Seismologie Erdbeben-Vorhersage: Forschende erwarten ein Superbeben in Istanbul
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13. Februar 2023, 16:20 Uhr
So sehr die Wissenschaft sich auch bemüht, ist es bis heute noch nicht möglich, Erdbeben vorherzusagen. Deshalb zählt im Zweifelsfall jede Sekunde, sobald Anzeichen für ein Beben auftreten. Forschende arbeiten an komplexen Frühwarnsystemen, die helfen sollen, den Menschen in den betroffenen Gebieten wenigstens etwas mehr Zeit zu verschaffen, um sich in Sicherheit zu bringen. Nicht zuletzt in Metropolen wie Istanbul. Hier rechnen Forschende schon länger mit einem anstehenden "Superbeben".
Es gibt leider Erdbeben, bei denen eine Warnung nicht möglich ist und eine frühzeitige schon gar nicht. Das jüngste schwere Beben im Südosten der Türkei gehört laut Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam dazu. Der Grund dafür sei, dass die dicht besiedelte Region in unmittelbarer Nähe des Epizentrums liege. Das ist nicht immer so. Viele Erdbeben, die auch an Land Schäden anrichten, ereignen sich zum Beispiel am Meeresboden.
Forschende arbeiten jedenfalls intensiv an Warnsystemen, die Menschen in betroffenen Regionen möglichst früh alarmieren sollen. Sie suchen dafür seit Jahrzehnten nach sicheren Anzeichen, die ein kommendes Beben ankündigen, aber bisher war keiner der Ansätze wirklich verlässlich. Also bleibt nur die frühe Warnung, wenn es zum Beben kommt.
Ansätze zur Erdbeben-Frühwarnung
Messung seismischer Wellen
In Gebieten, die in einer Gefahrenzone für Erdbeben entlang der Grenzen tektonischer Platten liegen, sind häufig regionale Warnsysteme installiert. Dort erfasst ein System an Sensoren im Boden direkt Erschütterungen im Boden. Denn bei einem Beben entstehen verschiedene Arten seismischer Wellen – unter anderem die Kompressionswelle (P-Welle) mit geringer Schwingung und die Scherwelle (S-Welle). Die S-Welle ist die gefährliche Welle, die für die Zerstörungen sorgt. Zwischen den beiden Wellen liegen laut Seismologie-Professor Stefano Parolai von der Universität Triest nur wenige Sekunden. "Je weiter man davon entfernt ist, desto mehr Zeit bleibt für einen Alarm", erklärt er.
Wenn man allerdings sehr nah am Epizentrum sei, erreiche einen der Alarm später als die gefährliche S-Welle. Ist das betroffene Gebiet weit genug weg, um vorab gewarnt zu werden, wird der Alarm direkt durch die Echzeit-Signale des Beobachtungsnetzwerkes ausgelöst. Die verknüpfte Infrastruktur schaltet dann unter anderem auch Strom- und Gasleitungen aus, stoppt Züge und warnt die Industrie.
Die seismischen Messungen können jedoch auch an dem Ort gemacht werden, der vor dem Erdbeben geschützt werden soll – also zum Beispiel in einer Stadt oder an einer Industrieanlage. Dann registrierten die Messgeräte die P-Welle, so Parolai, und leiteten daraus ab, wie stark die S-Welle etwa werde und lösten dementsprechend sofort Maßnahmen aus.
Gravitationssignale und künstliche Intelligenz
Starke Erdbeben können mit maschinellem Lernen und der Auswertung von Schwerkraftsignalen in Echtzeit genau abgeschätzt werden, sagen französische Forscher. Sie haben im vergangenen Jahr eine Methode vorgestellt, bei der sie Signale nutzen, die man "Prompte Elastogravitationssignale" (PEGS) nennt. Diese sind das Ergebnis plötzlicher Gesteinsverschiebungen und verursachen kurzfristige Veränderungen der Schwerkraft. Und das besonders Wichtige an diesen PEGS ist: Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit, was eine schnellere Erfassung und Auswertung ermöglicht als bei den seismischen P- und S-Wellen. Mithilfe eines KI-Algorithmus ist es dem Forschungsteam gelungen, diese Signale für ein Warnsystem zu nutzen, das acht Sekunden schneller ist, als das beste Messsystem für seismische Wellen.
Elektromagnetische Signale
Ein häufig debattierter Ansatz ist die Veränderung elektromagnetischer Signale in der Ionosphäre. Die können Erdbeben anscheinend auslösen und sie werden deshalb als mögliche Vorboten für größere Beben in Betracht bezogen. Tatsächlich konnten solche Änderungen auch schon erfolgreich mit Erdbeben in Verbindung gebracht werden, aber als Warn-Methode haben sie sich bisher als unzuverlässig erwiesen.
Das seltsame Verhalten der Tiere
Ist es möglich, dass einige Tiere schon vor uns Menschen wissen, dass die Erde gleich beben wird? Haben sie womöglich einen "sechsten Sinn", der ihnen das verrät? Immer wieder wird auch abnormales Verhalten von Tieren als Vorbote für Erdbeben diskutiert. Mehrere Forschungsprojekte beschäftigen sich mit den anekdotischen Beobachtungen von flüchtenden Kröten oder nervösen Ziegen. Die Fachleute vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ haben sich die Studien zum seltsamen Verhalten der Tiere ganz genau angeschaut. Doch bisher gelang es noch keiner Forschungsgruppe tatsächlich Erdbeben durch systematische Tierbeobachtungen zuverlässig vorherzusagen. Die Max-Planck-Gesellschaft forscht im Projekt ICARUS an einem Frühwarnsystem der Tiere. Das liegt jedoch aufgrund des russischen Krieges in der Ukraine auf Eis. Denn die Daten werden auf der Raumstation ISS per Antenne gesammelt und kamen bis zum März 2022 aus Moskau. Danach war Schluss.
Vorbeben erkennen
In manchen Fällen kündigen kleinere Vorbeben ein größeres Beben an. Das ist auch eine möglich Erklärung für das seltsame Verhalten einiger Tiere, vermuten Fachleute. Womöglich spüren sie die und werden dadurch aufgeschreckt. Natürlich können wir Menschen diese Vorbeben auch messen, aber ob es sich dabei wirklich um eines gehandelt hat, weiß man natürlich erst nach dem Hauptbeben mit Sicherheit. Und außerdem hat nicht jedes große Erdbeben solche Vorbeben.
Radonkonzentration
Es gibt verschiedene Untersuchungen, die auf einen Anstieg der Radonkonzentration im Vorfeld eines Erdbebens hinweisen. Doch auch das ist kein verlässliches Zeichen: Dieser Anstieg hat sich nur in wenigen Fällen überhaupt mit seismischer Aktivität in kausale Verbindung bringen lassen. Je nach Entfernung zum Epizentrum unterschieden sich die Messwerte so sehr, dass sich bisher kein aussagekräftiger Zusammenhang nachweisen ließ.
Statistik aus der Vergangenheit
Forschende versuchen außerdem Erdbeben mithilfe statistischer Methoden vorherzusagen. Dazu nutzen sie die Daten aus der Vergangenheit und untersuchen Häufigkeit und Stärke vieler kleiner Erdbeben, die Messinstrumente zwar registrieren, aber die der Mensch normalerweise nicht spürt. Doch auch das ist bisher wenig erfolgreich: Keine dieser statistischen Auswertungen liefert bisher Ergebnisse, die sich zur Vorhersage von Erdbeben eignen würde.
Um tatsächlich irgendwann einmal eine Erdbeben-Vorhersage entwickeln zu können, fordert die Wissenschaft bessere Forschungsmöglichkeiten. Ein Team von Seismologen und Seismologinnen hat deshalb den Bau von "Schlüssel-Observatorien" in der Nähe von geologischen Störungszonen an Land und auf dem Meeresboden vorgeschlagen.
Marmarameer: Gezeiten als Auslöser
Insbesondere der Südosten Europas bis hin in den Nahen Osten ist ein Gebiet, in dem es immer wieder zu schweren Erdbeben kommen kann, da hier mehrere tektonische Platten aufeinandertreffen. Für die Region der türkischen Metropole Istanbul etwa rechnen Forschende schon länger mit einem anstehenden "Superbeben", das für erhebliche Schäden sorgen dürfte. Sie ist nämlich Teil des aktiven nordanatolischen Verwerfungssystems – einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben bekannt ist. Der Hauptarm der Verwerfung verläuft direkt zwischen Istanbul und der Armutlu-Halbinsel etwas weiter südlich und wird als "seismische Lücke" bezeichnet: Hier ist ein großes Erdbeben überfällig, sind sich die Fachleute sicher. Deshalb ist das südlich von Istanbul gelegene Marmarameer, spannend für die seismologische Forschung.
Das Team um Patrizia Martínez-Garzón vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ hat sich in einer aktuell publizierten Studie mit der Änderung des Meeresspiegels im Marmarameer beschäftigt. Dafür haben sie dort seismische Daten erhoben und analysiert. Für diese Analyse haben sie neue Verfahren der Künstlichen Intelligenz und der Bildverarbeitung eingesetzt, denn die seismischen Effekte, die durch die natürlichen Schwankungen des Meeresspiegels ausgelöst werden, seien so gering, dass die Daten nur so aufgespürt werden konnten. Und dennoch zeigten sie: Die Änderung des Meeresspiegels kann Erdbeben auslösen.
Tatsächlich könnten die Tatsache, dass seismische Effekte bei so schwachen auslösenden Kräften überhaupt auftreten, darauf hindeuten, dass die Verwerfungen in dem untersuchten Gebiet kurz vor dem Versagen stehen, so das Forschungsteam. Dann könnten weitere Erdbeben ausgelöst werden. Das heißt, die Analysen des Teams könnten wiederum ein Schritt hin zu einer besseren Gefährdungsvorhersage sein.
Verwerfung Eine sogenannte Verwerfung ist eine bestehende Bruchstelle in der Erdkruste.
Es sei von entscheidender Bedeutung zu verstehen, schreibt das Forschungsteam, wie viel Spannung nötig ist, um eine Verwerfung zum Versagen zu bringen und damit ein Erdbeben auszulösen. Und hier kommen die Gezeiten ins Spiel, denn ein natürlicher Prüfstein dafür, wie die Erde auf eine Spannungsstörung reagiere, seien quasi-periodische Phänomene wie die Gezeitenbewegung oder saisonale Effekte wie zusätzliches Wasser aufgrund von Niederschlag.
Ob solche Spannungsänderungen ausreichen, um Erdbeben auszulösen, wird schon seit Jahrzehnten untersucht. Dank neuer KI-Analysemethoden und Bildverarbeitungstechnologie ist es jetzt gelungen, die bisher schwer zu analysierenden Daten dazu auszuwerten. Im Ergebnis ist dem Forschungsteam der Nachweis tatsächlich gelungen. Aus Daten über den Zeitraum von November 2018 bis Mai 2019 konnten sie zum ersten Mal in dieser Region einen starken Einfluss der Wasserstandsänderungen des Marmarameeres auf die lokale Seismizität nachweisen.
Wir dokumentieren zum ersten Mal in dieser hydrothermalen Region im östlichen Marmarameer einen starken Einfluss der gezeitenbedingten Wasserstandsänderungen auf die lokale Seismizität.
Diese Beziehung sei normalerweise schwach, erläutert Erstautorin Patricia Martínez-Garzón. Der Meeresspiegel variiere hier nur um 0,8 Meter. Doch die Analyse zeige, "dass die lokalen Seismizitätsraten in den Zeiträumen kurz nach den Minima des Meeresspiegels, wenn der Meeresspiegel wieder steigt, deutlich höher sind".
Die Ergebnisse können nun dabei helfen, abzuschätzen, welche Spannungsänderungen ausreichen, um die lokalen Verwerfungen zu aktivieren und Beben auszulösen, erklärt die Forscherin und bilanziert: "Wenn bereits solch geringe Spannungsschwankungen aufgrund von Veränderungen des Meeresspiegels ausreichen, um Seismizität auszulösen, könnte dies darauf hindeuten, dass die lokalen Verwerfungen in Armutlu kurz vor dem Versagen stehen."
Link zur Studie
Martínez-Garzón, P. et. al.: Sea level changes affect seismicity rates in a hydrothermal system near Istanbul. Geophysical Research Letters, 50. 2023. https://doi.org/10.1029/2022GL101258.
(kie)
Dieses Thema im Programm: 3sat | nano | 10. Februar 2023 | 18:30 Uhr
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