Parlamentswahlen Belarus: Das Experiment mit der Demokratie

18. November 2019, 11:19 Uhr

Am 17. November wählen die Belarussen ein neues Parlament. Die OSZE stuft die Wahlen im Land allerdings seit vielen Jahren als undemokratisch ein. Seit 25 Jahren herrscht Präsident Lukaschenko und sein autokratisches Regime scheint "festbetoniert" zu sein. Doch schon bei der letzten Wahl hatten überraschend zwei unabhängige Kandidatinnen den Einzug ins Parlament gehalten und für eine vorsichtige Öffnung Richtung Europa gesorgt. Ob es die Opposition diesmal wieder schafft, ist unklar.

Eigentlich finden die Parlamentswahlen in Belarus alle vier Jahre statt. Entsprechend diesem Turnus müsste das nächste Parlament also erst 2020 gewählt werden. Doch Präsident Lukaschenko zog diese per Erlass um zehn Monate vor. Denn nächstes Jahr findet auch die Präsidentschaftswahl statt und zwei Wahlen in einem Jahr wäre zu viel der politischen Entscheidungen für das belarussische Volk, so seine Argumentation.

Zarte Blüten der Liberalisierung

Dennoch bewegt sich etwas in der belarussischen Gesellschaft. Während der Großteil der Wirtschaft nach wie vor staatlich kontrolliert ist - im produzierenden Sektor sind es 58 Prozent aller Betriebe, plädiert fast die Hälfe der Belarussen für eine marktwirtschaftliche Öffnung, wie die aktuellen Umfragen des unabhängigen IPM Reserch Centers zeigen. Auch die Zivilgesellschaft im Land wird zunehmend selbstbewusster und kann mittlerweile sogar dem Staat gegenüber sozialpolitische Forderungen stellen. Selbst Oppositionsgruppen, die frühere Wahlen boykottiert haben, nahmen aktiv am jüngsten Wahlkampf teil, auch wenn ihre Chancen auf Parlamentssitze gegen null gehen.

Mangelndes Verständnis demokratischer Prozesse

Anna Kanopazkaja
Anna Kanopazkaja war eine von zwei unabhängigen Abgeordneten, die in der vergangenen Legislaturperiode im belarussischen Parlament saßen. Bildrechte: Anna Kanopazkaja/MDR

Ausnahmen von dieser Regel hat es bei der letzten Parlamentswahl 2016 gegeben. Damals schafften es zwei unabhängige Kandidatinnen ins Parlament – Anna Kanopazkaja von der oppositionellen Vereinigten Bürgerpartei und Alena Anisim von der Vereinigung der Belarussischen Sprache. Beide haben in der vergangenen Legislaturperiode vor allem versucht, in einen offenen Dialog mit der Bevölkerung zu treten. Oft ging es dabei darum, den Menschen die Grundlagen der Demokratie sowie parlamentarischer Arbeit näherzubringen.

"Die Menschen verstehen oft nicht, wozu man ein Parlament überhaupt braucht", sagt Kanopazkaja. "Bürger haben mich zum Beispiel immer wieder gebeten, einen Termin mit dem Präsidenten zu vereinbaren – so wollten sie ihre lokalen Probleme lösen. Oder sie haben mich gefragt, warum nach drei Jahren meiner Arbeit im Parlament noch immer keine neuen Bänke und Bäume vor ihrem Haus stehen."

Macht und Ohnmacht des Parlaments

Betrachtet man jedoch die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsprozess, eine seiner wichtigsten Aufgaben, verwundert es kaum, dass es von der Bevölkerung als verlängerter Arm des allmächtigen Präsidenten wahrgenommen wird. 2018 wurden nur sieben Prozent aller Gesetzentwürfe vom Parlament eingebracht - der Rest kam von der Regierung und von Lukaschenko selbst. Und wurde vom Parlament lediglich abgesegnet.

Macht es für die Opposition also überhaupt Sinn, sich an Wahlen in einer Autokratie zu beteiligen? Die meisten Experten in Belarus sind sich in dieser Frage einig und antworten mit einem klaren "Ja". Denn nur so können Kandidaten eine Art "Staatsbürgerkunde live" betreiben, indem sie mit den Wählern auf der Straße oder über die staatlichen Medien kommunizieren. Nur so können sie die autokratiemüde belarussische Bevölkerung aus ihrer politischen Apathie herausreisen und "heiße" gesellschaftliche Themen in die Öffentlichkeit tragen. So kandidierten für diese Wahl beispielsweise Aktivisten, die seit 2018 öffentlich gegen ein neues Batteriewerk in der Nähe von Brest protestierten. Dort werden Autobatterien auf Bleibasis hergestellt, was nach Ansicht der lokalen Bevölkerung großen Schaden an der Umwelt verursachen könnte.

Opposition von Lukaschenkos Gnaden

Es ist also nicht völlig unrealistisch, dass nach der heutigen Wahl wieder einige oppositionelle Kandidaten ins Parlament einziehen können. Das entscheidet allerdings nicht der Wähler an der Urne, sondern das Regime selbst. Auch Kanopazkaja und Anisim wurden 2016 ins Parlament "gelassen" und nicht gewählt. Damals hat die OSZE die Wahlen als unfair eingestuft. Dennoch ging es Lukaschenko darum, zu demonstrieren, dass das Land zu demokratischen und liberalen Reformen fähig ist, und so die Beziehungen zum Westen zu verbessern. Diese Strategie hatte durchaus Erfolg: Nach Aufhebung der EU-Sanktionen wurde die europäisch-belarussische Zusammenarbeit intensiviert und 2018 besuchte der damalige EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, Johannes Hahn, die belarussische Hauptstadt Minsk und traf dort mit Alexander Lukaschenko zusammen.  

Der Einzug unabhängiger Kandidaten ins Parlament 2019 würde also eine weitere Stärkung pro-europäischer Kräfte im belarussischen Politestablishment bedeuten, was eine weitere Annäherung des Landes an den Westen zur Folge hätte. Ein Parlament ohne Opposition würde dagegen dafür sprechen, dass das System an keinen weiteren "Demokratieexperimenten" interessiert ist.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 17. August 2018 | 17:45 Uhr

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