Aufnahmeprüfungen Tschechien: Harter Kampf um Plätze am Gymnasium
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08. Juli 2023, 16:08 Uhr
Das Schuljahr geht zu Ende – damit naht für viele Schüler auch der Wechsel ans Gymnasium. Und alle Jahre wieder liegen bei Kindern und Eltern die Nerven blank, denn vielerorts in Tschechien gibt es zu wenig Plätze. Die Jugendlichen haben eine Aufnahmeprüfung geschrieben, sind aber nicht genommen worden. Was jetzt? Selbst an teuren Privatschulen sind die Plätze rar. Die Politik kriegt das Problem seit Jahren nicht in den Griff. Jetzt wird es noch durch geburtenstarke Jahrgänge verschärft.
Die letzten Wochen des Schuljahres waren für viele Eltern und Kinder in Tschechien äußerst nervenaufreibend. Bis vor Kurzem war noch ungewiss, wo und an welcher Schule die Schüler, die ab September auf die weiterführende Schule wechseln, lernen werden. Schuld daran waren die Aufnahmeprüfungen an den tschechischen Mittelschulen, die dieses Jahr noch chaotischer als sonst verliefen.
"Mein Sohn hat sich bei zwei staatlichen Gymnasien beworben. Die ganzen neun Jahre hatte er nur Einser, aber er hat fünf Punkte weniger erreicht, als er gebraucht hätte", vertraut sich die 45-jährige Mutter Martina mit ihren Sorgen der Tageszeitung "Lidové noviny" an. Dann fügt sie noch verbittert hinzu: "Sein ganzes Leben lang büßt er schon dafür, dass er 2008 zur Welt gekommen ist, also im geburtenstärksten Jahrgang seit Langem."
Mehr Kinder, genauso viele Plätze
Rund 116.000 Kinder hatten sich dieses Jahr in ganz Tschechien an einem der Gymnasien oder einer vergleichbaren Schule mit Abitur angemeldet – 10.000 mehr als im Vorjahr. Unerwartet kam das nicht, im Gegenteil. Die 2008 geborenen Jugendlichen hatten schon als Kinder oft Schwierigkeiten, einen Kita-Platz zu bekommen oder einen Kinder- bzw. Zahnarzt zu finden. Nun konkurrieren sie um die begehrten Plätze an Gymnasien und Mittelschulen. Gerade in den Großstädten sind diese rar – auch deshalb, weil viele Schüler aus dem Umland in den attraktiven Metropolen lernen wollen.
Um aufs Gymnasium oder an eine Schule mit Abitur zu kommen, müssen sich die Bewerber Aufnahmeprüfungen in Tschechisch und Mathematik unterziehen – und nur die Besten werden genommen. In der ersten Runde dürfen sie sich nur an zwei Schulen anmelden. Auf Platz eins nennen die meisten ihre favorisierte Schule, auf Platz zwei eine Schule, die ebenfalls noch in Frage kommt, wo der Andrang in den letzten Jahren aber nicht so groß war und die Erfolgsaussichten höher sind.
Aufnahmeprüfungen an tschechischen Gymnasien
Alle Schulen testen die Bewerber in den Fächern Tschechisch und Mathematik. Dafür gibt es jeweils bis zu 50 Punkte. An einigen besonders gefragten Schulen gibt es zusätzliche Tests, zum Beispiel in Sachen Allgemeinbildung. Die Gesamtpunktzahl entscheidet über die Aufnahme. Bei Punktegleichstand können noch die Zeugnisse der letzten beiden Grundschuljahre den Ausschlag geben. Jede Schule nimmt so viele neue Schüler auf, wie sie Plätze in den Klassen hat – in der Regel sind es 30 pro Klasse.
Taktische Schulwahl – und viele Verlierer
Dieses Jahr war aber viel Taktik im Spiel. Aus Angst, an einer "guten" Schule zu scheitern, gingen viele Eltern auf Nummer sicher und wählten von vornherein zwei weniger umkämpfte Schulen. So kam es zu paradoxen Situationen: Einige der "besseren", prestigeträchtigen Schulen verzeichneten einen deutlich geringeren Zulauf – und hatten deshalb niedrigere Zugangshürden als "schlechtere" Schulen.
Bei einer solchen Auslese bleiben zunächst einmal Hunderte Bewerber außen vor. Für sie gibt es eine zweite Runde, bei der sie sich an beliebig vielen Schulen bewerben können. Da es aber kein zentrales Register der noch freien Plätze gibt, müssen die Eltern Schule für Schule "abklappern". So bildeten sich vor einigen Gymnasien lange Schlangen von Eltern, die ihr Kind persönlich anmelden wollten.
In diesem Jahr haben einige Eltern bei der zweiten Runde vor lauter Verzweiflung Dutzende Anmeldungen verschickt. So etwa Markéta Sáblíková aus Český Brod, unweit von Prag. Ihr Sohn wollte ab September eine Polizeischule besuchen, ist dort aber gescheitert. In der zweiten Runde hat Sáblíková dann rund 25 Bewerbungen eingereicht und zwar quer durch die Republik. "Ich habe Anmeldungen an Schulen in Prag, Mittelböhmen, Südböhmen, Karlsbad, Liberec, Jihlava, Hradec Králové und Südmähren verschickt", verriet sie dem Tschechischen Fernsehen. In Jihlava hatte ihr Sohn schließlich Glück. Das liege zwar 120 Kilometer von zu Hause entfernt, sodass der Junge die Woche über auf einem Internat wohnen müsse – aber wenigsten habe er einen Platz, seufzt die Mutter.
Kritik von Experten
Experten kritisieren die Aufnahmeprozedur, die Jahr für Jahr Eltern und Schülern schlaflose Nächte bereitet. "Für die Kinder ist das ein schwerer Schlag. Die Erfolglosen bekommen das Gefühl, ihre ganze Vorbereitung für die Prüfung war umsonst. Zudem ist das für sie eine erste direkte Konfrontation mit dem Staat und seinen Institutionen. Und auf einmal erfahren sie am eigenen Leib, dass der Staat nicht funktioniert", sagte Tomáš Feřtek vom Think-Tank für Bildungsfragen EDUin im tschechischen Fernsehen.
Die Suche nach den Schuldigen ist von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Das Bildungsministerium sieht die Regionen als Träger der Gymnasien und Mittelschulen in der Pflicht. Diese verweisen wiederum auf ihre Anstrengungen um zusätzliche Klassen und Lehrkräfte. Schuld an der Misere sei die Regierung in Prag und das immer noch analog abgewickelte Aufnahmeverfahren.
Ein IT-basiertes Aufnahmesystem soll helfen
"Wir müssen einen Weg finden, wie wir das ganze Prozedere im nächsten Jahr zivilisierter gestalten können. Ich werde nicht versprechen, dass wir innerhalb eines Jahres einen magischen Algorithmus mit einer robusten IT-Struktur haben werden. Ich werde aber alles tun, damit es passiert", erklärte dazu Bildungsminister Mikuláš Bek bei seinem Amtsantritt vor gut einem Monat. Er ist übrigens bereits der dritte Bildungsminister innerhalb von zwei Jahren.
Beks Ministerium schwebt ein Modell vor, in dem die Anmeldungen elektronisch abgewickelt werden. Die Schüler könnten dabei bis zu fünf Schulen angeben und mit einer Priorität versehen. Geht man bei der Schule, die die erste Wahl war, leer aus, wird man automatisch auf die Zweitplatzierte umgeleitet und bei Bedarf dann auf die dritte, vierte und fünfte. So sollen vorhandene Plätze besser verteilt werden – das Problem fehlender Plätze löst man so indes nicht.
Das Schulsystem in Tschechien
Die Schulpflicht dauert neun Jahre. In der Regel absolvieren Schüler eine neunjährige Grundschule und können sich danach, mit 15 oder 16 Jahren, für ein vier Jahre dauerndes Gymnasium, eine Fachmittelschule mit Abitur oder eine Lehre entscheiden. Neben den vierjährigen Gymnasien gibt es allerdings auch achtjährige, an die man bereits nach der fünften Klasse der Grundschule wechselt, und sechsjährige (nach der siebten Grundschulklasse). Auch für diese Gymnasien müssen die Bewerber Aufnahmeprüfungen bestehen.
Alle Jahre wieder
Für Martina und ihren Sohn, der es trotz bester Noten im ersten Anlauf nicht geschafft hatte, gab es noch ein Happy End: Er fand einen Platz auf einem privaten Prager Gymnasium. Auch bei anderen Eltern legt sich die Aufregung wieder. Das Thema ist mit dem Herannahen der Sommerferien aus der öffentlichen Debatte verschwunden – bis zum nächsten Jahr. Denn für 2024 rechnet man damit, dass noch einmal 4.000 Kinder mehr um die begehrten Plätze an einem Gymnasium buhlen werden. Der nächste geburtenstarke Jahrgang steht in den Startlöchern.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 26. Januar 2023 | 19:00 Uhr