Ukraine Stromausfall Energie
Jederzeit, so erwartet man in der Ukraine, können die russischen Angriffe auf die Energieversorgung des Landes wieder losgehen. Bereits im letzten Winter hatten sie den Alltag der Bevölkerung enorm erschwert. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Russlands Krieg gegen die Ukraine Ukrainische Energieinfrastruktur vor neuem Beschuss

09. Oktober 2023, 16:12 Uhr

Im vorigen Winter griff Russland gezielt die ukrainische Energieversorgung an. Die Ukraine geht davon aus, dass eine neue Angriffswelle auf ihre kritische Infrastruktur unmittelbar bevor steht. So gut es geht, bereiten sich das Militär und die Energieversorger auf möglichen Beschuss vor. Auf ein Glied in der der Energieversorgung haben es die Angreifer besonders abgesehen.

Porträt Denis Trubetskoy
Bildrechte: Denis Trubetskoy/MDR

Für viele in der Ukraine war der 10. Oktober 2022 eine Art Mini-Version des 24. Februar 2022, jenes Tages, an dem die großangelegte russische Invasion begann. Denn am 10. Oktober startete Russland seine systematischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die bis Mitte März andauerten. 50 bis 60 Raketen wurden so im Schnitt wöchentlich von Russland eingesetzt, Hunderte Kampfdrohnen iranischen Ursprungs kamen hinzu.

Im Ergebnis mussten selbst tief im Hinterland, etwa in Kiew oder Lwiw, teils ganze Stadtteile bis zu vier Tage lang komplett ohne Strom, Heizung und Leitungswasser auskommen. Das gesamte Land hat darüber hinaus während dieser Zeit permanent mit sogenannten planmäßigen Stromausfällen gelebt, bei denen es immer im Wechsel meist drei Stunden lang Strom gab und dann wieder drei Stunden lang der Strom abgestellt wurde.

Ukraine ohne Strom
Selbst Rettungseinsätze mussten im vergangenen Winter bei Kerzenschein durchgeführt werden. Hier nach russischem Beschuss auf eine Stadt und ihre zivile Infrastruktur nahe Kiew im November 2022. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

"Dass die Russen auf eine neue Angriffswelle nicht verzichten werden, ist sicher", sagte Andrian Prokip, Direktor des Energieprogramms der unabhängigen Kiewer Denkfabrik "Ukrainisches Zukunftsinstitut", dem MDR. Tatsächlich haben die ersten kleineren Angriffe bereits stattgefunden. So blieben nach dem Beschuss vom 21. September, dem ersten nennenswerten Angriff auf Energieobjekte seit sechs Monaten, fast 400 Ortschaften für eine Weile ohne Strom. Und weil es bereits Oktober ist, wissen die Ukrainer ganz genau: Ab nun könnte die neue Angriffswelle jederzeit beginnen. Entsprechend steigt auch die Nachfrage nach Akkus, Generatoren, Kerzen und Powerbanks wieder.

Sensibelster Punkt der Energieinfrastruktur: Transformatoren

Konkrete Daten dazu, in welchem Ausmaß die ukrainische Energieinfrastruktur im vorigen Winter zerstört wurde, veröffentlicht die Ukraine aus Sicherheitsgründen nur spärlich. Aus einem UN-Bericht vom April geht jedoch hervor, dass russischer Beschuss 42 von 94 kritischen Transformatoren entweder beschädigt oder zerstört hat. Dass Russland gerade Transformatoren in Umspannwerken zum Hauptziel macht, hat Gründe. Denn der direkte Beschuss von Kraftwerken verkleinert zwar die ukrainische Stromproduktion. Zum einen aber ist der Verbrauch aufgrund von Millionen von Flüchtlingen und der größtenteils stillstehenden Schwerindustrie ohnehin viel geringer als vor 2022. Zum anderen ist es selbst mit Raketen schwierig, die in der Sowjetzeit mit der Möglichkeit eines Atomkriegs im Hinterkopf gebauten Kraftwerke nachhaltig zu beschädigen.

Feuerwehr vor einem brennenden Kraftwerk
Im Herbst 2022 begann Russland mit der gezielten Zerstörung von Transformatoren und anderen Teilen der ukrainischen Energieinfrastruktur. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Mit dem Beschuss der viel exponierteren Transformatoren in den Umspannwerken kann Russland aber immerhin dafür sorgen, dass der schon erzeugte Strom beim Endverbraucher nicht ankommt. Sowohl die Reparatur als auch die Herstellung von Transformatoren sind aufwendig, letzteres dauert sogar unter normalen Umständen oft länger als ein Jahr.

Nach Angaben des britischen Wirtschaftsmagazins "The Economist" soll die Ukraine nun rund 100 Transformatoren als Ersatz für vorher zerstörte Anlagen bestellt haben. Die Hälfte davon soll im Inland produziert werden. Die andere Hälfte soll aus dem Ausland kommen, aber vorerst als Reserve in grenznahen EU-Ländern gehalten werden, damit die Transformatoren einerseits schnell in die Ukraine gebracht werden können aber andererseits außerhalb der Reichweite russischer Raketen liegen. Außerdem hofft Kiew, eine ganze Reihe von kurz vor dem Krieg ausgemusterten Transformatoren wieder einsatzfähig machen zu können.

Ukraine Stromausfall Energie
In Kiew und anderen Städten richteten die Behörden im vorigen Winter Wärmeorte ein, in denen die Menschen während der Stromausfälle auch Energie für ihre Handys und anderweitige Unterstützung bekamen. Bildrechte: IMAGO / Ukrinform

Die Frage ist dabei aber einerseits, wie weit die Produktion tatsächlich fortgeschritten ist – und andererseits, um wie viele systemrelevante, große Transformatoren es sich dabei handelt. Deswegen ist es laut Andrij Herus, dem Vorsitzenden des Energieausschusses im ukrainischen Parlament, schwierig einzuschätzen, wie gut die Ukraine tatsächlich auf den Winter vorbereitet ist. "Die gesamte Ausrüstung kann funktionieren. An manchen Stellen hat man allerdings drei Transformatoren in der Reserve und an anderer nur einen", meint er. Es kommt also darauf an, welche Transformatoren im Falle neuer Angriffe getroffen werden. Und diese Verteilung sei es, die dann eine Schlüsselrolle spielen würde: "Die Russen wissen genau, dass die Herstellung von Transformatoren lange dauert", ist sich Herus sicher.

Entscheidende Rolle der Flugabwehr

Was sich in der Ukraine dagegen seit dem letzten Winter stark verbessert hat, ist die Flugabwehr. Westliche Systeme wie Patriot oder IRIS-T haben sich als sehr effektiv erwiesen. Es ist aber selbst mit den besten Flugabwehrsystemen unmöglich, das riesige Territorium der Ukraine vollständig zu schützen. Ein weiterer Faktor: Während Russland wohl wegen begrenzter Produktionskapazitäten nicht in der Lage sein wird, ebenso viele Raketen wie im vorigen Winter abzuschießen, produziert es aber eine eigene Variante iranischer Kampfdrohnen inzwischen selbst. Diese werden oft gar nicht für Beschädigungen von bestimmten Zielen, sondern gezielt zur Überlastung der ukrainischen Flugabwehr eingesetzt, damit Raketen ein leichteres Spiel haben. Im September flog nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe bereits eine Rekordzahl von Langstreckendrohnen Angriffe auf die Ukraine.

Daher arbeitet die Ukraine nicht nur daran, ihre Flugabwehr zu verbessern, sondern schützt Energieanlagen auch baulich besser. Die ukrainischen Energiebetreiber wollen sich zu den Details allerdings ebenfalls so gut wie gar nicht äußern. Ein wichtiger Aspekt ist darüber hinaus das Wetter. Der milde Winter 2022/23 hat massiv dazu beigetragen, dass die Ukraine die Angriffe Russlands überstehen konnte. Und selbst ohne russischen Beschuss müsste die Ukraine bei Temperaturen ab etwa minus 5 bis minus 7 Grad Celsius und niedriger auf planmäßige Stromausfälle umstellen, schätzt Wolodymyr Omeltschenko, Direktor der Energieprogramme der Denkfabrik Zentr Rasumkowa, die Lage ein. Angriffe aus dem Nachbarland würden bei solchen Temperaturen die Lage zusätzlich verschärfen.

Milder Herbst nützt Ukraine

Diese Einschätzung teilt auch Andrian Prokip vom Ukrainischen Zukunftsinstitut. "Ich bin verhalten optimistisch, weil wir wohl nicht vor einem sehr kalten Winter stehen. Der September war sogar wärmer als im letzten Jahr, mit dem Oktober sieht es bis jetzt ähnlich aus", betont der Experte. Allerdings geht er generell von ähnlichen Zuständen wie im Winter 2022/23 aus.

Es wird Ausfälle geben und es kann lokal wieder zu sehr, sehr schwierigen Situationen kommen. An einen totalen Blackout glaube ich aber nicht.

Andrian Prokip | Kiewer Denkfabrik "Ukrainisches Zukunftsinstitut"

Zudem könne es sein, dass bei Beschuss auch die ukrainischen Atomkraftwerke kurzzeitig abgeschaltet werden müssen. Diese Vorsichtsmaßnahme hatten die Energieversorger auch im vorigen Jahr ergriffen, um Schäden für das Energienetz bei anstehendem Beschuss klein zu halten. "Das kann jederzeit wieder passieren – und es dauert dann ein paar Tage, bis die gesamte Infrastruktur wieder vollständig hochgefahren ist", sagt Prokip. Dies sei jedoch eher das Maximum an Einschränkungen, sollte das russische Militär nicht auf eine vollkommen neue Angriffstaktik kommen. "Es wird Ausfälle geben und es kann lokal wieder zu sehr, sehr schwierigen Situationen kommen. An einen totalen Blackout glaube ich aber nicht", betont Prokip.

Das Atomkraftwerk Saporischschja 4 min
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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 05. Oktober 2023 | 21:06 Uhr

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