Gaming Wenn das Kind zockt - Medienpädagoge Martin Geisler aus Jena im Gespräch
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13. Januar 2023, 05:00 Uhr
Bei vielen Kindern lagen Spielekonsolen, Video- und Computerspiele unter dem Weihnachtsbaum. Worauf Eltern achten sollten, wenn ihr Kind zockt - und: Darf mein Kind Ballerspiele spielen? Medienpädagoge Martin Geisler beantwortet die wichtigsten Fragen im Interview.
MDR THÜRINGEN: Martin Geisler, Sie sind Professor für Kultur und Medien an der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena, leiten mit anderen das Institut für Spiel- und Medienpädagogik "Spawnpoint" in Erfurt und sind Landessprecher der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur. Sind Computerspiele in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Martin Geisler: Computerspiele waren schon Mitte der 1980er-Jahre für viele ein wichtiges Medium. Heute spielen fast 35 Millionen der Deutschen Computerspiele. Das ist beinahe die Hälfte aller Einwohner*innen. In der Adoleszenz-Phase, also im Alter zwischen zwölf und 18, sind wir sogar bei über 90 Prozent.
Seit Jahren wird mit Computerspielen weltweit mehr Geld verdient, als die Film- und Musikbranche zusammen einbringen. Im Katalog der erfolgreichsten Medienprodukte aller Zeiten sind Computerspiele auf den Plätzen eins und zwei.
Gibt es also in den Familien seitens der Eltern heute mehr Verständnis für die Leidenschaft ihrer Kinder, Computerspiele zu spielen?
Die heutigen Eltern haben zu großen Teilen selbst eine Computerspiel-Biografie. Das ist nicht pauschal gut oder schlecht, denn die Palette ist breit. Es gibt Eltern, die kritisch und selbstreflektiv mit diesem Medium umgehen. Wir haben aber auch Eltern, die fast missbräuchlich mit dem Medium umgegangen sind und dies bisweilen auch auf ihre Kinder übertragen. Und es gibt Eltern, die mit einer sehr großen Abstinenz erzogen wurden und denen beigebracht wurde, dass Computerspiele schlecht sind. Die tragen das natürlich noch mit sich.
Welche Verantwortung haben Eltern ihren computerspielenden Kindern gegenüber?
Sie sollten sich mit dem Thema beschäftigen. Eltern können und sollten sich rechtlich und pädagogisch informieren, ob ein bestimmtes Spiel für ihr Kind geeignet ist und worum es in dem Spiel geht. Es gibt Altersfreigaben für Spiele. Diese Freigaben sind für die Öffentlichkeit bindend. Sobald das Kind mit einem Freund zockt, ist das schon Öffentlichkeit.
Spielt das Kind allein zu Hause, greift das sogenannte Elternprivileg, das heißt, die Eltern dürfen entscheiden, was ihr Kind spielen oder nicht spielen darf. In diesem Fall sind die Altersfreigaben Empfehlungen für Eltern. Zusätzlich gibt es beispielsweise den Spieleratgeber NRW, da gibt es pädagogische Empfehlungen. Das alles verlangt von den Eltern eine Auseinandersetzung, nicht nur mit dem Spiel, sondern zuallererst mit den Spielenden.
Was heißt das konkret?
Die erste Sache, die man erkennen sollte: Das Medium hat für viele junge Menschen eine große Bedeutung. Sie entwickeln oft so viel Leidenschaft, dass sie sich dafür einsetzen. Es ist ihnen nicht egal. Jetzt kann ich mich als Eltern natürlich dagegenstellen. Oder ich kann versuchen, mich darauf einzulassen, mir das erklären zu lassen und zu verstehen, warum dieses Spiel diese Bedeutung für mein Kind hat. Die meisten Kinder und Jugendlichen erklären das sehr gern.
Das heißt, es dreht sich alles um die Kommunikation mit dem Kind und um die Verbindung zum Kind?
Genau. Aber auch um Anregung. Natürlich kann ich als Eltern Fragen stellen - und das Interessante ist, die meisten Kinder sind sehr begeistert, wenn man sich für ihr Tun interessiert und teilen es bereitwillig.
Trotzdem kommt es immer wieder zu Diskussionen, auch zwischen Eltern, über Fragen wie: Wie lange darf mein Kind spielen, welche Spiele darf mein Kind spielen und so weiter. Wie geht man damit um?
Auch das ist eine Frage des Miteinanders und der Kommunikation. Wenn wir sachlich herangehen, stellen wir fest, dass Zeit - spätestens, wenn wir über pathologisches Spielverhalten reden - nur ein Faktor ist. Die Angst, die letztlich dahintersteckt, ist die Frage nach dem Kontrollverlust. Sprich, ob andere Lebensbereiche vernachlässigt werden.
Es gibt Computerspielsucht. Interessanterweise sind ähnlich viele Menschen computerspielsüchtig wie Menschen mit anderen Störungsbildern der Verhaltenssucht: Viele Studien zeigen, das circa drei Prozent der Spielenden ins pathologische Spielen abrutschen. Das sind natürlich trotzdem viele und jenen sollte unbedingt geholfen werden. Umgekehrt bedeutet es aber auch, dass die meisten Spielenden gut mit ihrem Spielverhalten umgehen.
Werden die Kinder, die mit Smartphones und Computerspielen in Berührung kommen, immer jünger?
Der erste Kontakt, nicht mit dem Computerspiel, sondern mit der Interaktion mit modernen Medien passiert möglicherweise früher. Der medienpädagogische Forschungsverbund Südwest bringt regelmäßig Studien zum aktuellen Medienverhalten von Kindern, Jugendlichen und Familien in Deutschland heraus.
Aus diesen Studien wissen wir: Für Kinder im Alter von zwei bis fünf sind Computerspiele nicht das wichtigste Medium. Nach ihren Lieblings-Freizeitbeschäftigungen gefragt, stehen drinnen und draußen spielen ganz vorne. Computerspiele stehen irgendwo zwischen Platz 16 und 17 (miniKIM 2020, S. 9).
Erst später gewinnen digitale Spiele mehr und mehr an Bedeutung. Das Computerspiel fängt erst an, wenn ich bestimmte Kenntnisse und Voraussetzungen habe. Unter anderem gehört dazu ein Abstraktionsvermögen. Erst dann fängt das Computerspiel an, umfangreich zu wirken. Das ist natürlich von Spiel zu Spiel unterschiedlich. Tetris ist etwas anderes als ein umfangreiches Rollenspiel.
Spielt die Gewaltdiskussion noch eine Rolle?
Die Frage, ob Computerspiele mit intensiven Gewaltdarstellungen Gewalt im realen Leben verursachen, ist gut erforscht und eigentlich ausdiskutiert. Die meisten Fachleute sind sich mittlerweile einig, dass es keine monokausalen Zusammenhänge gibt. Das heißt, nur weil man gewalthaltige Computerspiele spielt, wird man nicht zum Gewalttäter. Was wir sagen können: Wenn es zu Gewalttaten kommt, sucht man nach Zusammenhängen zu Spielen und findet diese auch nicht selten. Aber es gibt kaum einen Fall, bei dem belegt ist, dass es wegen eines Computerspiels zu Gewalttaten gekommen ist.
Es müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. Wenn ich beispielsweise in einem Elternhaus groß werde, in dem Gewalt als Konfliktlösungsmittel akzeptiert ist, wenn ich selbst Gewalterfahrungen gesammelt habe und wenn ich in einer Gruppe bin, in der das Problem der Gewalt existiert, wenn ich also darin bestätigt werde, dass Gewalt ein Konfliktlösungsmittel ist, dann wähle ich allein deshalb womöglich gewaltvolle Spiele. Ursache und Wirkung kann man aber auch nicht umkehren.
Das heißt, wenn mein Kind gut eingebunden ist und Gewalt im Alltag keine Rolle spielt, darf es auch mal ein Ballerspiel spielen?
Je nach Alterskennzeichnung, ja. Da muss man sich wenig Gedanken machen. Trotzdem halte ich es für eine gute Idee, neugierig zu sein, sich mal danebenzusetzen, gar nicht im bewachenden Sinn, sondern sich zu interessieren.
Was lernen Kinder aus Computerspielen?
Spiele sind zunächst einmal für eine einzige Sache gut: um zu spielen. Ich bin mittlerweile überhaupt kein Freund mehr davon, die Nützlichkeit aller Dinge als allererstes hinzustellen. Wenn ich zum Beispiel als Lehrer*in sage, Computerspiele sind nur dann wertvoll, wenn sie Wissen vermitteln, ignoriere ich den eigentlichen Wert des Spiels.
Wenn Spiele vom Fußball über Brettspiele, Skat, Bowling oder Billard bis hin zu digitalen Spielen für eine Sache gut sind, dann für Spaß und Soziales. Nichtsdestotrotz: Man kann mit Computerspielen insbesondere die sogenannten Schlüsselkompetenzen lernen, man lernt etwas über sich, über das Miteinander und vielleicht auch etwas über die eigene Frustrationstoleranz.
Wir dürfen nicht vergessen: Die Welt der Computerspiele ist mittlerweile sehr ausdifferenziert. Die Spiele sind so verschieden wie die Menschen.
Welche Funktion haben Computerspiele für Jugendliche?
Wie gesagt: Spaß, Soziales und Spielerleben. Sie können aber auch als eine Art Rückzugsort gesehen werden. Adoleszenz bedeutet, ich als junger Mensch habe die Entwicklungsaufgabe, Welt neu zu erfinden, und Medien dienen der Exklusivität meines Daseins.
Insofern wäre es fatal, wenn die Forschung über Medien zu sehr den Spaß entmystifiziert. Sozialarbeiter*innen im Spiel sind vielleicht ebenso störend wie Eltern in der Disko. Kinder und Jugendliche dürfen ihre Räume haben. Das heißt nicht, dass man sich aus der Kommunikation mit den Jugendlichen zurückziehen soll. Interesse und Neugierde sind immer wichtig.
Warum wir in diesem Beitrag gendern Der Interviewpartner hat in seinen Aussagen gegendert. Daher übernehmen wir seine Darstellungsweise.
MDR (caf)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 22. Dezember 2022 | 17:00 Uhr