Vier Einsatzkräfte vom THW stehen inmitten der Trümmer eines bei einem Erdbeben eingestürzten Hauses.
Nach 130 Stunden unter Trümmern konnten Einsatzkräfte vom THW eine Frau bergen. Bildrechte: THW

Erdbeben Jede Rettung ein Wunder: Wie lange können Verschüttete überleben?

15. Februar 2023, 17:33 Uhr

Mehr als eine Woche nach den schweren Erdbeben im Südosten der Türkei suchen Einsatzkräfte in den Trümmern noch immer nach Verschütteten. Doch die Überlebenschancen sinken mit jeder Stunde. Und dennoch haben sie auch nach mehr als 170 Stunden noch Menschen lebend bergen können. Wie lange können Menschen unter den Trümmern maximal überleben? Eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt.

Jede gelungene Rettung ist nach dieser langen Zeit wie ein kleines Wunder: Neun Tage nach der Erdbebenkatastrophe in der Südosttürkei gibt es Medienberichte über die Bergung einer lebenden Frau. Die 45-Jährige sei am Mittwochmorgen in der Provinz Kahramanmaras gerettet worden, berichtete der staatliche Sender TRT. Sie war demnach 222 Stunden lang verschüttet. Zwei Brüder, die Berichten zufolge am Dienstagmorgen gerettet wurden, erzählten unterdessen türkischen Medien, wie sie so lange unter den Trümmern überleben konnten. Demnach hatten sie Zugang zu Proteinpulver, das sie in ihrem eigenen Urin aufgelöst hätten. So berichtete es etwa der Sender CNN Türk. Und die Einsatzkräfte arbeiten unermüdlich weiter. So gibt es Berichte von Menschen, die noch lebend unter den Trümmern vermutet werden, weil Suchhunde angeschlagen haben. Doch die meisten Menschen können eine Woche nach den Beben nur noch tot geborgen werden. Die Opferzahl ist auf bislang mehr als 37.500 gestiegen, Tausende werden aber noch vermisst.

Auch die deutschen Rettungskräfte vom Technischen Hilfswerk (THW) konnten gemeinsam mit türkischen Einsatzkräften in Kırıkhan eine Frau nach mehr als 130 Stunden lebend aus den Trümmern befreien. Dafür haben sie nach eigenen Angaben mit Spezialausstattung und medizinischer Betreuung geholfen, die 88-Jährige zu retten. THW-Präsident Gerd Friedsam zeigte sich stolz über die Leistungen seines Teams. "Nach so langer Zeit Überlebende zu retten, ist fast ein Wunder", sagte er.

Kritische Grenze bei 72 Stunden

Auch für die Profis vom THW ist eine Rettung nach so langer Zeit eine außergewöhnliche Situation, heißt es. "Eigentlich gilt die Faustformel, dass Verschüttete innerhalb von 72 Stunden gerettet werden müssen", erklärt Gert Friedsam. Dass die Einsatzkräfte jemanden nach mehr als 130 Stunden gerettet hätten, zeige, dass es sich dabei aber nur um einen allgemeinen Richtwert handele. "Die Chancen, Menschen lebend zu befreien, sind stark von den gegebenen Umständen abhängig."

Die Überlebenden, die jetzt noch gefunden werden, müssen Zugang zu Flüssigkeit gehabt haben – etwa zu Regenwasser, Schnee oder Vorräten. Denn normalerweise liegt die kritische Grenze, bis zu der ein Mensch ohne Wasser auskommen kann, bei 72 Stunden. Trinkt man länger nicht, wird es lebensbedrohlich.

Die Chancen, Menschen lebend zu befreien, sind stark von den gegebenen Umständen abhängig.

Gert Friedsam, THW

Je nach körperlicher Verfassung können Menschen deutlich länger auf Essen verzichten. Dabei spielen die Fettreserven am Körper eine entscheidende Rolle: Sie schützen die Organe und ermöglichen es dem Körper, dass er durch Zittern selbst produzierte Wärme speichern kann. Weil Kinder und alte Menschen meist weniger Körperfett haben, neigen sie leichter dazu, zu unterkühlen. Wichtig ist den Fachleuten zufolge außerdem, dass die Personen unverletzt sind. Denn wer etwa Blut verliert, habe deutlich schlechtere Chancen, bis zu einer Rettung durchzuhalten.

Eine Rettungskraft in THW-Kleidung steht mit einem Suchhund vor den Trümmern eines bei einem Erdbeben eingestürzten Hauses.
Verschüttete können in Hohlräumen von eingestürzten Gebäuden unter bestimmten Bedingungen etwas länger überleben. Bildrechte: MDR/THW

Hohlräume bieten Schutz

Wie gut die Überlebenschancen in einem eingestürzten Gebäude sind, hängt auch von der Bauweise ab, heißt es vom THW. Dem Koordinator des Türkei-Einsatzes, Martin Zeidler, zufolge, gibt es in der Region viele Bauten aus geschütteten Betonplatten. Wenn diese zusammenstürzten, bildeten sich häufig Hohlräume. Er schätzt, dass Verschüttete darin rund fünf bis sieben Tage überleben könnten, wenn sie Zugang zu Wasser hätten. Außerdem brauche es in vielen Fällen eine Sauerstoffblase zum Überleben.

Die Erfahrungen zeigen, dass verschüttete Erwachsene meist etwas länger überleben als Kinder. Allerdings hat hier wieder die Bauweise der Gebäude einen Einfluss: Weil Kinder kleiner sind, passen sie häufiger in die Hohlräume zwischen den Trümmern, die auch Quetschungen verhindern.

Kalte Temperaturen Fluch und Segen

Neben dem fehlenden Zugang zu Wasser, ist auch das Wetter ein großes Problem: Es ist sehr kalt im Katastrophengebiet. Für die Verschütteten waren die kalten Temperaturen allerdings Fluch und Segen zugleich. Direkt nach dem Beben halfen sie einige Zeit dabei, Energie zu sparen, denn durch die Kälte verlangsamt sich der Stoffwechsel. Die Menschen verbrauchen also weniger Energie und können dadurch länger ohne Nahrung auskommen. Andererseits droht natürlich die Gefahr, bei Minusgraden zu erfrieren.

Doch nach längerer Zeit sorgt das eisige Wetter dafür, dass die Überlebenschancen deutlich sinken, erklärt Professor Bernd Böttiger, Bundesarzt des Deutschen Roten Kreuzes und Direktor an der Uniklinik Köln. "Wie lange man in einer solchen Situation überleben kann, hängt von sehr vielen Faktoren ab: Wetter, Wasserzufuhr, körperliche Konstitution", erklärt er. Die Umweltbedingungen der winterlichen Temperaturen treffen vor allem Kinder, so Böttiger. "Sie kühlen schneller aus als Erwachsene."

Mehrere Einsatzkräfte in THW-Kleidung laufen mit Suchhunden durch eine Straße, die von Trümmern von bei einem Erdbeben eingestürzten Häusern gesäumt ist.
Das THW ist mit seiner Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (SEEBA) im Erdbeben-Gebiet. Bildrechte: THW

Trotz der ständig sinkenden Überlebenschancen besteht aber noch ein Funken Hoffnung bei den lokalen Rettungskräften. Denn "Wunder-Rettungen" nach Erdbeben geschahen auch in der Vergangenheit immer wieder. Einen besonders extremen Fall gab es zum Beispiel 2005 in Pakistan. Dort soll eine Frau mithilfe von Essensresten und Regenwasser zwei Monate lang unter den Trümmern überlebt haben. Dennoch: Geschichten wie diese sind selten. Und mittlerweile erschwert die Sicherheitslage im Katastrophengebiet die Rettung zusätzlich: Mehrere internationale Organisationen haben ihre Arbeit pausiert.

(kie)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 12. Februar 2023 | 19:30 Uhr

404 Not Found

Not Found

The requested URL /api/v1/talk/includes/html/f8c2e67e-7d79-424f-851b-8c37a50c7b8c was not found on this server.