Pisa 2023 Sollen wir den Fremdsprachenunterricht an Grundschulen opfern?
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23. Juni 2024, 18:00 Uhr
Die Pisa-Ergebnisse von 2023 zeigen: Schüler in Deutschland haben nicht nur in Mathe Probleme, sondern beherrschen auch immer weniger Kompetenzen in ihrer Muttersprache. Wie sinnvoll ist es dann, in der Grundschule eine Fremdsprache zu unterrichten, dafür Zeit aufzuwenden und Lehrer zu binden, wenn es schon in Deutsch nicht klappt?
Dass der Fremdsprachenunterricht an Grundschulen sinnvoll ist, darüber waren sich die Kultusminister der Länder 2004 einig. Damals beschlossen sie, ihn verbindlich in die Lehrpläne aufzunehmen und begründeten das unter anderem mit den günstigen Lernvoraussetzungen der Kinder in diesem Alter. Zeitlich noch nah am Muttersprachenerwerb, können sie auf angeborene Spracherwerbsmechanismen zurückgreifen; das Imitieren fällt ihnen leicht. Sie begegnen Neuem spontan und ohne Scheu, mit Freude und Neugier. Das hilft ihnen nicht nur, Englisch oder Französisch zu lernen, sondern motiviert sie auch darüber hinaus.
Freude am Fremdsprachenunterricht verbindet und motiviert für alle Fächer
Das bestätigt die Studie von Jutta Rymarczyk, Expertin für Fremdsprachendidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie hatte mit ihrem Team 1.624 Kinder an dritten und vierten Klassen der Grundschulen in Baden-Würtemberg befragt, wie sie den Englisch- und Französischunterricht erleben. Das Ergebnis: Eine große Mehrheit, also 1.355 von ihnen, haben "viel“ und "sehr viel“ Freude daran. Knapp die Hälfte aller befragten Schüler würde sogar schon in der ersten Klasse damit beginnen. Das seien vor allem Kinder, die mehrsprachig aufwachsen und denen es schwerfällt, dem deutschsprachigen Unterricht zu folgen, so Rymarczyk. "Im Fremdsprachenunterricht haben sie jedoch Erfolgserlebnisse, weil sie über Erfahrungen im Erlernen einer Zweitsprache verfügen oder diese Sprache sogar bis zu einem gewissen Grad beherrschen". Darüber hinaus hätten die Stunden auch eine soziale Funktion. Für alle Kinder sei das Fach neu und sie säßen daher in einem Boot. "Das gibt ein Gefühl von Sicherheit. Neben den Erfolgserlebnissen und der Anerkennung durch die Peer Group ist das für die Ausbildung des Selbstwertgefühls und die Identitätsfindung von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit“, schätzt die Studienautorin ein.
Spielend Erfolg erleben trägt durch den Schulalltag
Das erlebt auch Ulf Mende-Wegener in seiner täglichen Arbeit als Lehrer an der Grundschule im sächsischen Brand-Erbisdorf. Er erklärt, warum die Kinder gern in die Englischstunden kommen: "Das spielerische Prinzip ist hier die didaktische Verknüpfung zum Lehrplan. Das finden Kinder spannend. Sie merken: auch mit Spielen kann ich Erfolg haben, vor allem zunächst beim Sprechen.“
Was das ganz praktisch bedeutet, beschreibt Selma, die im Rahmen des Englischunterrichts an einer kleinen Zirkusvorstellung mitgewirkt hat. "Wir durften uns aussuchen, wer wir in der Manege sein wollten. Ich war Animaltrainer und habe einen ausgedachten Parrott, einen Papagei, für die Vorstellung trainiert“. Dann zählt sie auf, welche Kunststücke das Phantasietier unter ihrer Anleitung gelernt hat: jump, run, turn around. Springen, rennen, sich drehen. Auch die Worte für die Vorführungen der anderen Kinder hat sie sich gemerkt: Es gab einen wizard, einen Zauberer und eine dog show, eine Hundeshow. Scheinbar mühelos hat sie sich die neuen Vokabeln eingeprägt.
"Diesen Erfolg tragen die Kinder durch ihren Schulalltag dann auch in andere Fächer. Das ist ein großer Zugewinn.“, so Ulf Mende-Wegener. Hinzu komme, dass viele bereits einen kleinen Wortschatz aus dem Alltag mitbringen, notebook, laptop, computer mouse zum Beispiel. Dieses Vorwissen lasse sich mit möglichst allen Sinnen, auch spielerisch aktivieren. In der Grundschule zielt das vor allem auf das produktive Sprechen und verstehende Zuhören ab. Nur in Ansätzen wird die Schriftsprache eingeführt. Doch bei allem Sinn fürs Spielerische sei die Orientierung an einem verbindlichen Lehrplan wichtig, besonders, um den Übergang auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten.
Englisch und Französisch ab Klasse 5 bauen auf Grundschulwissen auf
Claudia Maaß, Englischlehrerin für Gymnasium und Oberschule, erinnert sich, wie es war, bevor 2006/2007 einheitliche Lernzielvorgaben eingeführt wurden: "Manche Grundschüler hatten damals überhaupt keinen Englischunterricht, manche spielerisch. Auch die Stundenanzahl war unterschiedlich. Da hatte ich Probleme, alle innerhalb eines Halbjahres auf ein Level zu bekommen“. Das sei heute wesentlich besser und sie könne an das anknüpfen, was an der Grundschule erarbeitet worden ist. Aber sie erlebt auch, dass der Wechsel vom spielerischen Lernen zum Hauptfach mit Grammatik- und Rechtschreibregeln für viele Schüler eine große Herausforderung ist. Dann sei es schnell vorbei mit der Freude am Lernen, weiß sie aus Erfahrung. Es überfordere viele, dass dann plötzlich die Schriftsprache eine so große Rolle spielt. Deshalb wünscht sie sich, dass diese bereits in der Grundschule stärker eingeführt wird. "Das ist für jüngere Kinder eigentlich kein Problem, sie begreifen sehr schnell, dass der jeweilige Buchstabe in der einen Sprache so ausgesprochen wird und in der anderen anders. Wenn man zu lange damit wartet, denken sie sich ein Schriftbild, prägen es sich falsch ein, und das dann zu korrigieren, ist schwer".
Abgestimmte Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien fehlen
Auch Ulf Mende-Wegener sieht dieses Problem, und er sieht den didaktisch-methodischen Spagat, den Lehrer wie Claudia Maaß in den Klassenstufen fünf und sechs leisten müssen. Er fordert daher eine Abstimmung der Lehrpläne zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen sowie die Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse zum Fremdsprachenerwerb, um den vorgegebenen Leistungssprung meistern zu können. Zudem fehle es an qualifizierten Lehrkräften und durchgängigen Lehrwerken von Einführung des Englischunterrichts bis Klasse 10. Claudia Maaß gibt zu bedenken, ob die Lernziele vor allem für die Oberschüler die richtigen seien. Sie fragt sich, was die Schüler, denen es schwerer fällt und die in praktische Berufe gehen wollen, überhaupt können müssen: Sich mit anderen verständigen, im Ausland die richtige Zugverbindung finden, nach dem Weg fragen. Hier werde noch zu sehr mit universitärer Perspektive gedacht. Dafür, dass der Fremdsprachenunterricht unter diesen Aspekten weiterentwickelt wird, engagieren sich Ulf Mende-Wegener und Claudia Maaß in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Sachsen.
Englischunterricht ist ein "Ja!-Fach"
Vor allem jedoch stehen sie täglich vor ihren Klassen und hinter dem Fach Englisch. Sie selbst nennen es "Ja-Fach!". Damit es das auch für ihre Schüler bleibt, ist beiden wichtig, dass sie die Freude und die Erfolgserlebnisse auch an der weiterführenden Schule erleben. Dazu gehört, Ziele zu setzen, die auch erreichbar sind, zu fordern, ohne zu überfordern. Claudia Maaß beschreibt das so: "Ich muss schauen, was für den einzelnen Schüler möglich ist. Wenn ich sehe, dass er Zuhause keine Unterstützung bekommt oder aus einem anderen Grund die Hausaufgaben nicht funktionieren, muss das Lernen in der Schulzeit passieren. Damit kann ich Enttäuschung und Frustration auf beiden Seiten vermeiden." Dazu gehört auch, dass die Schüler auf einem entsprechenden Basiswissen aufbauen können, das sie aus Klasse 3 und 4 mitbringen. Denn in diesem Alter haben Kinder die besten Voraussetzungen, sich mit einer Fremdsprache vertraut zu machen. Je eher sie damit beginnen, desto besser das Lese- und Hörverstehen, wie die Studie von Raphaela Porsch et al. (2023) zeigte. Auch deshalb ist der Englischunterricht an der Grundschule sinnvoll.
Links/Studien
Betrachtungen zum Englischunterricht in Grund- und Sekundarschulen, Ulf Mende-Wegener
Je früher, desto besser? Englisch ab Klasse 1 oder 3 und die Auswirkungen auf das Hör- und Leseverstehen, Studie von Eva Wilden, Raphaela Porsch und Markus Ritter
krm
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. Juni 2024 | 20:09 Uhr
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