Heinsberg-Studie Jeder fünfte Corona-Infizierte hatte keine Symptome
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07. Mai 2020, 16:38 Uhr
Seit Wochen wird über die Heinsberg-Studie diskutiert, die den ersten großen Corona-Ausbruch in Deutschland untersucht hat. Jetzt haben die Forscher ihre Daten erstmals schriftlich vorgelegt. Die zeigen: Über 20 Prozent der Infizierten hatten keine Symptome. Damit lag die Sterberate niedriger als bisher geschätzt: bei etwa 0,36 Prozent aller Infizierten.
In Deutschland nimmt die Corona-Krise am 15. Februar so richtig an Fahrt auf: in der Gemeinde Gangelt, Landkreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. Ein mit Corona infizierter 47-Jähriger besucht eine Karnevalssitzung, zusammen mit 300 anderen Menschen. Das Ereignis wird zum "Superspreader-Event". Es ist der Ursprung einer langen Infektionskette, die den Landkreis schließlich zu einer dem am schwersten von Corona betroffenen Gegenden in Deutschland macht, einem sogenannten Hoch-Prävalenz-Gebiet.
Zunächst Kritik an der Heinsberg-Studie
Heinsberg wird damit besonders interessant für die Wissenschaft. Wie viele Menschen steckt ein Infizierter an, wie verlaufen die Infektionen im Durchschnitt, wie viele Menschen sterben daran? All diese Fragen lassen sich in Gangelt besonders gut studieren. Sechs Wochen nach dem Ausbruch untersucht ein Team um den Bonner Virologen Hendrik Streeck 405 Haushalte mit insgesamt 1.007 Personen in Gangelt mit Fragebögen und Tests.
Wer war infiziert und wie sind die Infektionen verlaufen? Nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse bei einer Pressekonferenz gibt es auch Kritik an der Studie: Sind wirklich bereits 15 Prozent der Bevölkerung immun gegen Covid-19, oder waren eher Tests oder die Auswahl der Getesteten fehlerhaft? Genau ließ sich das zunächst nicht prüfen, da die Wissenschaftler ihre Daten noch nicht schriftlich vorgelegt hatten.
Antikörpertest gegen Corona war genau
Das haben die Forscher um Hendrik Streeck nun am Montag (4. Mai) nachgeholt. Als Vorabdruck liegt die sogenannte Heinsberg-Studie nun auf einem Server der Bonner Uniklinik vor. Dabei können sie einige Zweifel an der Untersuchungsmethode ausräumen. Beispielsweise war zunächst unklar, ob die verwendeten Antikörpertests wirklich nur das Sars-2-Virus erfassen oder auch auf die gewöhnlichen Erkältungs-Corona-Viren anspringen.
"Eine Kreuzreaktivität gab es nur mit dem Sars-1 Virus, das spielt bei uns aber keine Rolle", sagt Streeck. Der verwendete Test sei laut einer Herstellerfirma zu 99,1 Prozent spezifisch. Bei Kontrollen mit Neutralisationstests kommt das Bonner Instituts immer noch auf 98 Prozent der Fälle, in denen das Testergebnis richtig sei. Gemessen wurden IgG Antikörper.
15 Prozent der Untersuchten in Gangelt waren infiziert
Den Daten zufolge konnten die Wissenschaftler bei 919 von insgesamt 1.007 Studienteilnehmern feststellen, ob sie infiziert waren oder nicht. Dazu verwendeten die Forscher neben dem Antikörpertest auch PCR-Tests, um die aktiven Infektionen zu erfassen. Außerdem bezogen sie durch die Befragung die Testergebnisse des Gesundheitsamts ein. In der Gruppe der Untersuchten waren Kinder leicht unter und Menschen über 65 Jahren leicht überrepräsentiert.
Das Gesamtbild zeigt: 15 Prozent der untersuchten Personen waren bereits mit dem Virus infiziert. Das Gesundheitsamt in Heinsberg war bislang davon ausgegangen, das nur drei Prozent der Bevölkerung vor Ort Corona hatten. "Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass auch 15 Prozent immun sind", stellt Streeck klar. Auf Basis dieses Unterschiedes könne man nun bessere Schätzungen über die Dunkelziffer von Corona-Infektionen abgeben, sagte Streeck bei einer Pressekonferenz am Montag.
Jeder fünfte erlebt keine Symptome
Spannend an den Daten ist vor allem der Befund, dass 22,2 Prozent der Infizierten keinerlei Symptome erlebt haben, also asymptomatische Verläufe hatten. Hingegen berichten diejenigen, die an Karnevalssitzungen teilnahmen, öfter über besonders viele Symptome und eher schwere Verläufe. "Lautes Sprechen und Singen ist offenbar mit mehr Infektionsweitergabe verbunden", sagt Gunther Hartmann von der Universität Bonn, ebenfalls Autor der Studie.
Die Daten seien allerdings nur bedingt auf ganz Deutschland übertragbar, da es große Unterschiede gebe zwischen Gebieten mit sehr vielen und solchen mit nur wenig Infektionen. Das gelte auch für die Sterberate, sagen die Wissenschaftler. Im Untersuchungszeitraum starben in Gangelt insgesamt sieben Menschen an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Bezieht man alle entdeckten Infektionen ein, ergibt sich eine Sterblichkeitsrate von 0,34 Prozent. Das ist deutlich weniger als die bislang angenommenen ein bis fünf Prozent.
Vorsicht bei der Aussagekraft der Sterblichkeitsrate
Besonders bei dieser Aussage sei aber Vorsicht angebracht, sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Die Fallzahl in der Studie sei insgesamt sehr gering. Schon zwei oder drei Tote mehr, die vielleicht übersehen worden seien, würden die Rate rasch in die Nähe der Marke von einem Prozent bringen.
"Man kann auch argumentieren, dass der Anteil der Verstorbenen in Gangelt eher ungewöhnlich niedrig ist", sagte Krause bei dem Pressebriefing. Zu dem Zeitpunkt der Studie habe es noch wenig Eintrag des Virus in Seniorenheime gegeben. Das passiere jetzt erst seit einigen Wochen. Dieser Eintrag sei aber sehr entscheidend dafür, wie sich die Sterblichkeitsrate entwickele, sagte der Wissenschaftler, der nicht an der Heinsberg-Studie beteiligt war.
Studie liefert gute Ausgangsbasis
Krause hatte nach der ersten Pressekonferenz vor einigen Wochen zusammen mit dem Virologen Christian Drosten Zweifel an einigen der Aussagen der Heinsberg-Studie geübt. Jetzt, nach Veröffentlichung der Daten, stellt er aber klar: "Das ist eine sehr gute Ausgangsbasis. Es sind die ersten Daten, die für Deutschland vorliegen. Damit können wir arbeiten."
Update 7.5.: Mehrere Wissenschaftler haben gegenüber dem Südwestrundfunk kritisiert, die Schätzungen zur Dunkelziffer seien für Deutschland falsch hochgerechnet worden.
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