Europäische Union EU-Ratspräsidentschaft: Tschechien als Ukraineversteher

01. Juli 2022, 13:57 Uhr

Der tschechische Politikwissenschaftler und Auslandschef der Tageszeitung Lidové noviny, Robert Schuster, über die EU-Ratspräsidentschaft seines Landes, den europäischen Umgang mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine und darüber, wie europakritisch die Regierung von Petr Fiala wirklich ist.

Herr Schuster, was können wir von der tschechischen Präsidentschaft erwarten?

Es ist sehr interessant, dass gerade jetzt, wo der Krieg in der Ukraine tobt und wahrscheinlich in den kommenden Wochen noch weitergehen wird, ein Land den Vorsitz übernimmt, welches schon Erfahrungen hat mit Russland, mit der Ukraine und generell weiß, wie die Osteuropäer ticken. Ich würde schon erwarten, dass man das in den kommenden Monaten aktiv ausspielen wird. Das ist ja immer auch eine Frage dessen, was die anderen Mitglieder, die westeuropäischen Mitglieder erlauben werden. Aber das ist es ja immer. Es wird jetzt das nächste Sanktionspaket gegen Russland diskutiert. Da könnte Tschechien eine gewisse Brückenfunktion haben, helfen, eben dieses Paket schneller auf den Weg zu bringen, als das der Fall war, als es um das Ölembargo ging.

Wie ist denn die Haltung Tschechiens zu einem neuen und schärferen Embargo?

Es spricht sicherlich manches dafür, dass weitere Maßnahmen gegenüber Russland ergriffen werden. Das heißt zum Beispiel, dass auch Wirtschaftszweige, die bislang noch nicht von Embargos betroffen sind, in den Blick genommen werden müssen. Aber ich denke auch, dass man als Land, das die Ratspräsidentschaft inne hat, bemüht sein muss, auch eine gewisse Balance herzustellen. Man muss versuchen, 27 verschiedene Positionen unter einen Hut zu bringen. Man muss ausgleichend wirken und vielleicht auch sehr viel physisch unterwegs sein, um die ganzen Positionen einzuholen. Und das wird die vordergründige Aufgabe sein.

Ungarn hat beim Energieembargo ein Veto ins Spiel gebracht und stellt sich auch sonst sehr oft quer, wenn es um Sanktionen geht. Tschechien hat im Visegrad-Format viel mit Ungarn zusammengearbeitet. Kann Tschechien hier in besonderer Art und Weise Brücken bauen?

Viktor Mihály Orbán,  Ministerpräsident von Ungarn
Oft im Clinch mit der EU: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Bildrechte: imago/Belga

Ich denke ja. Wobei Tschechien sicherlich die Ambition hat, vom Westen nicht mehr nur als eines von diesen vier widerspenstigen Visegrad-Ländern wahrgenommen zu werden, die immer dagegen sind oder sich querstellen. Ich glaube, dass Tschechien bemüht sein wird, sich in ein besseres Licht zu rücken als es bislang der Fall war. Damit man als jemand gesehen wird, der nicht zusammen mit Viktor Orbán gemeinsame Sache macht.

Ein Problem ist ja auch, wie man Energiesicherheit mit einem Embargo russischer Energieimporte unter einen Hut bringt. Gleichzeitig gibt es in Tschechien eine Rekordinflation, die von rasant steigenden Energiepreisen angetrieben wird. Wieviel Handlungsspielraum hat die Regierung in diesem Punkt nach innen, bevor ihnen die Leute daheim aussteigen?

Der Spielraum ist nicht besonders groß, weil man schon vorher sehr viel Geld in die Hand genommen hat bei der Bewältigung der Covid-Krise. Das ist ein Problem vieler europäischer Staaten, dass die Defizite angestiegen sind und dass man jetzt mit dem Krieg in der Ukraine noch zusätzliche Kosten hat. Es ist natürlich auch eine Frage einer sozialen Balance. Die tschechische Gesellschaft galt ja in Mittelosteuropa immer als eine Gesellschaft mit einem kompakten Mittelstand, ohne so großen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Man wird sehen, ob das trotz Inflation und höheren Lebenshaltungskosten so bleibt.

Energiepolitik muss ja auch die Klimakrise im Blick behalten. Sind erneuerbare Energien eine Priorität der tschechischen Regierung?

Schon. Aber unter dem Begriff der Erneuerbaren Energien fällt – und da besteht gesellschaftlicher Konsens – auch die Kernkraft. Erneuerbare Energien sind nicht nur Windräder oder Solarpanele, sondern auch die Reaktoren in den beiden Atomkraftwerken, die wir haben. Eines davon ist schon ein bisschen am Limit, da muss bald entschieden werden, ob diese Reaktoren erneuert werden.

Tschechien hat eine ganz andere Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine als Frankreich, von dem es die Ratspräsidentschaft übernommen hat. Wie wirkt sich das aus?

Ich denke schon, dass man versuchen wird, die anderen Partner in der Europäischen Union zu überzeugen, dass die Ukraine ohne Lieferung von schweren Waffen keine Chance hat, zu überleben und die Dominanz der russischen Streitkräfte zu überstehen. Tschechien war ja eines der ersten Länder, wenn nicht sogar das erste, das schweres Kriegsgerät in die Ukraine geliefert hat. Wenn man die notwendigen Waffensysteme hat, dann sollte man sie auch liefern. Und das wird auch die Position der tschechischen Regierung sein.

Ein Schwerpunktthema, das sich Tschechien gesetzt hat, ist der Wiederaufbau in der Ukraine. Welche Impulse kann Tschechien in Sachen Wiederaufbau geben?

Die wichtigste Kompetenz ist, dass man die Ukraine kennt. In unser Land, aber auch nach Polen hat es ja in den vergangenen Jahren eine sehr starke Arbeitsmigration aus der Ukraine gegeben. Deswegen haben diese Länder auch sehr viel Ukrainer aufnehmen können, die auch relativ schnell bei Familienangehörigen oder Bekannten untergekommen sind. Diese Menschen, die jahrelang, jahrzehntelang in Polen oder Tschechien gearbeitet haben, gilt es beim Wiederaufbau ihrer Heimat einzubinden. Das ist aber etwas, was sehr wahrscheinlich den Zeitrahmen der tschechischen Ratspräsidentschaft sprengen wird, weil der Krieg leider nicht so schnell vorbei sein wird.

Tschechien hat sehr viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen, genau wie Polen. Was ist von der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft in Bezug auf den Umgang mit den Geflüchteten zu erwarten?

Bei der Flüchtlingswelle 2015 gehörte Tschechien zu jenen Ländern, die sich geweigert haben, Flüchtlinge aufzunehmen – oft mit Verweis auf historische oder kulturelle Aspekte. Mittlerweile gehört Tschechien zusammen mit Polen und anderen Ländern Osteuropas zu denjenigen, die sehr viele ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben. Da hat sich in den vergangenen Monaten schon eine gewisse Bewusstseinsänderung vollzogen. Vielleicht wird das auch ein Impuls werden für die Erstellung einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik. Vielleicht kann Tschechien aufgrund dieser Erfahrungen einen Impuls geben, damit sich die festgefahrenen Verhandlungen in dieser Sache von der Stelle bewegen.

Wie steht Tschechien zu einem beschleunigten Aufnahmeverfahren der Ukraine in die EU?

Generell ist man für die ukrainische EU-Mitgliedschaft, macht sich aber auch keine Illusionen. Man sieht, dass das sehr viele Jahre dauern wird. Gleichzeitig will Tschechien nicht, dass das zu einer Art Rennen wird: Dass sich einige potenzielle Mitgliedsländer auf der Überholspur fühlen und andere zurückgelassen werden. Damit meine ich den Westbalkan, wo einige Länder schon seit mehr als zehn Jahren darauf warten, offiziell zu Beitrittsgesprächen eingeladen zu werden. Hier wird man versuchen, die Erweiterungen in etwas größeren Zusammenhängen zu sehen: Nicht nur die Ukraine und Moldawien, also die Länder, die jetzt mittelbar im Krieg sind oder von Russland bedroht werden, sondern eben auch mit Blick auf den Westbalkan.

Die Partei ODS von Regierungschef Petr Fiala galt lange als europaskeptisch. Hat sich das geändert und wird sich das auf die EU-Ratspräsidentschaft auswirken?

Das war immer schon ein bisschen paradox: Das Führungspersonal der ODS – angefangen mit dem Parteigründer Vaclav Klaus, der mittlerweile nicht mehr Mitglied ist – war zwar immer europakritisch, die Mehrheit ihrer Anhänger war jedoch zu mehr als 80 Prozent proeuropäisch. Das waren oft Leute mit einem hohen Bildungsgrad aus Großstädten. Und die haben die Mitgliedschaft in der EU immer unterstützt. Mittlerweile hat sich auch die Parteiführung bewegt. Die ODS ist zwar im Europaparlament nach wie vor Mitglied der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR), zusammen mit der polnischen Regierungspartei PiS, also insofern formal immer noch europaskeptisch. Aber speziell unter Petr Fiala hat sich die Partei in die Mitte bewegt, auch was die Unterstützung der Europäischen Union angeht. Sogar das strittige Thema Beitritt zum Euro wird nicht kategorisch ausgeschlossen, was auf den Einfluss der TOP 09 und der Christdemokraten zurückzuführen ist, mit denen die ODS bei den letzten Parlamentswahlen auf einer gemeinsamen Liste angetreten ist.

In Tschechien hatte die EU lange kein gutes Image: Zu bürokratisch, zu kompliziert. Wie sieht das heute aus?

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Proeuropäische Demonstranten im Jahr 2017 in Prag. Bildrechte: imago images / CTK Photo

Gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs sieht man ja, dass es doch gut ist, wenn man Mitglied einer größeren Einheit wie der Europäischen Union ist. Es gab zwar immer wieder Stimmen, die sagen, wir sollten auch ein Austrittsreferendum haben, so wie die Briten. Aber so etwas hätte nicht nur gegenwärtig, sondern auch mittelfristig keine Chance auf Erfolg.

Die EU-Ratspräsidentschaft rotiert alle sechs Monate zwischen den Mitgliedsstaaten in einer festgelegten Reihenfolge. Wer sie inne hat, übernimmt den Vorsitz des Rates der Europäischen Union, der die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten präsentiert, organisiert EU-Treffen und leitet sie. Das Land vermittelt bei Problemen zwischen den EU-Mitgliedern und vertritt sie gegenüber anderen Organen der EU, wie der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 01. Juli 2022 | 06:00 Uhr

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