Auf einem Briefumschlag für die Sozialwahl 2023 liegt ein Kugelschreiber.
Die
Sozialwahl ist nach der Bundestagswahl und der Europawahl die drittgrößte Wahl in Deutschland. nur keiner kennt die zu wählenden "Parteien".
Bildrechte: IMAGO/Steinach

Der Redakteur | 22.05.2023 Sozialwahl 2023 - Wen wähle ich da und warum?

16. Mai 2023, 15:30 Uhr

Die Sozialwahl gehört zu den großen Rätseln unserer Demokratie. Wer da an welcher Stelle versagt hat, beim Lehren oder Lernen, das ist unklar. Wer stellt sich zur Wahl? Was macht der anschließend mit meiner Stimme und ginge es nicht auch mit weniger Aufwand?

Thomas Becker
Bildrechte: MDR/Christoph Falkenhahn

Birgit Vater ist das Ehrenamt in Person. Sie gehört zu jenen, die unser Land zusammenhalten jenseits der beruflichen Betätigungsfelder und der Entscheidungszentren der Politik. Sportvereine, dörfliches Leben, soziale Dienste - ohne Ehrenamt würde oft gar nichts laufen. Und das kann man durchaus auch ausdehnen auf Krankenkassen und Rentenversicherung.

Auch Ehrenamtler kontrollieren die Krankenkasse

Da Gesundheits- und Arbeitsminister regelmäßig mit Sätzen wie "die Rente ist sicher" und Beitragssatz-Sätzen auffällig werden, geht völlig unter, dass die Entscheidungsträger in vielen Fragen dieser Versicherungen ganz andere Personen sind. Ehrenamtler nämlich, wie Birgit Vater aus Magdala. Sie sitzt im Verwaltungsrat der Barmer und verglichen mit einem DAX-Konzern ist das der Aufsichtsrat. Dessen Aufgabe ist es, im Interesse der Aktionäre den Vorstand zu überwachen und zu kontrollieren. Und der Verwaltungsrat der Ersatzkassen TK, Barmer, DAK-Gesundheit, KKH und der HKK macht nichts anderes: Er überwacht den Vorstand als Vertreter der Versicherten der jeweiligen Kasse. Die Verwaltungsräte entscheiden mit darüber, wofür die Beiträge ausgegeben werden, ob es einen Zusatzbeitrag geben wird und wer im Vorstand die Geschicke der Kasse leitet. Das heißt im Umkehrschluss: Die Versicherten können quasi auf diesem Wege die Kassenvorstände bei Ungereimtheiten auch entlassen - was in der Vergangenheit auch schon vorgekommen ist.

Wir müssen uns mitunter auch von Vorstandsmitgliedern trennen. Das haben wir in der Vergangenheit auch schon gemacht.

Birgit Vater, Vertreterin aus Thüringen im Verwaltungsrat der Barmer

Fast wie beim Fußball - nur mit viel mehr Geld

Der vergleichbare aktuelle Fall im Sport: Ein gewisser Herr Kahn eines bayerischen Fußballvereins ist als Vorstandschef in Gefahr. Und im Aufsichtsrat sitzt ein gewisser Herr Hoeneß, in dem es aktuell brodelt, wie man hört. Der Unterschied zu den Mitspielern im Verwaltungsrat und Vorstand der Krankenkassen: Uli und Oli kennt man. Und es gibt noch einen gewaltigen Unterschied: Gegen das Finanzvolumen, über das der ehrenamtliche Verwaltungsrat einer Krankenkasse befindet, ist der Haushalt des FC Bayern nur eine Mannschaftskasse.

Wie ist das bei der Rentenversicherung?

Was bei den Krankenkassen der Verwaltungsrat ist, heißt bei der Deutschen Rentenversicherung Bund "Vertreterversammlung". Unglücklicherweise geraten die anderen Bezeichnungen etwas durcheinander.

Der ehrenamtliche Verwaltungsrat der Krankenkasse überwacht und bestimmt den hauptamtlichen Vorstand. Bei der Rentenversicherung wählt die ehrenamtliche Vertreterversammlung erst noch einen ebenso ehrenamtlichen Vorstand, der dann über den Direktor befindet.

Diese Trennung zwischen einem hauptamtlichen Direktor und einem ehrenamtlichen Vorstand in der Rentenversicherung ermöglicht eine Mischung aus Fachexpertise und repräsentativer Interessenvertretung. Nur führen schon die Bezeichnungen zu einer gewissen Unübersichtlichkeit. Die Aufgaben der ehrenamtlichen Vertreter der Versicherten sind aber ähnlich: Es ist viel Versicherten-Geld im System und über dessen Verwendung entscheiden die Versicherten dank ihrer Vertreter eben mit, leider ohne es zu ahnen. Dabei sind es bei der Rentenversicherung Bund (DRV Bund) eben gerade die Ehrenamtlichen, die genau aufpassen, dass die Rentenkasse nicht mit Zusatzleistungen überlastet wird, die von politischer Seite gern dort angesiedelt werden. Dieses Wehren klappt nicht immer. Aber Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der Vertreterversammlung der DRV Bund, legt großen Wert darauf, dass die Sozialversicherungsbeiträge eben nicht dem Staat, sondern den Versicherten gehören, die mittels der Sozialwahlen ihre Vertreter bestimmen - seit 70 Jahren schon.

Die Sozialwahl ist seit 70 Jahren Bürgerbeteiligung, die wir ernst nehmen sollten.

Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der  Vertreterversammlung DRV Bund

Sozialwahl ist drittgößte Wahl in Deutschland

Doch das Ernstnehmen fällt leider schwer. Denn die Vereinigungen auf den Wahlzetteln sind weder bekannt, noch aussprechbar. Um diese etwas genauer kennenzulernen, muss man Internetsuchmaschinen bemühen und beim Spiel "Sieben Unterschiede sind zu finden" stets erfolgreich abgeschnitten haben. Denn das ist das nächste Problem. Als Versichertenvertreter wollen sie natürlich auch alle das Beste für die Versicherten und da bleibt nicht viel Spielraum für plakative Ideen und Unterschiede.

Nach der Bundestagswahl und der Europawahl ist die Sozialwahl die drittgrößte Wahl in Deutschland. Und es geht um richtig viel Geld. Bei der Rentenversicherung beschließt die Vertreterversammlung über den zweitgrößten öffentlichen Haushalt: 174 Milliarden Euro.

Was sind das eigentlich für "Parteien" auf dem Zettel?

Anders als bei politischen Wahlen werden nicht Parteien gewählt, sondern eben von Gewerkschaften oder kirchlichen Organisationen getragene Gruppen, Interessengruppen von Patienten bis hin zu Selbsthilfegruppen bestimmter Krankheiten. Trotzdem ist auf den ersten Blick unklar, wer hinter den Gruppen steckt, welche Ziele sie verfolgen und welche Erfahrung sie haben. Gewerkschaftlichen und kirchlichen Gruppen lassen sich noch einordnen, bei andere Interessengruppen ist das schwieriger. Zum Beispiel was bitte ist die "Barmer - Die Unabhängigen Interessenvertretung für Mitglieder, Versicherte, Patienten und Rentner in den Sozialversicherungen seit 1958 - e.V." Solche Gruppen bezeichnet der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Schroeder vom Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung in Berlin als "in vielen Fällen dubios", weil hier mitunter Kassenmitarbeiter kandidieren oder ehemalige Mitarbeiter im Ruhestand. 

Hier ist ersichtlich, dass die Unabhängigkeit nicht ohne Weiteres gegeben ist.

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wo sind eigentlich die AOK-Wahlen?

Hier betreten wir ein Feld, das noch mehr an die Nationale Front der DDR erinnert, als es die Sozialwahlen ohnehin tun. Hier gilt die sogenannte "Friedenswahl", das ist eine Wahl ohne Wahlhandlung. Nach einem Schlüssel werden die 30 Verwaltungsräte paritätisch durch 15 Arbeitnehmer- und 15 Arbeitsgebervertreter besetzt. Das bedeutet: Die meisten AOK-Beitragszahler merken gar nicht, dass da irgendwer gewählt wird. Natürlich ist das kostengünstiger, als Millionen Briefe zu versenden und die Antworten auszuwerten, aber ist es auch demokratischer? Die Geld-Karte will Prof. Wolfgang Schroeder nämlich auf keinen Fall ziehen: Demokratie gibt’s nicht kostenlos.

Demokratie benötigt eine finanzielle Grundlage und diese sollte man nicht mit selbstausgedachten ökonomischen Kriterien überfrachten.

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Was haben die Vertreter schon für die Versicherten erreicht?

Im Großen ist es die periodische Abwehr von Begehrlichkeiten aus der Politik. Es gibt immer mal wieder Anflüge der Entscheidungsträger aus Parteien, Arbeits- oder Gesundheitsministerium, sich die Entscheidungshoheit über die Sozialversicherungen zu sichern. Das muss regelmäßig abgewehrt werden, so wie auch die Begehrlichkeiten, Beiträge - also Versichertengelder - umzuwidmen.

Im Kleinen geht es dann um Service und auch die Beitragshöhe der Kassen. Natürlich sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen für alle gesetzlichen Kassen gleich, einschließlich der Beitragssätze Trotzdem gibt es Unterschiede in Service, Erreichbarkeit, Digitalisierung bis hin zur Erhebung von Zusatzbeiträgen. Es gibt Kassen, die nur einen geringen Zusatzbeitrag erheben. Andere erheben gar keinen, weil es die gewählten Versichertenvertreter und der hauptamtliche Vorstand es durch stundenlanges "Köpfe zusammenstecken" geschafft haben, die Budgets und Ausgaben so zu verteilen, dass das Geld ohne Zusatzbeitrag reicht. Das Ergebnis der Bemühungen haben die Versicherten am Monatsende ganz konkret im Portemonnaie. Und dann sind die gewählten Verwaltungsräte der Kassen tatsächlich ansprechbar.

Sozialparlament: Vertreter ansprechbar

So wie der Bundestagsabgeordnete eines Wahlkreises auch, kann man den wohnortnahen Parlamentarier seines Sozialparlaments auch ansprechen, wenn es zum Beispiel Probleme gibt bei speziellen Therapien, deren Kostenübernahme die Kasse abgelehnt hat. Nun ist die Abgrenzung zwischen Hokuspokus und hoffnungsvollen neuen Therapien für Hilfesuchende mitunter schwierig. Aber genau für solche Fälle gibt es die Widerspruchsausschüsse der Kassen, in denen auch wieder die gewählten Versichertenvertreter sitzen und im Interesse der Patienten eine Lösung finden wollen.

Dort versuchen wir, Abhilfe zu schaffen, meistens hoffentlich im Interesse der Patienten.

Birgit Vater Vertreterin aus Thüringen im Verwaltungsrat der Barmer

Hilfe beim Rentenantrag

Wichtige Ansprechpartner für Versicherte der Rentenkassen sind auch die ehrenamtlichen Versicherungsberater. Auch sie sind Teil des von engagierten Versicherten verwalteten Systems. Sie sind geschult und ansprechbar zum Beispiel für Fragen rund um die Stellung des Rentenantrages. Wer seinen Antrag mit einem Berater gemeinsam ausfüllt, der muss sich hinterher nicht in endlose Korrespondenz-Schleifen mit der Rentenversicherung begeben, zur Klärung offener Fragen.

Warum wissen wir alle so wenig über die Sozialwahlen?

Vielleicht liegt das zunächst daran, dass die Sozialwahlen schon etwas in die Jahre gekommen sind. Mehr als 70 Jahre, um genau zu sein. Und wie so vieles andere Alltägliche (Kochen, Nähen, Putzen, Medienkompetenz, Steuererklärung) fänden die Sozialsysteme in den Lehrplänen der Schulen nur wenig Beachtung, sagt Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der  Vertreterversammlung DRV Bund. Er hatte in der Schule im Gemeinschaftskundeunterricht noch etwas über die Sozialversicherungen gelernt hat.

Heute verlassen Millionen Menschen die Schule, die in mit der Sozialversicherung und deren Prinzip nicht in Berührung gekommen sind, weil es nicht mehr im Lehrplan steht.

Rüdiger Herrmann, Vorsitzender der  Vertreterversammlung DRV Bund

Krankenkassenmitglieder können sich anschließen

Auf der anderen Seite machen wir es uns aber zu einfach, wenn wir in einem System, das von den Mitgliedern selbst verwaltet wird, Forderungen "an die da oben" formulieren. Zum Beispiel: "Die" mögen doch mal bitteschön für Transparenz sorgen und dafür, dass wir besser informiert werden. Das wäre ungefähr so, als würden die Mitglieder eines Dorfvereins nach der eigenen Vereinsfeier den Bürgermeister auffordern, dafür zu sorgen, dass der Partyraum gereinigt wird.

Manchmal muss man auch selbst zu Besen greifen, wenn man durchgefegt haben möchte. Es steht nämlich jedem Krankenkassenmitglied frei, es den anderen Ehrenamtlichen gleich zu tun, sich einem Gremium anzuschließen bzw. eines zu gründen und sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Zum Beispiel mit dem Wahlprogramm, das Wahlsystem zu reformieren.

Wie vermeiden wir den Eindruck, wir wählen die "Kandidaten der Nationalen Front"?

Die Lösung des Problems: Man müsste tatsächlich die Wahl haben, was eine Auswahl voraussetzt und die Chance, auf einfache Weise Unterschiede zu erkennen. Statt Vereinigungsnamen in Bandwurmform, wären schnell sichtbare Spitzenkandidaten hilfreich, die greifbar sind, die für etwas stehen. Der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Schroeder fordert, mehr Öffentlichkeit herzustellen - über das Plakate Aufhängen hinaus.

Da reicht es nicht, mehr Plakate aufzuhängen, sondern man muss auch mehr Themen in die Diskussion bringen.

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Nun macht die Internetseite zur Sozialwahl einen recht modernen Eindruck. Um aber zu den Listen, deren Programmen und Kandidaten zu gelangen, sind nicht nur mehrere Klicks notwendig, sondern mitunter auch noch der Download mehrerer PDF, die man sich dann ausdrucken und zum Finden der berühmten sieben Unterschiede nebeneinander legen soll? Das ist schon etwas aus der Zeit gefallen.

Gibt es einen Wahl-O-Mat für die Sozialwahl 2023?

Bei der Rentenversicherung zum Beispiel gibt es Verlinkungen zu 13(!) Gruppierungen, die sich in Videos vorstellen, freundlich in die Fotokamera lächeln und den Mensch in den Mittelpunkt rücken wollen. Das ist aller Ehren wert, aber das machen die anderen ganz sicher auch. Wer sich vertiefend mit dem Thema befasst, wird feststellen, es gibt sogar eine Fünf-Prozent-Hürde für die Vereinigungen, also am Ende kommen definitiv nicht alle durch.

Aber wie vermeiden wir das Zufallskreuz? Vielleicht durch so etwas wie einen Wahl-O-Mat? Prof. Wolfgang Schroeder findet die Idee großartig und Birgit Vater hätten sie am liebsten schon umgesetzt. Aber mit der Digitalisierung ist das so eine Sache. Die Barmer-Vertreter haben sich die nun erstmals mögliche Online-Wahl von dem System in Estland abgeguckt. Das sagt so einiges über den Stand deutscher Digitalisierung. Hoffnung auf eine Art Wahl-O-Mat gibt es frühestens in sechs Jahren bei der nächsten Wahl.

Diesen Wahl-O-Mat hätten wir gern schon diesmal angeboten. Das war aber leider noch nicht zu machen. Wir hoffen aber auf die nächste Sozialwahl in sechs Jahren.

Birgit Vater Vertreterin aus Thüringen im Verwaltungsrat der Barmer

MDR (ifl)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 22. Mai 2023 | 16:40 Uhr

Mehr Gesundheit

Weitere Ratgeber-Themen