Münchner Corona-Infektionen Corona: Die meisten Ansteckungen im direkten Umfeld
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04. Juni 2020, 17:16 Uhr
Forscher haben genau analysiert, wie die ersten 16 deutschen Coronapatienten Covid-19 bekamen. Zuerst kam es bei einem Firmenmeeting zu Ansteckungen, anschließend in den Haushalten der Infizierten.
Ende Januar ist eine mit Corona infizierte Chinesin zu Gast beim Autozulieferer Webasto nahe München. In den Wochen darauf haben sich insgesamt 16 Personen in vier verschiedenen Generationen mit Sars-CoV-2 infiziert. Damals gelingt den Gesundheitsämtern noch, was später scheitert: Alle Infizierten werden rasch aufgespürt und müssen sich in Quarantäne begeben. Anschließend überprüfen die Mitarbeiter des Gesundheitsamts insgesamt 241 Menschen, mit denen die Angesteckten zuvor Kontakt hatten. So kann die Infektionskette schließlich unterbrochen werden.
Corona: Ansteckungsrisiko vor allem im Haushalt
Im Fachjournal "The Lancet Infectious Diseases" beschreiben Merle M. Böhmer von Bayerischen Landesamt für Gesundheit und ihre Kollegen jetzt, wie die Infektionskette in diesem Münchner Cluster abgelaufen ist. Die detailgenaue Analyse zeigt: Hier gingen nahezu alle Ansteckungen auf Kontakte im direkten Umfeld zurück.
Waren Infizierte mit weiteren Menschen zusammen in Isolation, beispielsweise mit ihrer Familie, lag die sogenannte Attack-Rate bei 75 Prozent. Das bedeutet, 75 Prozent derjenigen, die dem Virus ausgesetzt waren, haben sich auch angesteckt. Wurden Infizierte von ihrem Haushalt isoliert, weil sie in Krankenhaus gebracht wurden, lag die Attack-Rate nur noch bei 10 Prozent. Bei Kontakten außerhalb der Haushalte, also etwa bei der Arbeitsstelle, lag das Ansteckungsrisiko nur noch bei 5 Prozent.
Ein Infizierter ohne Symptome steckte weitere Menschen an
Da, wo sich Ort und Zeitpunkt der Ansteckung genau bestimmen ließ, stellten die Forscher einen Fall fest, in dem ein Mensch Coronaviren übertrug, obwohl er selbst noch keine Symptome hatte. Vier weitere Infizierte steckten andere Menschen an dem Tag an, als bei ihnen Symptome einsetzten. Die sogenannte asymptomatische Virusweitergabe spielte also auch in München eine Rolle. Eine Erbgutanalyse der Viren zeigte, dass sie innerhalb von elf Tagen bei der Weitergabe über insgesamt vier Generationen zwei Mal mutierten.
Andere Clusteranalysen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was die Weitergabe des Virus durch Patienten ohne Symptome angeht. Beim Ausbruch in einem Callcenter in Südkorea spielte die asymptomatische Ansteckung praktisch kaum eine Rolle. In einer Berghütte in Frankreich wiederum gab es einen asymptomatischen Patienten, der genauso viele Viren weitergab, wie seine Kollegen mit Symptomen. Analysen von sieben Clustern in Singapur wiederum zeigten zahlreiche Ansteckungen vor Symptombeginn.
Abweichende Ansteckungszeiträume machen Kontrolle der Virus so schwierig
Für die Gesundheitsämter stellt dieser lange Zeitraum der möglichen Virusweitergabe eine erhebliche Schwierigkeit bei der Verfolgung von Verdachtsfällen dar, erklärt Daniela Schmid von der österreichischen Gesundheitsagentur. 4,46 Tage dauere es im Schnitt von der Ansteckung bis zur eigenen Infektiosität. Dieser Zeitraum könne aber auch zweieinhalb Tage kürzer oder länger sein. "Das bedeutet auch, dass das kürzeste Intervall bei zwei Tagen liegt, was das Virus so heimtückisch macht im Vergleich zum Beispiel zu den Masern, bei denen das Intervall bei circa sieben Tagen liegt. Ich habe einfach wenig Zeit, die Kontakte in den Folgegenerationen ausfindig zu machen, bevor sie selbst zum Fall und damit zum Spreader werden", sagt Schmid.
Vor allem in der Schule gibt es keine relevanten Übertragungen.
Allerdings seien derzeit vor allem Ansteckungen im direkten Umfeld beobachtbar. "Mit Beginn der Lockerung nach Ostern in Österreich können wir sagen, dass die Verbreitung noch nicht in die Freizeitaktivitäten zurückgekehrt ist, sondern sich nach wie vor vorrangig auf die Pflegeheime und Klöster beschränkt. Vor allem in der Schule gibt es keine relevanten Übertragungen."
Ansteckung mit Corona vor allem bei direkten Kontakten
Annelies Wilder-Smith arbeitet als Gesundheitswissenschaftlerin an Forschungseinrichtungen in London und Heidelberg. Sie stellt mit Blick auf die Studien fest, das Ansteckungsrisiko sei am höchsten bei engen Kontakten. Sporadische Kontakte etwa beim Einkaufen, scheinen nicht für die Mehrzahl der Infektionen verantwortlich zu sein. "Die meisten Übertragungen finden innerhalb von Haushalten und bei anderen unmittelbaren Kontakten statt. Das ist die Botschaft, die auch mit der Analyse des Ausbruchs von Wuhan vermittelt wurde."
Gegenbeispiele gebe es derzeit nur in den USA, wo viele Infektionen in Lebensmittelgeschäften und in Bussen stattgefunden hätten. "Attack Rates in Umgebungen, in denen keine Maßnahmen ergriffen werden, liegen zwischen 20 und 100 Prozent, wobei es sich bei Letzteren um Familiencluster handelt", erklärt Wilder-Smith.
Ein enger und längerer Kontakt erhöht definitiv das Risiko einer Infektion, aber ein kürzerer Kontakt – zum Beispiel bei Busfahrern oder in Lebensmittelgeschäften – schließt eine Übertragung nicht aus.
Apps sollen Kontaktverfolgung einfacher machen
Zentral für die Kontrolle sei die Kontaktnachverfolgung. "Modellierungen haben gezeigt, dass, selbst wenn man nur etwa 80 Prozent der Kontakte identifiziert, man die Reproduktionsrate unter 1 bringen kann." Da aber viele Infizierte sich nicht genau erinnern können, zu wem sie innerhalb von fünf Tagen Kontakt hatten, hofft Wilder-Smith auf die baldige Einführung entsprechender Apps. "Die Ermittlung von Kontaktpersonen muss durch digitale Technologien verbessert werden."