Wechselwirkungen von Medikamenten Apotheker: "Ab drei bis fünf Arzneimitteln sollte man genauer hinschauen"
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30. November 2023, 05:00 Uhr
Eine gegen Bluthochduck, eine gegen zu hohe Cholesterinwerte, eine gegen Gelenk-schmerzen: Je älter wir werden, desto mehr Tabletten nehmen die meisten von uns täglich ein. Doch muss das wirklich sein? Wir haben mit Apotheker Friedemann Schmidt darüber gesprochen, worauf man achten muss, wenn man Medikamente reduzieren möchte.
Wie viele Medikamente sind zu viel? Lässt sich das pauschal sagen?
Friedemann Schmidt: Ab drei bis fünf Arzneimitteln sollte man genauer hinschauen. Das ist der Schwellenwert, bei dem man festlegt: Hier braucht ein Mensch in der Regel dauerhaft Beratung bei der Anwendung. Je mehr Medikamente man nimmt, desto größer ist die Gefahr von Wechselwirkungen. Das kann beispielsweise bedeuten, dass Wirkstoffe sich gegenseitig neutralisieren. Es kann aber auch passieren, dass eine Wirkung verstärkt wird.
Wer bestimmte Symptome an sich bemerkt – Kopfschmerzen, Müdigkeit, Hauterscheinungen –, sollte das auf jeden Fall mit seinem Arzt oder Apotheker besprechen. Viele Menschen haben mehr als vier gleichzeitig bestehende Grunderkrankungen. Da kommen schnell zehn Arzneimittel zusammen. In diesem Fall müssen Patient und Arzt über ein gemeinsames Vorgehen entscheiden.
Welche Folgen kann die Multimedikation, also die gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente, haben?
Friedemann Schmidt: Man sagt, dass drei bis sieben Prozent aller Krankenhauseinweisungen möglicherweise auf unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen zurückgehen. Der Prozentsatz steigt mit dem Alter der Patienten. Bei Patienten über 80 Jahren liegt er geschätzt zwischen zehn und 30 Prozent.
Wenn man als über 80-jähriger multimorbider Patient mit bestimmten Beschwerden ins Krankenhaus kommt, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um Nebenwirkungen bzw. Wechselwirkungen von Arzneimitteln handelt. Das können Übelkeit oder Austrocknung sein, aber auch Schwindel oder Verwirrung. Sehr häufig sind Stürze. Stürzt ein alter Mensch, muss man nach den Ursachen suchen. Oft ist der Sturz eine Folge der Einnahme bestimmter Medikamente.
Stichwort Unverträglichkeit: Bei welchen Kombinationen sollte man vorsichtig sein?
Friedemann Schmidt: Konkrete Beispiele möchte ich nicht bringen, weil das die Menschen nur verunsichern würde. Es gibt in Apotheken und bei Ärzten Warnsysteme: Wenn zwei Medikamente gemeinsam verschrieben bzw. ausgegeben werden, die eine klinisch belegte Wechselwirkung haben, gibt es einen Warnhinweis. Das trifft auf sehr viele Arzneimittelkombinationen zu. Das Problem dabei ist, dass die Prüfung auf Wechselwirkung immer für zwei Mittel gilt. Komplizierter wird es, wenn mehr als zwei Medikamente miteinander wechselwirken. Das summiert sich nicht nur, sondern es kommt teilweise zu exponentiellen Wechselwirkungen.
Die konkrete Situation in einem Patienten, der zehn verschiedene Mittel nimmt, lässt sich nicht vorhersagen. Man kann an dieser Stelle eigentlich nur intensiv das Gespräch mit dem Patienten suchen und die Anwendung begleiten. Ein Restrisiko bleibt, vor allem dann, wenn mehrere Ärzte unabhängig voneinander verordnen und die Daten nicht ordnungsgemäß zusammengeführt werden. Wer regelmäßig drei oder mehr Arzneimittel einnimmt, hat gesetzlichen Anspruch auf einen Medikationsplan. Das ist ein bundeseinheitliches Formular, in dem erfasst wird, welche Arzneimittel wogegen eingesetzt werden, wann und wie sie einzunehmen sind. Hausarzt, Facharzt und Apotheke sollen den Medikationsplan pflegen. In der Apotheke wird z.B. auch die Selbstmedikation eingetragen.
Was empfehlen Sie jemandem, der das Gefühl hat, zu viele Tabletten zu nehmen? Gibt es Arzneimittel, die unverhandelbar sind?
Friedemann Schmidt: Unverhandelbar sollten alle Arzneimittel sein, die akut lebensbedrohliche Erkrankungen bekämpfen. Entscheiden muss am Ende aber immer der Patient selbst. Er kann das jedoch nur verantwortungsvoll tun, wenn er umfassend informiert ist. Bei der Verordnung sollte man sich genau erklären lassen: Wogegen nehme ich die Medikamente, was passiert, wenn ich sie nehme, was, wenn ich sie nicht nehme. Diese Fragen sollte der Arzt bei der Verordnung beantworten.
Problematisch wird es immer dann, wenn Patienten nicht von der Sinnhaftigkeit der Therapie überzeugt sind. Dann hat irgendwer etwas versäumt – der Arzt hat nicht deutlich gemacht, welche Risiken bei der Krankheit bestehen, der Apotheker hat versäumt, ausführlich über Wirkung und Nebenwirkungen des Medikamentes aufzuklären, oder der Patient hat schlicht und einfach nicht zugehört bzw. die Erklärungen nicht richtig verstanden. Manchmal getrauen sich Patienten nicht, ihrem Arzt zu sagen, dass sie von einer Verordnung nicht überzeugt sind. In diesem Fall kann man das Thema auch in der Apotheke ansprechen und den Apotheker bitten, seinerseits mit dem Arzt zu reden. Mit anderen Worten: Suchen Sie immer den Rat eines Heilberuflers, gemeinsam wird man eine Lösung finden.
Gibt es Möglichkeiten, ohne Medikamente positiv auf chronische Erkrankungen einzuwirken?
Friedemann Schmidt: Es gibt bei fast jeder chronischen Erkrankung nicht-pharmakologische Interventionen, also Dinge, die ich tun kann, um ohne Arzneimittel eine Verbesserung hervorzurufen. Dazu gehört beispielsweise bei Diabetes ganz klar die Ernährung. Die Ernährung und das Körpergewicht sind für einen Typ-2-Diabetiker vor allem im frühen Stadium der Krankheit ein extrem wirksames Mittel, die Arzneimittel zu reduzieren. Es gibt viele dokumentierte Beispiele dafür, dass Frühdiabetiker allein durch die Umstellung ihrer Ernährung ihre Insulinresistenz so drücken können, dass sie noch längere Zeit ohne Medikamente oder eben nur mit Tabletten, ohne Insulinspritzen, auskommen.
Für kardiovaskuläre Erkrankungen wie beispielsweise die Herzinsuffizienz gibt es spezielle Trainingsprogramme unter Aufsicht von Kardiologen, die deutliche Verbesserungen der Leistungsfähigkeit mit sich bringen. Bei Fettstoffwechselstörungen gibt es die Möglichkeit, mit Hilfe einer Ernährungsumstellung eine immerhin zehnprozentige Verbesserung der Lipidwerte zu erreichen. Es lohnt definitiv, sich zu erkundigen, wie man mit einer Veränderung seines Lebensstils zu einer Verbesserung der Erkrankung beitragen kann. Das gilt insbesondere für die klassischen Zivilisationskrankheiten.
Wo suche ich als Patient denn am besten nach nicht-pharmakologischen Maßnahmen, die sich positiv auf meine Krankheit auswirken?
Friedemann Schmidt: Nach Gesprächen mit dem Hausarzt, der Apotheke oder Freunden und Verwandten ist vermutlich das Internet die wichtigste Informationsquelle. Seit fast drei Jahren gibt es beispielsweise das Nationale Gesundheitsportal des Gesundheitsministeriums – ein öffentliches Portal, auf dem Hinweise zu Krankheiten und ihrer Vorbeugung gegeben werde. Dann gibt es die Seiten der Selbsthilfegruppen. Ich würde empfehlen, beides zu kombinieren: erst das Gespräch mit einem Fachmann, und dann die eigene Suche im Netz.
Lassen sich pauschal Medikamentengruppen nennen, die man am ehesten absetzen kann?
Friedemann Schmidt: Wenn ich mir den klassischen Patienten anschaue, würde ich als erstes dazu raten, Nahrungsergänzungsmittel wegzulassen. Vitamine, obskure Kräuter – die sind in der Regel ohne Schaden absetzbar. Als nächstes sollte man eine eventuelle Selbstmedikation überprüfen: Warum kauft sich jemand zusätzlich Schmerzmittel, wenn er vom Arzt welche verschrieben bekommen hat? Da lässt sich vielleicht etwas optimieren. Tatsächlich kann man in bestimmten Arzneimittelgruppen leichter reduzieren als in anderen. Ob das sinnvoll ist, hängt aber stark davon ab, was man erreichen möchte.
Was bereitet dem Patienten am meisten Probleme? In den allermeisten Fällen, vor allem bei alten Patienten, ist es der Schmerz, der das Alltagsleben beeinträchtigt. Da würde man natürlich nicht das Schmerzmittel weglassen. Bei sehr alten Patienten würde man eher hinterfragen, ob Mittel zur Blutdrucksenkung oder Fettstoffwechselbeeinflussung noch sein müssen. Die Frage muss der Mensch erst mal für sich beantworten: Quält mich der Schmerz, quält mich die Schlaflosigkeit, quälen mich Schwindel oder Schwäche? Was beeinträchtigt mich am meisten, womit kann ich unter Umständen leben? Daran kann der Arzt die Medikation ausrichten.
Gut zu wissen: Medikationsanalyse in der Apotheke Patientinnen und Patienten, die mindestens fünf ärztlich verordnete Medikamente einnehmen müssen, haben Anspruch auf eine Medikationsanalyse in der Apotheke. Sie soll unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Medikationsfehler aufdecken. Schätzungen zufolge führen schlechte Wechselwirkungen von Medikamenten zu einer Viertel Million Notfällen pro Jahr in Deutschland. Die Medikationsanalyse wird seit vergangenem Jahr einmal jährlich von den Krankenkassen bezahlt.
MDR (cbr) Erstmals erschienen am 01.02.2021.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache Gesund | 30. November 2023 | 21:00 Uhr