Online-Tagebuch "Hinhören beim Fernsehen!"
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Als blinder Praktikant beim MDR
07. November 2016, 08:25 Uhr
Ein Blinder beim Fernsehen? Warum nicht!, dachte sich Sebastian Schulze und bewarb sich beim MDR. Auch hier war man offen für die Idee - und hatte gleich jede Menge Aufgaben für den angehenden Kulturwissenschaftler. Wie das Praktikum läuft, erzählt Sebastian online. Immer dabei: Sein Blindenführhund Sunny!
Die erste Woche: SonntagsFragen, Bewusstwerdung und Professor Simoni
Der erste Tag: Ein Blinder beim Fernsehen? Na klar!
Es ist Montag, der 9. September 2013, und es ist der erste Tag meines Praktikums beim Fernsehen des MDR in Leipzig. Mein Name ist Sebastian Schulze, ich studiere an der Universität Leipzig Kulturwissenschaften – und ich bin blind. Sicher ist es ein wenig ungewöhnlich, dass sich ein blinder Mensch für das Fernsehmachen interessiert. Ich dachte, es wäre ja eine spannende Sache, sich um ein solches Praktikum zu bewerben, zumal ich ja auch für mein universitäres Studium verschiedenartige praktische Erfahrungen außerhalb der Vorlesungszeit sammeln soll. Nun bin ich also hier – in der Redaktion Kinder & Soziales - und sehr gespannt, was mich in den folgenden zwei Wochen erwarten wird.
Der heutige Tag dient der Einführung. Er beginnt zunächst mit einem Rundgang durch die elfte Etage. Dort arbeiten die Redakteure und Redakteurinnen des Programmbereiches Fernsehfilm/Serie/Kinder, zu dem auch die Redaktion Kinder & Soziales gehört. Redaktionsleiterin Frau Plenk stellt mir alle Kollegen vor und erklärt anschließend gemeinsam mit der Redakteurin Anke Gerstel den Plan für die kommenden Tage. Dann richtet man meinen sprechenden PC für den Internetzugang der Medienanstalt ein - für Recherchearbeiten eine unbedingte Notwendigkeit. Ich und mein Blindenführhund Sunny freuen uns schon auf morgen – jetzt geht’s erstmal in den Park, toben.
Der zweite Tag : Audiodeskription macht’s spannender
Heute, am zweiten Tag meines Praktikums, geht es um die Hörfassung einer Produktion. In den Jahren seit meiner Erblindung habe ich schon oft Filme mit einer solchen akustischen Beschreibung gesehen bzw. gehört und ich muss sagen, dass es eine sehr gute Sache ist, die Bilder beschrieben zu bekommen. Also spreche ich zu Beginn des Tages mit Herrn Müller, Redakteur im Programmbereich Fernsehfilm/Serie/Kinder über die Möglichkeiten der Audiodeskription und eventuelle Verbesserungschancen. Nach ganz viel Theorie wird es endlich praktisch: Zuerst höre ich mir eine Folge der Serie "In aller Freundschaft" ohne Hörfassung an, danach dann dieselbe Episode in beschriebener Version. Und tatsächlich: Die Bilder in meinem Kopf werden klarer, Fragen klären sich von selbst und die gesamte Handlung ist sehr viel einfacher nachzuvollziehen. Außerdem erhöht die Audiodeskription ungemein die Spannung der Handlung.
Sicher gibt es meinerseits noch Wünsche bzw. Ideen, die Beschreibung noch perfekter zu machen; z.B. könnten handelnde Personen noch ausführlicher beschrieben werden. So manches Mal fehlt eben zu einer interessanten Stimme ein Gesicht. Ansonsten aber ist der bildbeschreibende "Erzähler" ein Meilenstein auf dem Weg zur Barrierefreiheit für Sehbehinderte und Blinde. Ein Spielfilm und eine Serie, ein Naturfilm oder eine Reportage sind ohne die Hörfassung wirklich schwerer zu verstehen. Meine Vorschläge für die Verbesserung der Audiodeskription notiere ich für Herrn Müller.
Der dritte Tag: Ab in die "Bewusstwerdung"
Heute geht’s um die "SonntagsFragen" – eine Rubrik in der Sendung "selbstbestimmt!“. Jennifer Sonntag führt Gespräche mit prominenten Gästen. Sie selbst ist blind wie ich. Ich kenne die "SonntagsFragen" bereits seit einiger Zeit und bin nun gespannt, wie die Zuarbeit, also das praktische Recherchieren über zukünftige Studiogäste so abläuft. Heute nun aber erst mal die Bewusstwerdung, in welche Richtung Jennifer Sonntags Fragen gehen und was folglich für die Vorbereitungsarbeit meinerseits relevant ist.
Parallel dazu habe ich mir über die Art und Weise einer noch perfekteren Gestaltung der gesamten Sendung "selbstbestimmt!" zum besseren Verstehen der gezeigten Bilder für Blinde Gedanken gemacht. Im Großen und Ganzen ist hier nicht viel auszusetzen. Durch die Dichte der Beiträge bleibt ohnehin kaum Platz, um die Bilder akustisch zu beschreiben. Das muss in den meisten Fällen auch nicht unbedingt sein, da sich die Bilder meist selbst erklären. Anschließend, in den letzten zwei Stunden des Arbeitstages, hörte ich die Hörfassung des Films „Stilles Tal“. Thema ist die Jahrhundertflut 2002. Diese Katastrophe habe ich selbst und sehend – damals waren meine Augen noch gesund – erlebt und deshalb ist es ganz besonders interessant für mich, die Audiodeskription zu hören. …und sie ist perfekt gelungen: Knapp und schlüssig, nicht von der Handlung und der Katastrophe ablenkend und in ihrer Ausführlichkeit vollkommen ausreichend. Was für ein Glück, dass man die Audiodeskription erfunden hat. Ohne diese würde ich den Film nicht mal halb verstehen, da die Brisanz der Situation, in der sich die Menschen befinden, vor allem durch die Bilder vermittelt wird.
Der vierte Tag: SonntagsFragen - genauer hingehört!
Die Vorbereitung und Einführung in die Sendung "selbstbestimmt!" geht weiter. Neben einigen längeren Beiträgen zum Thema "Inklusion" sehe ich mir auch die ausführlicheren Interviews der Reihe "SonntagsFragen“ an. Am beeindruckendsten war das Gespräch mit Alice Schwarzer. Eine sehr angenehme Unbeschwertheit der Unterhaltung! Allerdings würde ich mir wünschen, dass man im Vorspann der Sendung, am besten als Hörspur während der Musik, das Aussehen des Studiogastes beschreibt. Zwar weiß ich, dass da gezeigt wird, wie sich Frau Sonntag auf die Sendung vorbereitet, aber diese Bilder sind für einen Blinden nicht sehr wichtig. Die kurze Beschreibung des eingeladenen Prominenten würde einen blinden Menschen schneller in die Gesprächssituation hineinversetzen.
Am Nachmittag vervollständige ich dann die Liste mit meinen Vorschlägen für die Erstellung einer perfekten Audiodeskription. Ein Auftrag, den mir Herr Müller erteilte und der nun erledigt ist!
Der fünfte Tag: Wie sieht eigentlich Professor Simoni aus?
Es ist Freitag und die erste Woche meines Praktikums fast vorbei. Der Tag beginnt mit "In aller Freundschaft“. Die Hörfassung dieser Serie ist perfekt und spannend gemacht. Nur vermisse ich manchmal die Beschreibung der Personen. Da ich die Sendung noch nie mit meinen Augen sehen konnte, bleiben die Stimmen gesichtslos. Es wäre aber doch manchmal interessant, wenn man beschreiben würde, wie beispielsweise Professor Simoni aussieht.
Die zweite Woche: Recherche, tolle Themen - und Wehmut ...
Der sechste Tag: Bergfest
Zweite Woche meines Praktikums! Sozusagen Bergfest! Für Herrn Müller habe ich mir die Audiodeskription des MDR-Films "Stilles Tal" angehört und schreibe meine Eindrücke nieder. Es sollte eigentlich nur ein kurzes Protokoll meiner Empfindungen über die Hörfassung dieser Produktion sein. Doch "leider" ist der Film so gut, dass ich bestimmt zwei A4‑Seiten schreiben werde ;-) "Stilles Tal" ist ein rundum sehenswerter Spielfilm. Auch für blinde Menschen! Die Hörfilmfassung ist absolut logisch und perfekt gemacht. Preisverdächtig!!
Von der Fiktion geht’s für mich gleich weiter zur Nonfiktion: Für die "SonntagsFragen" recherchiere ich Gäste. Heute geht’s um Leben und Karriere von Schauspieler Boris Aljinovic, bekannt als"Tatort"-Kommissar Felix Stark – ein möglicher Gast. Da ich auch für mein Studium oft im Internet bin, ist das okay für mich. Allerdings merke ich auch heute wieder, wie barrierereich einige Internetseiten sind. An blinde Nutzer wird leider nicht immer gedacht!
Der siebte Tag: Absturz
Der Dienstag beginnt mit einer Katastrophe: Mein Rechner stürzt ab. Nichts geht mehr. Der Bildschirm ist schwarz – das weiß ich, obwohl ich nichts sehen kann. Aber glücklicherweise können hier ja alle anderen sehen und so hilft Frau Gerstel weiter. Bald funktioniert alles wieder und ich kann weiter fleißig an meinem Redaktions-Tagebuch schreiben. Was für ein Glück! Ohne die Sprach-Software meines PCs bin ja total aufgeschmissen.
Nach diesem Schrecken sehe ich mir jetzt eine Reportage über Therapiehunde aus der Sendereihe "selbstbestimmt!" an. Der Film heißt "Therapeuten auf vier Pfoten – Eros und Bessy im Einsatz“. Der Film ist sehr interessant und feinfühlig gemacht! Schön wär eine Beschreibung, was die Hunde gerade machen oder wie sie reagieren. Das lässt sich einfach schwer nachvollziehen. Und da ich ja meinen Hund Sunny habe, ist es für mich doppelt interessant: Was machen die Therapiehunde? wie sind sie ausgebildet? Was können die?
Insgesamt gefallen mir die "selbstbestimmt!"-Reportagen und auch die Magazinsendungen, die ich bisher schauen durfte sehr, sehr gut!
Der achte Tag: Themen, Themen, Themen!
Heute geht’s in die Themenfindung und natürlich immer wieder um die Frage"Was kann für uns Blinde noch verbessert werden?". Mit Frau Gerstel spreche ich ausführlich und sehr intensiv über meine Ideen, die Beiträge und Reportagen für Blinde besser vorstellbar zu machen. Sie findet viele Anregungen gut und nachvollziehbar. In den vergangenen Tagen habe ich viele Produktionen gesehen bzw. angehört und mir ist aufgefallen, dass man oft eine kleine kurze Bilderklärung braucht, wenn man nicht sehen kann. Außerdem sprechen wir noch über Themen, die für eine "selbstbestimmt!"-Reportage interessant sein könnten. Gar nicht so leicht, denn die Redakteure hier haben schon in viele Lebensbereiche „reingeschaut“. Ich jeden falls wünsche mir einen Film über die Ausbildung von Blindenführhunden!
Für Herrn Müller werde ich heute "kriminell": Ich prüfe für ihn eine Hörfilmfassung vom "Tatort Leipzig". Toll!
Ich merke nach und nach: Je mehr Filme ich unter Nutzungs-Aspekten beurteilt habe - dass es zwischen den Autoren der Audiodeskreption große qualitative Unterschiede gibt. Leider gibt's zu viele Filme, die eine schlechte Hörfilmfassung mitbringen, so dass es dann echt schwerfällt, dran zu bleiben. Das macht einen Fernsehabend dann zu einer unentspannten Angelegenheit … Bei vielen Filmen ist noch viel Luft nach oben!
Der neunte Tag: "selbstbestimmt!" will vorbereitet sein
Heute wird’s echt spannend. Ich darf bei der Vorbereitung der Sendung "selbstbestimmt!" mit dabei sein und Ideen einbringen. Mit Frau Gerstel geht’s ab in die erste Etage zur Grafik. Dort werden die Bilder, die während der Moderationen gezeigt werden, ausgewählt und gestaltet. Grafiker René Gerlach und Redakteurin Anke Gerstel erklären mir ganz genau, was auf welchem Bild zu sehen ist. Ich darf sogar entscheiden, welche thematische Grafik für die Rubrik "Handicaps für Anfänger" ausgewählt wird. Ich habe mich für die "Eier-Grafik" entschieden. Die beiden haben mir erklärt, dass man eine Ansammlung von Eiern sieht und zwischendrin ist ein andersfarbiges, leicht goldenes Ei – aber nur dieses andersfarbige Ei macht das Bild komplett. Toll!! Das ist doch wie im Leben: Wir Menschen mit Behinderung machen das Leben doch auch erst bunt und facettenreich!
Ich bin ein bisschen wehmütig. Morgen ist mein letzter Praktikumstag ...
Der letzte Tag: Wehmut
Es ist Freitag. Es ist der letzte Tag meines Praktikums in der Redaktion Kinder & Soziales. Aber bevor es an den Abschied geht, gibt’s Gott sei Dank noch ein bisschen was zu tun. Meine Lieblingsarbeit: hochkonzentriertes Filmgucken! So langsam werde ich zum Serienfan. Die Hörfassung für Blinde und Sehbehinderte der Serie "Tierärztin Dr. Mertens" ist aber auch wirklich sehr gelungen. So was gefällt bestimmt der gesamten blinden Gemeinde gut. Wissen die eigentlich, dass es die Hörfassung gibt?
Redaktionsleiterin Astrid Plenk und Redakteurin Anke Gerstel schauen sich mit mir zusammen die Beiträge für die aktuelle „selbstbestimmt!“-Sendung an. Mir wird erklärt, dass Frau Gerstel diese zur redaktionellen Abnahme vorliest. So kann schnell entschieden werden, ob am Text noch etwas geändert werden muss. Das ist wirklich spannend. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, wie viel Arbeit in solch einer Sendung steckt und bin sehr beeindruckt!
Es hat mir riesengroßen Spaß gemacht, das Leben in einer Fernsehredaktion zu erleben und die verschiedenen Arbeitsbereiche kennenzulernen. Großartig! Am liebsten würde ich gleich noch einige Wochen dranhängen. Ich bin auch von allen Kollegen der Etage sehr lieb und unvoreingenommen aufgenommen worden. Bei Fragen, die ich natürlich "ohne Ende" hatte, haben alle geduldig zugehört und geholfen. Arbeiten für die Redakteure wurden gleich angeschaut und mit mir zusammen ausgewertet. So gabs immer gleich Feedback und viele, viele Tipps für mich. Und selbst mein Laster wurde ernst genommen: Wenn ich mal das Bedürfnis nach einer Zigarette hatte, hat man mich hinunter begleitet. Hier muss ich noch anmerken, dass ich über die vielen interessanten Aufgaben die Zigaretten oft vergessen habe. Fernsehen ist also nicht nur spannend, sondern auch noch gesund!
Ich danke allen Kollegen der 11. Etage, dass ihr mich so nett aufgenommen habt!
Zur Person: Sebastian Schulze
Sebastian Schulze ist vor rund sieben Jahren erblindet – eine zu spät erkannte Hirnhautentzündung führte innerhalb von zwei Wochen zum Verlust der Sehkraft. Er musste nochmal ganz von vorn anfangen. Er studiert mittlerweile an der Leipziger Universität Kulturwissenschaften, hat einen weißen Königspudel, der auf den Namen "Sunny" hört.
Für unsere Redaktion und den Programmbereich verschiedene Hörfilmfassungen von Filmen (z.B. "Stilles Tal") , Serien (z.B. "In aller Freundschaft" und Magazinsendungen wie "selbstbestimmt!" – speziell auch die "SonntagsFragen“ und unsere "Selbstbestimmt!"--Reportagen.
Er hat schon einige gute Ideen für noch mehr Barrierefreiheit geliefert und beurteilt aktuell gerade unsere Reportagen im Hinblick auf Audiodeskreption.