Reportage Blind unter Sehenden: Die Chemnitzerin Kathrin Gießner zeigt uns ihren Alltag
Hauptinhalt
04. April 2022, 04:00 Uhr
Blinde sehen schwarz, sind hilflos und können nicht selbständig leben: Kathrin Gießner kennt die Klischees. Sie ist von Geburt an blind und setzt sich im Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen dafür ein, aufzuklären und Barrieren abzubauen, die Sehende gar nicht wahrnehmen. Sie hat uns mitgenommen auf ihrem Weg von Chemnitz zur Arbeit im Deutschen Zentrum für Barrierefreies Lesen nach Leipzig – und durch ihren Alltag.
Ein Mix aus tausenden Geräuschen dröhnt vor dem Leipziger Hauptbahnhof. Davon umgeben orientiert sich Kathrin Gießner mit ihrem Langstock beim Überqueren der Straße. Die 43-Jährige ist auf dem Weg zu den Straßenbahnhaltestellen. Was das an lärmenden Orten wie diesem bedeutet, kann sich ein sehender Mensch nur schwer vorstellen.
Pendeln von Chemnitz nach Leipzig
Kathrin Gießner muss diesen Weg immer wieder auf sich nehmen – durch einen Hauptbahnhof ohne vollständiges Leitsystem, durch Ansammlungen von Menschen, die ihr mal mehr, mal weniger rücksichtsvoll begegnen, durch plötzliche Hindernisse wie wild abgestellte Fahrräder oder Roller, an denen ihr Langstock hängen bleibt. Sie kennt es nicht anders, Kathrin Gießner ist seit ihrer Geburt vollblind. Heute lebt sie in Chemnitz und pendelt zu ihrer Arbeit im Deutschen Zentrum für Barrierefreies Lesen in Leipzig.
Teamarbeit am DZB: Bücher für blinde Menschen
Dort werden Bücher in die Braille-Schrift übertragen. Kathrin Gießner überprüft gemeinsam mit ihrer Kollegin Uta Tschirner, ob die Übersetzung korrekt ist.
Dazu liest sie die Punktschrift laut vor, ihre Kollegin kontrolliert, ob das Gesagte mit dem Text im Buch übereinstimmt.
Das ist meine große Leidenschaft, dass Bücher in Braille-Schrift erscheinen können und gelesen werden.
In einer Schicht von vier Stunden schaffen die beiden etwa 60 bis 70 Seiten. Sind die Fehler korrigiert, geht das Buch in den hauseigenen Druck. Dabei helfen zu können, dass Bücher in Braille-Schrift erscheinen, empfindet sie als Privileg. Die Schrift für Blinde zu beherrschen, bedeutet für ihren eigenen Alltag Eigenständigkeit und damit Lebensqualität.
Stichwort: Deutsches Zentrum für Barrieres Lesen
*Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen (kurz: dzb lesen) wurde 1894 als Deutsche Zentralbücherei für Blinde gegründet.
*Sie ist die älteste öffentliche Blindenbibliothek Deutschlands.
*Der Bestand umfasst 19.000 Braillebuchtitel, über 50.000 Hörbücher und 7.500 Braille-Noten.
*Jährlich kommen mehrere hundert Neuerscheinungen dazu. Nach erfolgter Auswahl werden die Bücher digital in Braille übertragen, Korrektur gelesen, in Druck gegeben und schließlich gebunden.
*Ein herkömmlicher Roman erscheint in mehreren Bänden, da die Punktschrift deutlich mehr Platz braucht.
Engagement für mehr Barrierefreiheit
Ehrenamtlich arbeitet Kathrin Gießner außerdem beim Blinden- und Sehbehindertenverband, um sich für den Abbau von Barrieren für Menschen mit Sehbehinderung einzusetzen. Etwa im Nahverkehr, wo sie für bessere Leitsysteme auf dem Boden und barrierefreie Haltestellen streitet. Am Herzen liegt ihr auch der sogenannte Nachteilsausgleich. Dabei erhalten Blinde und Sehbehinderte besondere Leistungen, die ihnen ein gleichberechtigtes Leben ermöglichen sollen. Das reicht vom Blindengeld über die finanzielle Unterstützung beim Wohnen bis hin zu Hilfen bei Arbeit, Ausbildung und Studium. Darum zu kämpfen sei wichtig:
In unserer Welt der Sehenden werden Blinde oft nicht mitbedacht.
Auf die Frage, worum sie die Sehenden vielleicht beneide, fällt ihr nicht viel ein, außer der Spontaneität, die sie sich kaum erlauben kann: "Die Leute können einfach losgehen auf ein Konzert, ich muss mir viele Gedanken machen, beispielsweise um den Weg hin und zurück."
Goalball und Chorsingen in Chemnitz
In ihrer Freizeit spielt Kathrin Gießner leidenschaftlich Goalball im Chemnitzer Ballspiel-Club. Der Sport ist inzwischen paralympisch und unter Menschen mit Sehbehinderung sehr beliebt. Zwei Dreierteams treten dabei gegeneinander an und werfen einen rasselnden Ball abwechselnd auf ihre Tore. Die Spieler tragen sogenannte Dunkelbrillen, das heißt: Alle sind für die Zeit des Spiels vollständig blind. Am Sport schätzt Kathrin Gießner die Gemeinschaft.
Darauf gründet auch ihr zweites Hobby: das Chorsingen, das sie seit ihrer Kindheit betreibt. Mit den "Tondisteln" probt sie im Kulturhaus "Arthur" in Chemnitz. Während alle anderen Noten in der Hand halten, kommen sie und die Chorleiterin, die ebenfalls blind ist, ohne aus.
Es gibt zwar Noten in Braille-Schrift. Doch parallel noch den Text zu lesen, wäre kaum möglich. Abgesehen vom Platzmangel. So singt Kathrin Gießner alle Stücke aus dem Gedächtnis.
Beim Chor ist es völlig egal, wie alt oder ob jemand behindert ist. Das ist das Schöne.
Alltagshelfer für blinde Menschen
Auch im Alltag funktionieren einige Dinge anders als bei Sehenden. Unterstützung leisten digitale Helfer: Mit einem Farbscanner kann Kathrin Grießner ihre Wäsche vor dem Waschen vorsortieren, das Gerät liest ihr vor: "Braun, Dunkelbraun, Schwarz, Schwarz." Die Tasten der Waschmaschine haben ein besonderes Relief, Töne signalisieren die Temperaturen. Eine Vorlesefunktion des Smartphones hilft bei der Handhabung der Post. Briefe und auch andere Medien in Druckschrift kann Kathrin Gießner so scannen und hören. Eigentlich muss sie nur dafür das Licht in ihrer Wohung anschalten, das ansonsten aus bleibt. Sie braucht es nicht.
Einmal wöchentlich geht Kathrin Gießner einkaufen. Meistens mit ihrem Freund Lars. Im Supermarkt bekommen die beiden eine Einkaufshilfe zur Seite gestellt, die sie durch den Laden führt und beim Waren in den Korb packen hilft. Beide wissen sehr genau, was sie wollen und wo was steht. Als Blinde hätten sie sogar einen klaren Vorteil gegenüber Sehenden, witzelt Kathrin: "Wir lassen uns nicht ablenken von den Angeboten. Wir können sie ja nicht sehen."
Blinde Menschen in Deutschland
*Ein Mensch gilt nach deutschem Recht als blind, wenn er oder sie (mit dem besser sehenden Auge) nicht mehr als zwei Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt.
*Laut Statistischem Bundesamt gab es 2019 in Deutschland über 70.000 blinde Menschen. Zählt man dazu noch die Menschen, die 2019 mit Sehbehinderung (nicht mehr als 30 Prozent Sehvermögen) in Deutschland lebten, kommt man auf knapp 350.000 Menschen.
*Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband geht von deutlich höheren Zahlen aus.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 10. April 2022 | 08:00 Uhr