Drei typische silberne Tablettenpackungen, aus denen alle Tabletten bereits entnommen wurden. Daneben eine einzelne weiße Tablette.
Ein Versorgungsmangel mit Arzneimitteln wie im vergangenen Winter muss 2023/2024 nicht eintreten – kann aber. Bildrechte: imago/Pond5 Images

Pharmazie Arzneimittel-Knappheit: Fachleute befürchten erneut Engpässe im Winter

05. September 2023, 17:23 Uhr

Die Arzneimittelknappheit aus dem vergangenen Winter hängt Apotheken und Verbrauchenden noch nach, da steht schon der nächste Winter in den Startlöchern: Was haben die Maßnahmen des Gesundheitsministers gebracht? Und wie wird die Lage in den kommenden Monaten aussehen? Fakt ist: Es braucht mehr Weitblick bei der Produktion von Medikamenten.

  • Forschende halten Maßnahmen des Lieferengpassgesetz bei Arzneimitteln für eine Notlösung
  • Für eine nachhaltige Lösung fehle nach wie vor ein Plan
  • Der nächste Winter kann mit dem vorherigen nicht verglichen werden


Dieses Gesetz ist eines, wie es nur die deutsche Gesetzgebung zu formulieren imstande ist: Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz. Und weil es auch die offizielle Abkürzung ALBVVG nicht besser macht, sagen wir einfach "Lieferengpassgesetz". Rückblick: Das Lieferengpassgesetz war eine kurzfristige Maßnahme der Bundesregierung, im vergangenen Frühjahr auf die brenzlige Versorgungslage bei verschiedenen Arzneimitteln zu reagieren. Im vergangenen Winter waren in einer großen Infektionswelle etwa Fieber- und Hustensäfte für Kinder nur eingeschränkt lieferbar. Als Gegenmaßnahme wurden Krankenkassen beispielsweise dazu ermutigt, nicht nur Verträge mit den günstigsten Medikamentenherstellern einzugehen, die oft außerhalb der EU ansässig sind. Den Apotheken sollte zudem der Import von in Deutschland nicht zugelassenen Antibiotikasäften für Kinder erleichtert werden. Außerdem sollten einige Medikamente großzügiger bevorratet werden.

Lieferengpassgesetz: Mal eben okay, aber keine Langfristlösung

"Die erleichterten Importbedingungen waren gut und haben uns zumindest rechtlich aus dem Graubereich geholt", resümiert Torsten Hoppe-Tichy. Er leitet die Klinikapotheke am Uniklinikum in Heidelberg. Hoppe-Tichy gibt allerdings zu bedenken: "Die Umsetzung der nun im Bereich Krankenhausapotheke geltenden Maßnahmen, etwa der Acht-Wochen-Vorrat bei intravenösen Mitteln und Antibiotika, neben anderen Arzneimitteln, ist schwierig." Er rechnet vor: Pro Tag würde die Klinik eine Palette einer Elektrolyt-Lösung verbrauchen. Aus den Maßnahmen zur Bevorratung folge dann, dass zur Lagerung nur dieser Infusionslösung 56 Palettenstellplätze zur Verfügung stehen müssten. "Einige Klinikapotheken haben für diese zusätzlichen Lagerflächen schon externe Räume oder gar Gebäude angemietet."

Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie an der Uni Würzburg, nähert sich der Sachlage von der anderen Seite: "Wo sollen die Antibiotika und Schmerz- beziehungsweise Fiebermittel herkommen, die in die Lager gelegt werden sollen? Die Produktion ist weltweit am Anschlag. Nur sehr wenige Hersteller können mehr produzieren." Die Alternative sei es, anderen Ländern die Ware vor der Nase wegzuschnappen. So kaufe Deutschland jetzt bei einem indischen Hersteller Antibiotika, die eigentlich für den amerikanischen Markt vorgesehen waren. "Mit allen Problemen, die damit verbunden sind." Logistische Herausforderungen seien Holzgrabe zufolge dabei nicht das Schlimmste. Sie verweist auf Berichte, wonach dem indischen Hersteller ein Vielfaches von dem gezahlt würde, was das Medikament aus europäischer Produktion kosten würde.

Alle anderen Europäer benötigen dieselben Arzneimittel dieser sogenannten Dringlichkeitsliste.

Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe Uni Würzburg

Holzgrabes Blick auf die kommenden Monate ist nicht gerade mit überbordendem Optimismus unterfüttert: "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie wir die Situation in den Griff bekommen sollen. Das sieht man an den Handlungen des Gesundheitsministers, die sehr von Panik getrieben sind." Sie argumentiert, dass durch die Dringlichkeitsliste und die Beschaffung der Medikamente der vom Ministerium eingerichtete Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe übergangen wurde. Und damit wichtige Fachleute aus der Arzneimittelproduktion und -verteilung, die hier eigentlich zusammen an einem Tisch sitzen.

Medizin-Generika: Mit Pharma-Lobby sprechen, um Lieferketten zu verstehen

"Statt mit den Grundversorgern, den Generika-Herstellern, wenigstens mal zu sprechen, versucht er den Markt leerzukaufen. Aus der Sicht der deutschen Patienten mag das vordergründig eine Lösung zu sein", räumt Holzgrabe bei ihrer Kritik zu Karl Lauterbachs (SPD) Vorgehen ein. Eine nachhaltige Lösung sei das aber nicht, vor allem nicht, weil wir in Europa nicht alleine sind. "Alle anderen Europäer benötigen dieselben Arzneimittel dieser sogenannten Dringlichkeitsliste. Das wird also zu einem Verdrängungswettbewerb führen."

Stattdessen müssten Gespräche mit Grundversorgern folgen, um herauszufinden, was im Augenblick möglich sei. Die Rede ist hier von Generika, also Alternativmedikamenten auf der Basis des gleichen Wirkstoffs einer Arznei, deren Patent abgelaufen ist. Solche Generika würden viele Produktionsschritte durchlaufen. Wirkstoffherstellung, Hilfsstoffherstellung, Herstellung von Saft oder Tablette, erste Verpackung, zweite Verpackung – das sei ein weltweites, komplexes Netzwerk, das nur wenige kennen würden. "Tiefe Kenntnisse der Lieferkette sind aber erforderlich, um vernünftige Lösungen zu finden. Stattdessen generiert sich der Gesundheitsminister als 'Lobbyistenschreck' und verzichtet auf wichtigen Input von jeglicher Seite", kritisiert Ulrike Holzgrabe.

Arzneimittelherstellung wieder nach Europa verlagern

Für sie ist klar: "Zur Gewährung der Versorgungssicherheit müssen langfristig wieder mehr Produktionsstätten aufgebaut werden. Und zwar insbesondere in Europa, obgleich eine Produktion in Europa durchaus zwanzig bis dreißig Prozent teurer sein wird." In der EU seien zudem viele Lösungsansätze im Gespräch: Zuschüsse für Produktionsstätten, vereinfachte Zulassungsverfahren, vereinfachte Studiendurchführung. Die Gespräche dazu stünden erst am Anfang, "aber schnelleres und besonneneres Handeln wäre notwendig."

Klinikapothekenleiter Torsten Hoppe-Tichy sieht erstmal die pragmatischen Lösungen: "Wir brauchen ausreichende Vorräte bei Hersteller und Großhandel, vielleicht Notvorräte bei kritischen Arzneimitteln nach dem Schweizer Modell." Das Schweizer Modell ist jedoch nicht nur Vorzeigebeispiel, sondern steht auch wegen der Kosten in der Kritik, wenn diese von Verbrauchenden getragen werden müssten. Außerdem steht die Frage im Raum, wie flexibel dieses Modell ist. Langfristig sieht auch Hoppe-Tichy die Lösung auf europäischem Boden mit einer hier produzierenden Pharmaindustrie, "dabei beachtend, dass es eine Win-Win-Situation gibt und nicht zu einer einseitigen Erhöhung der Umsatzrenditen bei Pharma kommt."

Lieferengpässe im Winter 2023 auch besonderen Umständen geschuldet

Was den kommenden Winter betrifft: Hier lassen sich die Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr nicht eins-zu-eins übertragen, gibt David Francas zu bedenken. Er ist Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms. "Auch wenn die Ursachen von Lieferengpässen vielschichtig sind, wurden Lieferengpässe im Winter 2022 bei Fieber- und Erkältungsmitteln und Antibiotika durch größere Nachfrage aufgrund eines erhöhten Infektionsgeschehen nach den Corona-Jahren mitverursacht." Zudem hätte sich erschwerend ein Kinderhustensafthersteller aus dem Markt zurückgezogen.

"Die Versorgungslage im Winter 2023 wird auch davon abhängig sein, inwieweit die Hersteller die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostiziert haben und ihre Produktion und Lagerhaltung danach ausrichten konnten. Eine Hürde ist oftmals, dass sich die Produktionskapazitäten kurzfristig kaum steigern lassen, was eine Reaktion auf mögliche Mehrbedarfe erschwert." Francas verweist zudem auf das Verhalten der Marktteilnehmer und dessen Auswirkungen. So könne eine inflationäre Überbevorratung mit Arzneimitteln dazu führen, dass Lieferprobleme erst ausgelöst werden. Verbraucherinnen und Verbrauchern dürfte so ein Dilemma aus der Corona-Pandemie noch zu gut in Erinnerung sein. Eine "echte" Knappheit an Klopapierrollen gab es zumindest nie.

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