Mehrere junge Menschen vom Projekt "Tagebuch der Gefühle" sitzen gemeinsam um einen Tisch
Im Projekt "Tagebuch der Gefühle" arbeiten unterschiedlichste Jugendliche zum Thema Antisemitismus. Bildrechte: MDR/Leonard Schubert

Radikalisierung Antisemitismus und Nahostkonflikt: Schulen häufig überfordert

11. Februar 2024, 17:00 Uhr

Viele Lehrerinnen und Lehrer an Sachsen-Anhalts Schulen sind mit der Vermittlung des komplexen Nahostkonfliktes überfordert. Die Folge: Viele Jugendliche informieren sich im Internet, die Gefahr für Radikalisierung, antisemitische Taten und Polarisierung steigt. Doch es gibt Lösungsansätze.

MDR San Mitarbeiter Leonard Schubert
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

  • Im Projekt "Tagebuch der Gefühle" beschäftigen sich Jugendliche verschiedenster Hintergründe freiwillig mit Antisemitismus.
  • An Schulen gelingt die thematische Auseinandersetzung nicht immer. Besonders der Nahostkonflikt stellt viele Schulen vor Herausforderungen.
  • Die Fach- und Beratungsstelle Salam unterstützt Schulen und leistet Präventionsarbeit bei drohender Radikalisierung.

Ob mit Schulabschluss oder ohne, ob mit Behinderung oder ohne, ob mit Migrationserfahrung oder nicht: "Hier", sagt Philipp aus Halle, während er mit anderen Jugendlichen zur Diskussion am Tisch sitzt, "sind wir alle fast wie Familie."

Hier, das ist eine Werkstatt der Stiftung Bildung und Handwerk (SBH) in Halle. Vor zwölf Jahren entstand in der Werkstatt das Projekt "Tagebuch der Gefühle", das sich ein Ziel gesetzt hat: eine besondere Form der Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu ermöglichen und Diskussionsräume zu öffnen. Besonders für Gefühle und eigene Gedanken soll hier Platz sein.

Philipp, ein junger Mann vom Projekt "Tagebuch der Gefühle"
Philipp ist begeistert von dem Projekt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Und es funktioniert. Hier wird über die drängenden wie unbequemen Themen der Zeit gesprochen. Es ist eine Möglichkeit, die es für Schülerinnen und Schüler, für Lehrerinnen und Lehrer im Schulalltag nur selten gibt – dabei wären solche Räume notwendiger denn je.

Schulen scheuen den Nahostkonflikt

Längst drängen Themen wie der Nahostkonflikt insbesondere durch die aktuelle Lage auch in die Schulen. Antisemitismus, Radikalisierung, Drohungen und Streit: Die Meldungen häufen sich. Doch immer wieder scheuen sich die Lehrkräfte davor, Themen wie den Nahostkonflikt zu behandeln. Zu groß ist die Sorge, etwas falsch zu machen, zu komplex der Konflikt.

Jugendliche, die sich im Nahostkonflikt mit ihren Emotionen und der Flut an Meinungen und Informationen allein gelassen fühlen, suchen laut Experten häufig im Internet nach Antworten und Einordnungen. Wachsende Polarisierung, Radikalisierung und steigender Antisemitismus können die Folge sein.

Ein Geschichtslehrer steht mit einem Krisenordner vor seiner Schule in Halle.
Geschichtslehrer Oliver Schmiedl wünscht sich ganzheitliche Ansätze an den Schulen. Bildrechte: MDR/Leonard Schubert

Das weiß auch Oliver Schmiedl, Geschichtslehrer an der Ulrich-von-Hutten-Gesamtschule in Halle. "Die Radikalisierung, die in der ganzen Gesellschaft stattfindet, merken wir auch auf den Schulhöfen", meint Schmiedl. "Um dem entgegenzuwirken, braucht es ganzheitliche Ansätze".

Um wirklich etwas im Denken zu verändern, müsse man tief genug in den Konflikt einsteigen und dabei auch die verschiedenen Hintergründe und Herkünfte der Schülerinnen und Schüler sensibel mit einbeziehen. Dazu müsse man sich davon lösen, Antisemitismus wie bislang vor Allem im Zusammenhang mit dem Holocaust zu behandeln. Stattdessen müsse man projektorientiert arbeiten. Dazu reiche der normale Unterricht aber normalerweise nicht aus, so Schmiedl.

Tagebuch der Gefühle: Persönlicher Ansatz

Das kann Andreas Dose nur bestätigen. "Eine Schülerin hat mich vor zwölf Jahren gefragt: 'Herr Dose, wann hat Hitler nochmal die Mauer gebaut?'", erinnert sich der Werkstattpädagoge der SBH schmunzelnd. "Da war mir klar: Ich muss etwas machen." Heraus kam das besagte Projekt "Tagebuch der Gefühle".

Andreas Dose, Leiter des Projekts "Tagebuch der Gefühle".
Andreas Dose hat vor zwölf Jahren das "Tagebuch der Gefühle" gegründet. Bildrechte: MDR/Leonard Schubert

Der Ansatz ist bestechend einfach: niedrigschwellige Arbeit, persönliche Geschichten, Offenheit. Die Jugendlichen können selbst entscheiden, welche Themen sie behandeln und wie sie sich ihnen widmen wollen. Häufig ist der Zugang dadurch sehr persönlich, berührt die Jugendlichen. Heraus kommen zahlreiche Projekte und Veröffentlichungen. Tagebücher, Comics, Videos, Bilder, Ausstellungen: Alle erzählen von einer ganz besonderen Annährung an das Thema.

Max, ein junger Mann vom Projekt "Tagebuch der Gefühle"
Max sagt, er habe durch das Projekt viel gelernt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Max nickt. "Über viele Aussagen und Fragen habe ich vorher gar nicht nachgedacht", erzählt der junge Mann, der bereits seit mehreren Jahren in dem Projekt mitwirkt. "Aber jetzt ist das anders."

Beratungsstelle Salam aus Halle

"Es ist zentral, dass an Schulen ein Raum geschaffen wird, wo die Jugendlichen ihre Fragen, aber auch ihre vermeintlichen Antworten einbringen können. Das heißt, der Raum muss grundsätzlich erst einmal offen sein, um überhaupt pädagogisch thematisieren zu können, was die Jugendlichen bewegt", erklärt auch Hans Goldenbaum, Bereichsleiter für Gewalt- und Radikalisierungsprävention für die Beratungsstelle Salam. Ein Problem dabei, dass der Diskurs nicht nur an Schulen, sondern in der gesamten Gesellschaft häufig polarisiert sei. Es falle vielen Menschen schwer, die Komplexität und Widersprüche auszuhalten.

Die Beratungsstelle hat viel Erfahrung dabei, Schulen in besonders herausfordernden Konflikten zu unterstützen. Aktuell hilft Salam auch vielen Fachkräften im Umgang mit dem Nahostkonflikt und bei der Prävention von Antisemitismus und Rassismus. "Wir nehmen eine große Verunsicherung bei den Lehrkräften wahr", erzählt Goldenbaum.

Bildungsministerium: Angebot für zahlreiche Hilfestellungen

Das Bildungsministerium antwortete auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT, dass es zahlreiche Hilfestellungen für Lehrkräfte in Form von Fortbildungsangeboten und Handreichungen zum Themenkomplex Nahost und Antisemitismus gebe. Die Themen Holocaust und Antisemitismus seien ohnehin schon in verschiedenen Fächern Teil der regulären Lehrpläne, etwa in Geschichte, Religion und Sozialkunde. Hierbei böte sich teilweise auch die Möglichkeit, über den Nahostkonflikt zu sprechen. Zudem bearbeite man gerade die Lehrpläne und wolle in diese ein spezielles Konzept einarbeiten. Das beinhalte konkrete Inhalte zur Verantwortung aller, klar gegen nationalsozialistisches Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus einzutreten.

Salam: Workshops, Fortbildungen und Beratungsgespräche

Um Gesprächsräume zu öffnen und die Lehrkräfte zu stärken, bietet Salam Fortbildungen für Lehrkräfte, eins-zu-eins Betreuung und Workshops an. Dort soll Fachwissen zu den verschiedenen Narrativen auf den Konflikt, didaktische Methoden und geeignete Unterrichtsmaterialien vermittelt werden.

Ein Mitarbeiter von SALAM im Beratungsgspräch am Telefon in einem Büro
Beratungsgespräche bietet Salam auch telefonisch an. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zugleich unterstützten sie die Schulen bei der Beziehungsarbeit mit den Schülerinnen und Schülern in dem Konflikt, der sehr emotionalisiert sei. Goldenbaum wünscht sich, dass die Schulen zudem Raum für gemeinsame Quellenarbeit und die Vermittlung von Medienkompetenz bekommen. "Das wäre unglaublich hilfreich für den einzelnen Jugendlichen wie insgesamt längerfristig für die Gesellschaft. Und das findet viel zu wenig statt."

Förderung SALAM Die Beratungsstelle SALAM wird im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" unter anderem gefördert vom Bundesministerium für Familie und Jugend.

Gestärkt gegen Antisemitismus

In der Werkstatt der SBH Halle sind die Jugendlichen gerade dabei, unter dem Titel "Wo warst du?" 1.000 Interviews zum Attentat in Halle zu sammeln. Über 900 haben sie schon. Dass zur Beschäftigung mit der Vergangenheit auch aktuelle Bezüge gehören, ist für Paul selbstverständlich. Der junge Projektteilnehmer erzählt, die Erfahrungen beim Tagebuch der Gefühle würden ihn dabei stärken, auch im komplexen Nahostkonflikt Rechtsextremismus und Demokratie-Unzufriedenheit zu widersprechen.

Paul, ein junger Mann vom Projekt "Tagebuch der Gefühle"
Paul sagt, das Tagebuch der Gefühle habe ihn auch für aktuelle Fragen gestärkt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Projektleiter Dose nickt. "Unsere Jugendlichen sind so gestärkt, dass sie es schaffen in ihren Gruppen in antisemitische Diskussionen einzusteigen und da eben auch mit Argumenten zu arbeiten. Das finde ich ganz wichtig. Das sind eben nicht nur die Schüler, die Abiturabschluss haben, sondern auch die mit Hauptabschluss oder die, die gar keinen Schulabschluss haben."

Zwei Tagebücher der Gefühle gedruckt auf einem Tisch.
Die Tagebücher und Materialien des Projekts können auch als Unterrichtsmaterial bestellt werden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In dem Projekt sei jede und jeder willkommen. Der Bedarf an solchen Angeboten sind Dose zufolge enorm. Das merke man auch an dem großen Interesse aus ganz Deutschland. Auch zahlreiche Preise hat das Projekt gewonnen, unter anderem von der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. "Es ist schön zu sehen, dass das Engagement etwas bewegt", sagt Projektteilnehmer Philipp.

Projektleiter Andreas Dose ist auch nach zwölf Jahren noch mit voller Leidenschaft dabei. Und er hat noch viel vor. "Es ist unsere Pflicht als Gesellschaft, diese Themen zu behandeln und für unsere Grundwerte einzutreten", sagt er. "Ansonsten sieht es sehr finster aus."

MDR (Leonard Schubert)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 11. Februar 2024 | 19:00 Uhr

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