Demonstranten auf der Straße mit Galgen für Politiker
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Polarisierung Warum gesellschaftliche Spaltung dazu führen kann, dass Menschen sich schlechter integrieren

18. Februar 2024, 15:59 Uhr

Migration kann dafür sorgen, dass Gesellschaften sich stärker spalten, weil die politischen Fronten sich bei diesem Thema emotionalisieren und verhärten. Aktuelle Forschung kommt allerdings zu dem Ergebnis: Auch umgekehrt gibt es Zusammenhänge. In Gesellschaften, in denen sich verschiedene Lager voller Hass gegenüberstehen, integrieren sich Zugewanderte nicht so gut – das zumindest legt eine noch unveröffentlichte Studie nahe.

Junge Frau schaut frontal in die Kamera.
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Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? In den politischen Debatten der vergangenen Jahre ist immer wieder die Rede von "gesellschaftlicher Polarisierung", nach den AfD-Erfolgen bei den Kommunalwahlen im vergangenen Sommer sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: "Wir sind auf dem Weg in eine Polarisierung, wie wir sie aus Amerika kennen". Solche Aussagen zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die bei wichtigen Themen tief gespalten sind. Verfeindete Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Empirisch lässt sich dieses Bild nicht so klar wiederfinden: 2023 veröffentlichten Forschende der Freien Universität Berlin und der Uni Hannover eine Studie, die Daten der vergangenen 30 Jahre berücksichtigte und nicht feststellen konnte, dass die deutsche Gesellschaft in verschiedene Lager zerfällt. Auch der Soziologe Steffen Mau betonte 2022, die Theorie von der gespaltenen Gesellschaft sei aus seiner Sicht eher ein "Angstszenario". Dennoch scheint das Narrativ der gespaltenen Gesellschaft sich verfestigt zu haben.

Es gibt keine inhaltliche Spaltung, sondern eine emotionale

Warum das so ist, wird vielleicht klarer, wenn man einen zweiten Begriff aus der Forschung berücksichtigt: Bislang haben viele wissenschaftliche Studien die Spaltung der Gesellschaft als eine Art "ideologische Polarisierung" erforscht. Das bedeutet, man hat untersucht, ob sich verschiedene Gruppen hinsichtlich ihrer Meinung und Ideologien voneinander entfernt haben. Dafür gibt es wenig Anhaltspunkte. Allerdings stellen Forschende fest, dass eine zweite Art der Polarisierung durchaus zunimmt: Die "affektive Polarisierung". Diese könnte man als eine Art "politische Spaltung der Gefühle" beschreiben. Das bedeutet, auch wenn Menschen inhaltlich eigentlich nicht weiter voneinander entfernt sind, fühlen sie starke Abneigung gegenüber den anderen Positionen. Sie misstrauen Menschen, die andere Ansichten haben als sie selbst.

In den USA ist das Phänomen bereits etwas besser erforscht: Jeder zweite Republikaner gab dort im Rahmen einer Umfrage an, unglücklich zu sein, falls das eigene Kind einen Anhänger der Demokraten heiraten sollte. Die Anhänger beider Parteien haben ihre Positionen selbst nicht unbedingt geändert – aber sie stehen einander mit immer mehr Abneigung gegenüber, so das Fazit der Befragung. Auf Dating-Apps zählte die politische Orientierung in einer Studie genauso viel wie der Bildungsabschluss, fand eine andere Studie, ebenfalls in den USA, heraus.

Zuwanderung, Klimawandel, Pandemien – das polarisiert Deutschland

Und in Deutschland? So gut erforscht wie in den USA ist affektive Polarisierung hier noch nicht. Eine Untersuchung des Mercator Forum für Migration und Demokratie untersuchte das Phänomen 2023 in Europa. Den Ergebnissen zufolge liegt Deutschland fast exakt im europäischen Durchschnitt, was die affektive Polarisierung angeht. Zwischen alten und neuen Bundesländern gab es hier interessanterweise keine Unterschiede – wohl aber hinsichtlich der Alterszusammensetzung: Menschen über 55 waren die Gruppe mit der höchsten affektiven Polarisierung. Bildungsabschlüsse, Einkommen und Wohnort hatten in der Studie keine signifikanten Effekte. Das höchste Maß an affektiver Polarisierungen fanden die Forschenden bei AfD-Wählern, dicht gefolgt von Menschen, die die Grünen wählen.

Die drei Themen, die die größte affektive Polarisierung hervorriefen waren: Zuwanderung, Klimawandel und Pandemien wie Covid-19. Beim Thema Zuwanderung spricht sich europaweit eine deutliche Mehrheit der Befragten für die Einschränkung von "Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer" aus. In Tschechien, Schweden und den Niederlanden ist diese Mehrheit besonders groß. Europaweit wird diesem Thema auch das größte Potenzial für gesellschaftliche Spaltung zugeschrieben, so die Ergebnisse der Studie von 2023.

"White Backlash" in den USA

"Dass Migration als Treiber von gesellschaftlicher Spaltung fungieren kann, wissen wir aus zahlreichen Studien", sagt Michael Neureiter. Bekannt geworden sei in diesem Zusammenhang beispielsweise der Begriff des "White Backlash". Der Begriff beschreibt, dass Migration in den USA zu mehr Polarisierung bei weißen Konservativen führen kann. Die These dahinter: Weiße Menschen reagieren negativ darauf, dass Zugewanderte in den USA gute wirtschaftliche Möglichkeiten und kulturelle Teilhabe bekommen.

In Deutschland ist ein entsprechender Begriff nicht etabliert, aber – die Mercator-Studie von 2023 konnte zeigen, dass es bei diesem Thema Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Im Osten ist der Anteil derjenigen, die beim Thema "Zuwanderung" maximal polarisiert sind, deutlich höher als im Westen. "Das Thema erweist sich im Osten als äußerst konfliktiv", resümieren die Studienautoren.

Gesellschaftliche Spaltung setzt eine "Abwärtsspirale" in Gang

Das ist auch deshalb wichtig, weil die emotionale gesellschaftliche Spaltung möglicherweise noch eine Kehrseite hat: Michael Neureiter hat in einer aktuellen Studie (noch unveröffentlicht) untersucht, wie affektive Polarisierung wiederum rückwirkend auf Integrationsprozesse wirkt. Dazu hat Neureiter unterschiedliche Analysen durchgeführt, unter anderem ein Umfrageexperiment mit rund 700 Teilnehmenden in vier europäischen Ländern. Das Ergebnis: Ist eine Gesellschaft emotional tief gespalten, kann das der Integration sogar schaden und eine "Abwärtsspirale" in Gang setzen. Die affektive Polarisierung wirkt auf kognitive Prozesse, diese wirken auf Einstellungen und Verhaltensweisen, die wiederum Integration beeinflussen können.

Um es ein wenig einfacher und konkreter auszudrücken: Menschen kommen mit bestimmten Erwartungen nach Deutschland. Das sind beispielsweise Erwartungen an ein bestimmtes gesellschaftliches Klima, womöglich sogar eine Art "Willkommenskultur", die dazu beiträgt, dass Zugewanderte sich schneller einfinden können. Treffen die Menschen stattdessen auf eine stark emotional gespaltene Gesellschaft, in der unterschiedliche Gruppen sich voller Abneigung gegenüberstehen, werden diese Erwartungen womöglich enttäuscht. Diese Enttäuschung wirkt sich, den Ergebnissen von Michael Neureiter zufolge – auf die politische Teilhabe der Menschen aus. Kurz, wenn ich vom gesellschaftlichen Klima enttäuscht bin, werde ich mich weniger aktiv einbringen.

Normalerweise wird politische Partizipation auch daran gemessen, ob Menschen sich an Wahlen beteiligen. Weil viele Zugewanderte diese Möglichkeit aber nicht haben, hat Michael Neureiter beispielsweise erfasst, ob Menschen Produkte aus politischen Gründen boykottiert haben, gewählte politische Vertreter kontaktiert oder eine Petition unterschrieben haben. Aus seiner Sicht habe die Integrationsforschung bislang nicht ausreichend berücksichtigt, welche kognitiven Prozesse im Zuge von Integration eine Rolle spielen, sagt der Politikwissenschaftler: "Die Erwartungen, die wir beispielsweise an bestimmte Ereignisse haben, beeinflussen, wie wir etwas interpretieren".

Die Integrationsmotivation sinkt

Wie stark Menschen politisch eingebunden sind, beeinflusst wiederum, wie sehr sie sich für ihre eigene Integration engagieren. Wer sich nicht so richtig eingebunden fühlt, unternimmt in diesem Bereich weniger. Das kann beispielsweise bedeuten, dass Menschen weniger Zeit investieren, um freiwillig die neue Sprache zu lernen.

Über diese Verkettung kann eine polarisierte Gesellschaft dazu führen, dass Integration nicht mehr so gut funktioniert. So zumindest deuten es die Ergebnisse von Michael Neureiter an. "Man sieht hier eine Art Kette: Affektive Polarisierung führt zu unerfüllten Erwartungen und das wiederum führt zu weniger politischer Partizipation", sagt Neureiter. Aus seiner Sicht hätten bislang zu viele Studien Integration als einfaches Ursache-Wirkungs-Konstrukt gesehen. "Aber man sollte das eher als Kreislauf sehen anstatt als linearen Prozess."

Politische Teilhabe kann Integration stärken

Wenn wir Integration besser verstehen, lassen sich möglicherweise auch bessere politische Maßnahmen treffen: "Man sieht im Gegenzug auch, dass sich politische Teilhabe positiv auf die Integration auswirkt", betont der Politikwissenschaftler. Deshalb empfehle er, hier mehr Möglichkeiten zu schaffen, statt die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund weiter zu reduzieren.

Eine weitere Schlussfolgerung für die Praxis: "Politiker sollten ein Auge auf affektive Polarisierung haben, wenn sie Integration stärken wollen", empfiehlt Neureiter. Außerdem spiele es eine Rolle, mit welcher Erwartung Menschen in ein Land kommen: "In den USA haben die Menschen häufig bereits die Erwartung von Polarisierung, in Europa haben sie oft eher die Erwartung, dass alles viel harmonischer ist und werden dann enttäuscht", sagt Michael Neureiter. Eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse soll in diesem Jahr als Buch erscheinen.

Links/Studien

  • Affect, Not Ideology: A Social Identity Perspective on Polarization - das ist die US-Studie, die die emotionalen Verhärtungen zwischen Demokraten und Republikanern beleuchtet
  • Hier können Sie die sehr spannende Studie zu Polarisierung in Deutschland und Europa des Mercator Forum nachlesen

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