Science vs. Fiction Echoortung: Wie Blinde mit den Ohren sehen

12. März 2021, 10:34 Uhr

Wir sind es gewohnt, dass Superhelden übermenschliche Fähigkeiten haben. Die einen können fliegen, der andere krabbelt die Wände hoch, eine dritte ist unverwundbar. Fähigkeiten, die wir uns nur im Traum selbst aneignen könnten. Doch das, was der Superheld Daredevil kann, nämlich sehen, obwohl er blind ist, hat ein erstaunliches Pendant im echten Leben.

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Daniel Kish, Echoorter. Bildrechte: Daniel Kish

Eigentlich kennen wir diese Eigenschaft nur aus der Tierwelt: Fledermäuse oder Delfine orientieren sich per Echoortung in ihrer Umgebung. Sie senden Schallwellen aus, die sich in der Luft ausbreiten, auf Gegenstände treffen und ein Echo werfen. Das wiederum nehmen die Tiere wahr. Die Methode ist effektiv. So effektiv, dass mittlerweile auch einige blinde Menschen ihren Alltag damit meistern.

Den Alltag besser meistern

Eine davon ist Ann-Kathrin Modest aus Dresden. Die 28-jährige ist von Geburt an blind. Mit etwa acht Jahren hat sie begonnen, sich per Echoortung zurechtzufinden. Dabei schnalzt sie mit der Zunge, lauscht und weiß dann anhand des Echos, welche Hindernisse auf ihrem Weg liegen.

Jedes Möbelstück, jeder Zaun, jedes Auto, jede Person – auch wenn sie nichts sagt – wirft einen,  ich sag jetzt mal, akustischen Schatten. Und das hat mir im Grunde das Gefühl gegeben, ich werde selbstständiger, ich kann mich besser orientieren, nur durch mein Gehör, ich kann den Zaun hören.

Dabei kann Ann-Kathrin Modest erstaunlich viele Details rekonstruieren – etwa die Größe, die Entfernung aber auch die Materialbeschaffenheit eines Objekts. Antrainiert hat sie sich die Technik selbst, ebenso wie Daniel Kish – dem wahrscheinlich bekanntesten Echoorter überhaupt.

Mehr als "nur" sehen: Ein Blick durch Wände und in alle Richtungen

Mit seiner NGO setzt sich Daniel Kish weltweit dafür ein, anderen Blinden die Echoortung beizubringen, um ihre Selbstbestimmung zu stärken und Vorurteile abzubauen. Denn die stünden den Blinden oft im Weg, wenn sie versuchten selbstständig zu sein, so Kish. Er selbst hat die Technik in über 50 Jahren perfektioniert. Fahrradfahren, Basketballspielen und sogar ein 360 Grad-Blick sind kein Problem. Und auch seine (ehemaligen) Schülerinnen und Schüler entwickeln beinahe übermenschliche Fähigkeiten: Einer hält beispielweise den Weltrekord im blinden Hindernis-Parcours-Fahren, ein anderer hat als erster Blinder den Mount Everest bestiegen.

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Daniel Kish ist weltweit vermutlich der bekannteste Echoorter. Bildrechte: Daniel Kish

Einer meiner Schüler sagte, dass es ein bisschen so ist, wie einen Röntgenblick zu haben, weil er durch Wände hören kann. Er hat viel detaillierter gelernt zu hören, was in seiner Umgebung los ist, nicht nur durch Echoortung. Wenn du ein geübter Echoorter bist, bist du ein viel besserer Zuhörer. Du hörst Dinge viel leichter und du hörst Dinge, die weiter weg liegen.

Eine Fähigkeit, die nicht nur auf jahrelangem Training basiert.

Das Gehirn vernetzt sich neu

Unter anderem Forschende der kanadischen Universität Western Ontario und der amerikanischen Georgetown Universität haben herausgefunden, dass die Tatsache, das Blinde und speziell Echoorter besser hören, nicht einfach nur ein Lerneffekt oder ein Resultat besserer Konzentration ist. Tatsächlich passt sich das Gehirn bei Blinden wie Daniel Kish und Ann-Kathrin Modest den Bedingungen an und programmiert sich selbstständig um. So nutzen sie auch weiterhin den visuellen Cortex – eine der leistungsfähigsten Regionen im Gehirn, die eigentlich die Informationen verarbeitet, die unsere Augen aufnehmen. Nur wird in ihrem Fall das Hirnareal umfunktioniert und zwar so, dass es interpretieren kann, was die Ohren und der Tastsinn wahrnehmen.

Illustration
Als kreuzmodale Plastitizät bezeichnen Wissenschaflter eine Neuvernetzung des Gehirns. So können Blinde mit den Ohren "sehen". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eine Neuvernetzung, die man als kreuzmodale Plastizität bezeichnet und die es Blinden – speziell Echoortern – ermöglicht, trotz des fehlenden Augenlichts Bilder ihrer Umgebung zu konstruieren. Sie ist der wissenschaftliche Beweis, dass Blinde mit ihren Ohren sehen können. Ein "Sehen", das Daniel Kish in Bezug auf das Klicksonar so beschreibt:

Viele meiner Studenten, die früher sehen konnten, sagen, dass es sie an Lichtblitze erinnert, die an die Umgebung rausgehen und dann mit Bildern zurückkommen. Also jeder, der mal ein Foto mit Blitz gemacht hat, kann dass ein wenig mit diesem Erlebnis gleichsetzen.

Mit diesen Umgebungsbildern können viele Blinde nicht nur ihren Alltag bewältigen, sondern eben auch so erstaunliche Dinge leisten wie Daniel Kish und seine Schüler. Doch es gibt natürlich auch Grenzen: Schlaglöcher auf dem Boden oder kleine Gegenstände, die kaum Echo werfen beispielsweise. Selbst erfahrene Echoorter verwenden deshalb immer noch einen Blindenstock. Und auch die Fähigkeit über Dächer zu springen wie beim Superhelden Daredevil wird wohl unerreicht bleiben, sagt Daniel Kish schmunzelnd: "Hollywood ist Hollywood… Realität ist Realität!" In einem Aspekt hat Hollywood aber Recht. Auf die Frage, wie er sehen kann, obwohl er blind ist, antwortet der Superheld im Film:

Es gibt andere Wege zu sehen!

Daredevil

Ein Satz, den Daniel Kish, Ann-Kathrin Modest und all die andere Echoorter sicherlich zu hundert Prozent unterschreiben würden.

Ein Mann
Science vs. Fiction-Moderator Jack Pop. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Info: Wenn Sie noch mehr zur Echoortung erfahren möchten oder sich schon immer gefragt haben, ob der Joker auch wissenschaftlich gesehen ein Psychopath ist – schauen sie doch mal auf unserem YouTube-Kanal "Science vs. Fiction" vorbei. Dort finden Sie auch die aktuelle Folge "Warum Daredevil ohne Augen sehen kann" mit Ann-Kathrin Modest und Daniel Kish.

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