in Deutschland vor allem einen Notfallplan für den kommenden Herbst und Winter überlegen, wenn unsere Gasvorräte wahrscheinlich aufgebraucht sein werden. In einer Ad-Hoc-Stellungnahme für die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina schreiben Forscher, dass die Bundesrepublik den Ausfall der Lieferungen grundsätzlich verkraften kann. Kurzfristig müsste aber wohl die Verbrennung der Braunkohle verstärkt werden. (So ließe sich etwa in Mitteldeutschland, wo die Kohlekraftwerke auch Fernwärmenetze speisen, die Verknappung von Erdgas beim Heizen verschmerzen).
Langfristig aber helfe nur der radikale Ausbau Erneuerbarer Energien, vor allem aus Wind- und Solarkraft. Bundesfinanzminister Christian Lindner spricht deshalb bereits von "Freiheitsenergien", einen Stopp von Wind und Sonnenschein kann schließlich bislang keine Regierung der Welt verfügen.
Psychologisch sinnvoll: Autofreie Sonntage
Bei einem Expertengespräch des Science Mediacenters haben Wissenschaftler erläutert, welche Reformen jetzt angepackt werden müssen, damit der Umstieg auf eine unabhängige, grüne Energieversorgung funktionieren kann. Die für mich überraschendste Erkenntnis ist die Schlüsselrolle, die unseren Handwerksbetrieben dabei zukommt. Erst wenn die Heizungsbauer und Elektriker verstehen, wie sie zusammenarbeiten müssen, um energieeffiziente Lösungen für die Haustechnik- bei Sanierungen oder Neubauten gemeinsam umsetzen können, erst dann wird es uns gelingen, unsere Häuser und Gebäude wirklich flächendeckend energiesparsam zu machen.
Die Experten glauben, dass auch "autofreie Sonntage", wie es sie in den 1970er-Jahren bereits als Reaktion auf die Ölpreiskrise gab, einen psychologisch guten Effekt haben könnten. Eine solche Aktion würde uns daran erinnern, dass Energiesparen eine Gemeinschaftsaufgabe ist. So könnten wir durch kollektives Sparen beim Heizen in Europa eine riesige Menge russisches Gas verzichtbar machen. Experten der Internationalen Energie Agentur (IEA) haben vorgerechnet: Durch ein Grad kältere Heizungen würden wir pro Jahr zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas sparen.
Atomkraft: Nicht schon wieder
Weil es ja bei gefühlt keiner neuen Krisenmeldung ausbleibt, dass wieder jemand eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland fordert (wie zuletzt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder): Nein, das wäre auch angesichts eines drohenden Gaslieferstopps kein sinnvoller Schritt.
Die Abschaltung der letzten deutschen Kraftwerke zum Jahresende ist fest eingeplant. Sollen sie weiterlaufen, bräuchten sie erstmal neuen Brennstoff und könnten deshalb frühestens ab Herbst 2023 wieder Strom erzeugen. Allerdings müssten die Betreiber dafür zunächst neue Uranlieferanten finden. Bislang kam der Brennstoff nämlich vor allem aus – ja richtig: Russland.
Die Situation in der Ukraine illustriert zudem, wie gefährlich Atomkraftwerke sind, wenn es zum bewaffneten Konflikt kommt. Schon kurz nach Beginn von Putins Krieg warnten Experten vor einem Szenario, das dann wenige Tage später am Atomkraftwerk Saporischschja beinahe Realität geworden wäre. Dort gilt die Situation inzwischen zwar als stabil. Dafür ist aktuell die Frage, wie es eigentlich bei der Kühlung abgebrannter Brennstäbe in Tschernobyl aussieht, nachdem die Ruine des 1986 in Teilen havarierten Kraftwerks von der Stromversorgung getrennt wurde.
Fazit: Kein Sprint, sondern ein Marathon
Das bringt mich zurück zum Ausgangspunkt: Wir müssen Energie sparen und die Wende zu 100 Prozent Stromerzeugung aus Wind- und Sonnenenergie möglichst rasch schaffen. Das hilft und nicht nur im Kampf gegen unberechenbar gewordene Präsidenten in Russland. Es bringt uns auch dem Ziel, möglichst schnell klimaneutral zu werden, bedeutend näher.
Dabei können wir uns allerdings darauf einstellen, dass es ein bisschen so wird wie in der Pandemie. Wie der Kampf gegen das Virus nicht von heute auf morgen zu gewinnen ist, so verlangt auch der Umbau der Energieversorgung Ausdauer. Die Bereitschaft zum Frieren und zum Verzicht auf nicht unbedingt nötige Autofahrten und Flugreisen, die brauchen wir nicht nur jetzt, sondern auch im nächsten Winter und den darauffolgenden.
In diesem Sinne: Haben Sie einen langen Atem!
Clemens Haug