Atlas der Zivilgesellschaft Menschenrechte weltweit zunehmend unter Druck

03. Mai 2023, 14:36 Uhr

Sich gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Umweltzerstörung zu engagieren, wird in vielen Weltregionen zunehmend schwieriger. Zwar hat sich die Lage der Zivilgesellschaft in zehn Ländern verbessert – zugleich aber in 15 Staaten noch verschlechtert. Das geht aus dem aktuellen Atlas der Zivilgesellschaft hervor. Schwerpunkt der diesjährigen Ausgabe liegt auf dem Thema Migration. Die Entrechtung von Geflüchteten ist dem Atlas zufolge zur gängigen Praxis geworden, auch in der EU.

In einer "freien Gesellschaft" leben zu können, ist ein großes Glück. Lediglich drei Prozent der Weltbevölkerung können einer Studie zufolge von sich behaupten, in einem Staat zu leben, in dem die zivilgesellschaftlichen Grundfreiheiten garantiert sind. Das geht aus dem aktuellen Atlas der Zivilgesellschaft hervor, den das evangelische Hilfswerk "Brot für die Welt" gemeinsam mit dem weltweiten Netzwerk Civicus vorgestellt hat. Die große Mehrheit von 6,7 Milliarden Menschen und somit 85,5 Prozent der Weltbevölkerung leben demnach in Ländern, in denen Regierungen Grundrechte wie die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit erheblich beschneiden oder Kritiker unterdrücken.

Zehn Länder verbessert - 15 verschlechtert

In zehn Ländern hat sich die Lage 2022 gegenüber dem Vorjahr demnach verbessert, so etwa in den USA, in Lettland und Tschechien. In den USA schützt d die Regierung in Washington dem Atlas der Zivilgesellschaft zufolge die Gewerkschaften besser. In Lettland werde die Zivilgesellschaft bei politischen Entscheidungen stärker einbezogen, etwa über ein Online-Portal für Konsultationen. In Tschechien setze sich die Regierung von Petr Fiala für unabhängige Medien ein.

In 15 Ländern hat die Unterdrückung oder auch die Beschränkung zivilgesellschaftlicher Rechte laut Studie dagegen zugenommen, darunter Griechenland, Russland und Afghanistan. In Griechenland sei das unter anderem auch der Fall, weil die Regierung Kritiker und Aktivisten mit der Pegasus- oder Predator-Software ausspionieren lasse.

Verschiedene negative Trends

Neben den Veränderungen im Ranking der Staaten zeichnen sich laut Atlas weitere markante Trends ab, die die Lage der Zivilgesellschaft im Jahr 2023 beschreiben. So habe die Zahl der Militärputsche zugenommen, Generäle übernahmen die Macht unter anderem in Myanmar und Mali. Mehrere Staaten, darunter auch die USA, Großbritannien und Australien erließen Gesetze, welche das Versammlungs- und Demonstrationsrecht einschränkten.

Auch Klimaaktivisten geraten demnach weltweit immer stärker unter Druck. Von Brasilien bis nach Polen werden sie als Staatsfeinde oder "Klimaterroristen" verleumdet. In Bayern etwa wurden mehrere von ihnen wochenlang in Präventivhaft genommen, nachdem sie sich auf dem Asphalt des Münchner Altstadtringes festgeklebt hatten.

Daneben stellten Desinformationen die Zivilgesellschaft vor große Herausforderungen. Mit falschen Behauptungen würden NGOs und Aktivisten gezielt diskreditiert. Auch die Freiheit im Internet werde beständig eingeschränkt. Unter dem Vorwand Hate Speech einzudämmen, nutzten Regierungen Gesetze, um mediale Kritik zu verhindern.

Proteste medial präsent wie selten zuvor

Dabei seien Proteste der Zivilgesellschaft im vergangenen Jahr medial so präsent gewesen, wie selten zuvor: so gingen im Iran Frauen ohne Kopfbedeckung auf die Straße, Klimaschützer in Deutschland gegen den Abbau der Braunkohle.

In Spanien, Peru und Kasachstan demonstrierten Menschen gegen Misswirtschaft und steigende Preise. In China forderten Tausende ein Ende der drakonischen Corona-Lockdowns.

"Die Reaktion des Staates war in vielen Fällen gleich", sagt Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt. "Polizei und Militär schlugen auf Demonstranten und Journalistinnen ein. Menschen wurden verhaftet und sogar getötet." Um das Engagement der Zivilgesellschaft zu verhindern, bedienten sich Regierungen unterschiedlicher Instrumente – von Einschüchterungen, Gewalt und Festnahmen bis zu Zensur, Desinformationen und restriktiven Gesetzen. Ziel sei es, Organisationen in ihrer Arbeit zu behindern oder sie finanziell auszutrocknen.

Allerdings stellt die Studie auch positive Trends fest, die hoffen ließen. So sei die Zivilgesellschaft heute in vielen Ländern besser vernetzt; NGOs würden kreative Lösungen teilen. Auch zögen NGOs zunehmend vor Gericht, um Präzedenzfälle zu schaffen, die von Machthabern nicht ignoriert werden könnten.

Ukraine: Krieg schweißt Staat und Gesellschaft zusammen

In Europa werden die zivilgesellschaftlichen Organisationen derzeit vom Krieg Russlands gegen die Ukraine in Atem gehalten. Mit großem Engagement seien sie in die humanitäre Versorgung, psychosoziale Begleitung oder die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen eingebunden, heißt es in dem Bericht.

Auch der Zustrom an Geflüchteten aus der Ukraine stelle sie vor große Herausforderungen. In der Ukraine selbst habe der Krieg die Zivilgesellschaft gestärkt. Bevölkerung und Verwaltung arbeiteten auf lokaler Ebene zusammen, Menschen nähmen Flüchtlinge auf, lokale Initiativen verteilten Hilfsgüter. Der gemeinsame Kampf gegen den Aggressor Russland lasse zuvor geforderte Reformvorhaben in den Hintergrund rücken.

Russland gilt jetzt als "geschlossen"

Russland wird im aktuellen Atlas der Zivilgesellschaft erstmals als "geschlossen" verortet. Das bedeutet: Regierungskritik wird dort schwer bestraft und Pressefreiheit existiert nicht mehr. Das "Agentengesetz" schränkte die Arbeit kritischer Organisationen und unabhängiger Medien bereits seit 2012 ein. Im vergangenen Jahr wurde es auf Einzelpersonen ausgeweitet. Die größte unabhängige NGO Russlands Memorial wurde Ende 2021 vom Obersten Gerichts Russlands verboten. Proteste gegen die Regierung oder gar den Krieg werden ebenfalls per Gesetz unterbunden. Wer demonstriert, dem droht Haft; das Wort "Krieg" steht unter Strafe.

Migration im Fokus: Helfer werden ferngehalten

Einen Fokus setzt die Studie in diesem Jahr auf das Thema Migration. Geführt werde demnach ein weltweiter Kampf gegen die Mobilität von Menschen, gegen unerwünschte Schutzsuchende, Flüchtende und Arbeitsmigranten. Dabei werde die Solidarität mit Migranten mit teils ähnlichem Nachdruck erschwert, wie die Migration selbst. Ein Weg dazu sei beispielsweise die Verweigerung physischer Zugänge. Libyen, das in Kooperation mit der EU Zehntausende Flüchtlinge in Lager schleppe, lasse Helfer und Medien praktisch überhaupt nicht ins Land. Polen etwa habe eine "Rote Zone" an der Grenze zu Belarus abgesperrt, als die Flüchtlingszahlen stiegen. In landeseigenen Lagern hätten ebenso wie in Griechenland, Frankreich und den bayrischen Ankerzentren nur akkreditierte NGOs Zugang.

Die Regierungen blockieren die Seenotrettung im Mittelmeer massiv. Der Tod dient als Abschreckung. Das ist ein zynisches Spiel mit Menschenleben.

Dagmar Pruin Brot für die Welt

Die EU schotte sich immer weiter ab, heißt es in der Studie. Wie dies genau geschieht, wird am Beispiel Griechenlands erzählt. Mit Geldern der EU seien dort "dystopische Camps" errichtet worden. Schließlich sei Griechenland das "Schutzschild Europa", begründete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einst den Schritt. Mit riesigen Betonmauern und dreifachem Stacheldraht erinnerten die Camps an Guantanamo, so die Studie. Ein Verlassen der Anlage sei Asylsuchenden kaum möglich, Helfern werde der Zutritt durch "willkürliche und unverhältnismäßige Auflagen" erschwert. Auch die zivile Seenotrettung sei von Repressionen betroffen. Schiffe engagierter Organisationen würden in Häfen festgesetzt.

Wer für Flüchtlinge eintritt, lebt gefährlich

Der Kampf gegen die Mobilität von Menschen wird laut der Studie aber nicht nur an den Grenzen selbst, mit Zäunen, Hunden, Biometrie und Radar geführt. Unter Druck ständen zunehmend auch jene, die den Menschen beistehen: private Helfer und Unterstützer, Solidaritätsgruppen, Anwälte und NGOs. Sie ständen im "Zentrum einer globalen politischen Auseinandersetzung um menschliche Bewegungsfreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit". Sie seien Ziel politischer Angriffe und Diffamierungen – auch deshalb, weil sie bisweilen als Sündenböcke leichter zu attackieren seien als Flüchtlinge selbst.

Und: Wer sich für Geflüchtete einsetze, der lebe gefährlich. Gegen Flüchtlingshelfer, sogenannte "Migrant defenders" würden heute alle Facetten politischer Repression angewendet, von den rechtlichen oder räumlichen Beschränkungen ihres Handelns über Diffamierungskampagnen bis hin zu Gefängnisstrafen und angedrohter Gewalt.

Wer sich für Menschen einsetzt, die Schutz und Unterstützung am dringendsten brauchen, wird kriminalisiert, an der Arbeit gehindert oder bedroht.

Dagmar Pruin Brot für die Welt

Forderungen an die Politik

Damit sich die "freie Zivilgesellschaft" weiter etablieren kann, wird die Politik zum Handeln aufgefordert. So sollten sich Bundestag, Bundesregierung und die Botschaften der Bundesrepublik mehr einsetzen für Menschenrechte. Deren Verteidiger gelte es vor Repressionen zu schützen. Flüchtlingshelfer dürften nicht kriminalisiert werden. Vielmehr gelte es, ihnen Zugang zu Schutzsuchenden zu ermöglichen, an Grenzen, auf See ebenso wie in Aufnahmeeinrichtungen.

Die Ergebnisse der jährlichen Untersuchung basieren auf Rechercheergebnissen der Nichtregierungsorganisation Civicus, die insgesamt 194 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen sowie die Palästinensischen Gebiete und Taiwan beobachtet. Dafür wertet die Organisation den Angaben zufolge laufend Berichte von lokalen Nichtregierungsorganisationen, internationalen Partnerorganisationen und öffentlichen Quellen aus.

Quelle: Brot für die Welt

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. Mai 2023 | 13:00 Uhr

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