Finanzen Was ist eine Erwerbsminderungsrente? – Warum gibt es sie nur mit Abschlägen?
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16. August 2024, 11:12 Uhr
Seit 2001 gibt es die Erwerbsminderungsrente in ihrer jetzigen Form. Sie zu beziehen, ist äußerst schwierig – und sie fällt gering aus, meist kaum über 1.000 Euro netto im Monat. Das liegt auch daran, dass Betroffenen die Rente gekürzt wird. Nur warum? Frank Frenzel erklärt es.
Wer kann die Erwerbsminderungsrente bekommen?
Wer durch Unfall, Behinderung oder Krankheit nicht mehr arbeiten, sprich erwerbstätig sein kann, der kann in Deutschland eine Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) beanspruchen, sofern er gesetzlich rentenversichert ist. Dabei unterscheidet man zwischen voller und teilweiser Erwerbsminderung: Voll erwerbsgemindert ist, wer weniger als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann (volle Erwerbsminderungsrente). Bei teilweiser Erwerbsminderung ist eine Tätigkeit zwischen drei und weniger als sechs Stunden täglich möglich (halbe Erwerbsminderungsrente).
Versicherte, die noch mindestens drei, aber weniger als sechs Stunden täglich arbeiten können, erhalten eine volle Erwerbsminderungsrente, wenn sie keine Teilzeitbeschäftigung finden können und deshalb arbeitslos sind. Über die Einstufung entscheiden die Rententräger, in der Regel auf Basis ärztlicher Gutachten.
Bei der Beantwortung der Frage, ob jemand erwerbsgemindert ist oder nicht, ist nicht entscheidend, ob der bisherige Beruf oder eine bisherige Tätigkeit weiter ausgeübt werden kann. Betroffene können auch in andere Tätigkeiten verwiesen werden.
Was ist bei Berufsunfähigkeit?
Früher wurde innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung auch die Berufsunfähigkeit abgesichert. Das heißt, konnte jemand aus gesundheitlichen Gründen den bisher ausgeübten Beruf nicht mehr ausüben, so zahlte die Rentenversicherung eine Berufsunfähigkeitsrente.
Nach einer im Jahr 2001 wirksam gewordenen Gesetzesänderung ist das nicht mehr möglich. Nur für Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind, bleibt die Berufsunfähigkeit als möglicher Leistungsfall erhalten. Das heißt, diese genießen weiterhin Berufsschutz und können nicht auf jede andere Tätigkeit verwiesen werden. Grundlage war damals das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (BGBl. I 2000 S. 1827), in dem die Renten wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit durch die Renten wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung ersetzt wurden.
Abschläge von bis zu 10,8 Prozent
Mit der Reform der Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2000 wurden auch Abschläge von bis zu 10,8 Prozent auf die Erwerbsminderungsrenten eingeführt und als Ausgleich die Zurechnungszeit auf das vollendete 60. Lebensjahr verlängert. Diese verlängerte Zurechnungszeit – so Experten – würden allerdings die Abschläge nicht ausgleichen.
Begründet wurden die Abschläge mit sonst zu erwartendem Ausweichverhalten, das Personen statt einer Altersrente eine Erwerbsminderungsrente beziehen würden. Diese Argumentation ist jedoch fragwürdig, denn der Zugang zu einer Erwerbsminderungsrente unterliegt nicht dem "Wunsch" der Betroffenen, sondern einer auf sozialmedizinischen Gutachten beruhenden Entscheidung des Rententrägers.
Berechnung der Abschläge Für jeden Monat, der vor Erreichen der allgemein gültigen Rentenaltersgrenze liegt, werden 0,3 Prozent abgezogen. Der Abschlag wurde jedoch auf maximal 10,8 Prozent begrenzt.
Schon vor und auch nach diesem Gesetz gab es weitere gesetzliche Änderungen im Rentenrecht, die ein Absinken der Renten wegen Erwerbsminderung bei Rentenbeginn zur Folge hatten. 2020 bezog mehr als jede siebte Person mit einer Erwerbsminderungsrente ergänzende Grundsicherung im Alter.
Armutsrisiko durch Erwerbsminderungsrente
Insgesamt stellt der Bezug einer Erwerbsminderungsrente ein hohes Armutsrisiko dar. Darauf hat der Gesetzgeber reagiert, in dem er mehrfach gesetzlich die Leistungen bei Erwerbsminderung verbessert hat. Insbesondere wurde die Zurechnungszeit in mehreren Schritten angehoben: Ab Rentenbeginn 1. Januar 2019 gilt nun als Ende der Zurechnungszeit die Regelaltersgrenze. Diese lag im Jahr 2019 bei 65 Jahren und acht Monaten und steigt bis Rentenbeginn im Jahr 2031 auf 67 Jahre an. Die Zurechnungszeit stellt Versicherte so, als hätten sie bis zu diesem Alter weiter Beiträge wie zuvor gezahlt.
Rückblick: Wurde ein Bundesrichter wegen eines unliebsamen Urteils versetzt?
Für Aufsehen im Zusammenhang mit Erwerbsminderungsrenten und Abschlägen auf EM-Renten sorgte ein Urteil des Bundesgerichts im Mai 2006, in dessen Folge der Verdacht entstand, dass wegen eines unliebsamen, für den Staat teuren Urteils, ein Bundesrichter versetzt wurde.
Konkret ging es um das Urteil B 4 RA 22/05 R des Bundessozialgerichtes vom 16. Mai 2006 unter dem damaligen Vorsitzenden Richter am Bundessozialgericht, Professor Dr. Wolfgang Meyer. In diesem Urteil erklärte das Gericht die Abschläge bei der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente an eine 47-jährige Frau aus Ostfriesland für rechtswidrig. Ein Urteil mit Folgen: Rund 750.000 Erwerbsminderungsrentner könnten von diesem Urteil profitieren und hätten Anspruch auf Nachzahlung von insgesamt rund 1,2 Milliarden Euro. Weitere Kosten würden rund 150.000 Neu-Rentner pro Jahr verursachen, die nach dem Urteil Anspruch auf die volle Erwerbsminderungsrente hätten.
Die Rentenversicherer erkannten das Urteil nicht als Grundsatzurteil an. Nur die Klägerin aus Ostfriesland erhielt ihre Nachzahlung (Einzelfallentscheidung), alle anderen Erwerbsminderungsrentner erhielten keine höhere Rente und auch keine Nachzahlung. Begründung der Rentenversicherung in einer Pressemitteilung: "Anders als das Bundessozialgericht geht der Gesetzgeber davon aus, dass auch die Erwerbsminderungsrenten mit einem Abschlag versehen sind, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden".
Verbindliche Instanz für die Auslegung des 2001 neu in Kraft getretenen Rentengesetzes ist jedoch das Bundessozialgericht. Der 4. Senat kam damals bei der Interpretation der Vorschriften nicht zuletzt wegen verfassungsrechtlicher Überlegungen zu dem Ergebnis: Der Abschlag widerspricht dem Gesetz. Erwerbsminderungsrentner haben Anspruch auf die volle Rente, wenn sie bei Bewilligung der Rente noch nicht 60 Jahre alt sind.
Das Urteil zu den Abschlägen auf Erwerbsminderungsrenten sorgte für Aufsehen und war eines von mehreren, in denen der 4. Senat unter Meyer die Auslegung von Rentengesetzen durch die Rententräger korrigierte. Meyer wurde 2007 als Vorsitzender Richter des 4. Senats gegen seinen Willen in den 2. Senat versetzt, wo er nicht mehr für Rentenangelegenheiten zuständig war. Er vertrat die Auffassung, dass die Versetzung politischem Druck geschuldet sei. Seine Urteile seien für die Versicherungsträger zu kostspielig geworden. Gegenüber dem MDR sagte Meyer 2008 wörtlich: "Ich fühle mich schlichtweg kaltgestellt!... Es könnte durchaus so sein, dass über die anderthalb Jahrzehnte der Rechtsprechung des 4. Senats sie manchem zu teuer geworden ist..."
Das Bundessozialgericht wies die Vorwürfe zurück. Die Versetzung habe keine persönlichen Gründe, er selbst habe eine Überlastung mitgeteilt. Ein anderer Senat des Bundessozialgerichtes befand später die Abschläge auf EM-Renten als gesetzeskonform.
MDR (cbr)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 01. Juli 2024 | 17:45 Uhr