Theaterbefragung Wie Theater der gesellschaftlichen Spaltung begegnen
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09. Januar 2024, 05:01 Uhr
Egal ob Migrationsdebatte, Klimaproteste oder gendergerechte Sprache: Verschiedene Meinungen prallen immer heftiger aufeinander. Wir haben die Theater in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gefragt: Wie wirkt sich die gesellschaftliche Spaltung auf ihre Arbeit aus und wie kann Theater ihr entgegenwirken?
- Die Lager verschiedener Meinungen sind kaum noch diskussionsbereit, finden die Intendantinnen und Intendanten der mitteldeutschen Theater.
- Die Theater reagieren mit Stücken, die diese Veränderungen reflektieren, und mit neuen Formaten.
- Besonders im Mitmachtheater sehen die Theaterhäuser eine gute Möglichkeit, neues Publikum zu erreichen und Menschen zusammen zu bringen.
Der gesellschaftliche Diskurs hat sich in den letzten Jahren verändert. So sehen es 17 von 18 Theaterhäusern, die an der Befragung von MDR KULTUR und MDR Klassik teilgenommen haben. Fragt man weiter nach, ist es vor allem der raue Ton zwischen verschiedenen Meinungslagern, der den mitteldeutschen Intendantinnen und Intendanten auffällt.
"Der Diskurs in der Gesellschaft hat sich verschärft", findet beispielsweise Lutz Hillmann, Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen, und berichtet MDR KULTUR: "Man merkt, dass die verschiedenen Meinungen relativ unversöhnlich und eigentlich nicht mehr diskussionsbereit aufeinanderprallen."
Der Diskurs in der Gesellschaft hat sich verschärft.
Dem Theater Meiningen begegnet der verschärfte Ton jede Woche vor der Tür. Immer noch laufen Montagsspaziergänger durch die Stadt und halten zum Teil demonstrativ vorm Theater an, erzählt Intendant Jens Neundorff von Enzberg. In direkte Gespräche mit ihnen zu kommen sei schwer: "Aber natürlich schlägt sich das auf unsere Auseinandersetzung mit der Stadt und Zivilgesellschaft nieder, indem wir die Themen für uns formulieren und auch sichtbar machen."
Inszenierungen bilden Veränderungen ab
Die Theater reagieren. Die meisten mit Stücken, die diese Veränderungen reflektieren, wie die Befragung ergeben hat. Das Staatstheater Meiningen zum Beispiel sorgt mit dem hochaktuellen Polit-Thriller-Stück "Wer Wind sät" über Meinungsfreiheit und Cancel Culture für Aufsehen und setzt außerdem auf einen Themenschwerpunkt zu den ostdeutschen Bundesländern.
Am Theaterhaus Jena sucht die künstlerische Leiterin Lizzy Timmers nach verbindenden Themen. Die Stücke werden alle selbst geschrieben. So können sie die aktuellen Entwicklungen besonders gut reflektieren – zum Beispiel mit "Die Hundekot-Attacke" oder mit der Geschichte über einen Kleingartenverein, in dem eine politisch rechts orientierte Person in den Vorstand möchte. "Da sieht man, wie solche großen Themen wie Rechtsruck sich widerspiegeln in einem Mikrokosmos wie im Kleingartenverein."
Theater im Unterhaltungsmodus
Krise reiht sich an Krise – ein Hauptgrund für die polarisierten Meinungen, meint der Bautzener Intendant Hillmann. Die vielen Konflikte trieben die Leute um und machten ihnen Angst vor der Zukunft. Daraus entstünden "diese unversöhnlichen Meinungen".
Das wirkt sich auch auf die Ansprüche ans Theater aus. Hillmann stellt zerknirscht fest: Die Menschen wollten angesichts dieser düsteren Zustände im Theater vor allem unterhalten werden, es gebe ein großes Bedürfnis nach Entspannung, nach ein bisschen Ruhe und danach, "nicht permanent Angst haben zu müssen", so Hillmann.
Theater als verbindende Erfahrung
Bei aller Kreativität der Theater für neue Themen und Formate bleibt die Befürchtung, dass vielleicht doch immer nur die gleichen Menschen ins Theater kommen, egal wie sehr man sich bemüht mit ansprechenden Themen und innovativen Formaten, neues Publikum zu erreichen. Da macht sich auch Hillmann keine Illusionen: "Menschen, die nicht affin sind, die kommen einfach nicht. Es gibt ja keine Theaterpflicht in Deutschland."
Eine Lösung dafür haben die Theater dann aber doch schon gefunden: Etwa die Hälfte der Häuser setzt darauf, das Publikum am Theaterprozess zu beteiligen, zum Beispiel durch Mitmachtheater. Im Bautzener Thespis-Zentrum zum Beispiel stehen deutsche und geflüchtete Jugendliche verschiedener Herkunft und Religion miteinander auf der Bühne. Hier erreiche man, so Hillmann, auch "Publikum, was kein normales, traditionelles Theaterpublikum ist."
Unmittelbare und emotionale Erlebnisse
Empathie und Verständnis sieht Hillmann aus der gemeinsamen Theaterproduktion wachsen und vor allem emotional bewegende Theaterabende entstehen, wie aktuell mit dem Stück "Kinderszenen" aus den Tagebüchern von Anne Frank, Joseph Goebbels' Tochter Helga und einer jungen Ukrainerin.
Überhaupt: Das Emotionale am Theater sei seine große Stärke, erzählen die Intendanten Hillmann aus Bautzen und Neundorff von Enzberg aus Meiningen. Damit erreiche man vielleicht eher das Herz des Publikums, überlegt Neundorff von Enzberg: "Theater ist auf einer menschlicheren Ebene wirksam."
Theater geht ins Herz – und ist unmittelbar, wie Lizzy Timmers in Jena feststellt. Das direkte Zusammentreffen von Ensemble und Publikum habe eine besondere Wirkung: "Es ist wie ein kollektives Nachdenken über sich selbst." Deshalb, erklärt Lutz Hillmann, sei Theater eine wunderbare Möglichkeit, die Menschen zum Mitdenken über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu verführen: "Da haben wir unschätzbare Möglichkeiten."
Die Intendantinnen und Intendanten sind sich einig: Theater kann ein besonders guter Hebel sein, um gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 09. Januar 2024 | 06:15 Uhr