Milos Vucevic (Ministerpräsident, Serbien) kommt zu einer Pressekonferenz
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Kommentar Rücktritt des Ministerpräsidenten: Was ist in Serbien los?

30. Januar 2025, 18:28 Uhr

Landesweite Studentenproteste zwangen am Dienstag Serbiens Ministerpräsidenten Miloš Vučević zurückzutreten. In nur zwei Monaten erweckten die jungen Menschen die eingeschläferte Zivilgesellschaft wieder zum Leben und stimmten sie auf Aufstand ein. Wie kam es dazu? Unser Belgrader Ostblogger Andrej Ivanji erklärt die Ereignisse subjektiv aus seiner Sicht.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Unzufriedene Bürgerinnen und Bürger schließen sich massenhaft den von Studenten angeführten Demonstrationen an. Die Rebellion dringt aus den Großstädten in die Provinz vor. Die lange unbezwingbar wirkende serbische Autokratie mit Präsident Aleksandar Vučić an der Spitze zeigt sich zum ersten Mal seit dreizehn Jahren verwundbar.

Die politische Krise löste die Baukatastrophe von Novi Sad am 1. November 2024 aus – das Vordach des dortigen Bahnhofs war eingestürzt, fünfzehn Menschen waren ums Leben gekommen. Oppositionsparteien bezeichneten das unisono nicht als Unglücksfall, sondern als "Mord", und begründeten das mit endemischer Korruption, infolge derer nicht Fachleute, sondern parteitreue Menschen an führende Positionen im Staat gelangen – auch im Bauwesen.

Mitarbeiter von Rettungsdiensten inspizieren das eingestürzte Dach eines Bahnhofs. 5 min
Mitarbeiter von Rettungsdiensten inspizieren das eingestürzte Dach eines Bahnhofs. Bildrechte: picture alliance/dpa/Interior Ministry of Serbia/AP | -
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Vor einem Monat starben in der serbischen Stadt Novi Sad 15 Menschen bei einem Unglück: Das Vordach des erst vor Kurzem sanierten Bahnhofs aus den 1960er Jahren war eingestürzt.

MDR AKTUELL Sa 30.11.2024 11:20Uhr 04:51 min

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Verhaftete und verprügelte Studenten

Viele Bürger sahen das auch so, gingen auf die Straße und forderten, dass alle Verantwortlichen strafrechtlich belangt werden. Bei einem dieser Proteste gingen Polizisten in Zivil, ohne ihre Dienstausweise vorzuzeigen, grob eine junge Frau an. Ihr Freund wollte sie verteidigen und wurde festgenommen. Der junge Mann ist Student der Kunstakademie in Novi Sad. Seine Freunde in Belgrad blockierten darauf aus Protest die Straße vor ihrer Fakultät und forderten die sofortige Freilassung des verhafteten Studenten. Einige Männer, die sich als nervöse Autofahrer ausgaben, die es eilig gehabt hätten, verprügelten die Teilnehmer der Blockade. Sehr bald entpuppten sie sich als Funktionäre und Mitglieder der omnipotenten regierenden Serbischen Fortschrittspartrei (SNS), deren unantastbarer Boss Staatspräsident Vučić ist.

Ihr dreistes Vorgehen löste unter Studenten in ganz Serbien Trotzreaktionen aus. Eine Fakultät nach der anderen wurde besetzt, so dass am Ende alle Universitäten blockiert waren. Die meisten Professoren und Dekane stellten sich hinter die Studenten, die in vielen Städten Tag für Tag auf die Straße gingen, um "15 Minuten lang der 15 Opfer von Novi Sad zu gedenken" und blockierten dabei den Verkehr.

Ein Demonstrant schwenkt eine serbische Flagge
Protest an einer Straße in Serbien Bildrechte: picture alliance/dpa/AP | Darko Vojinovic

Einschüchterungsversuche des Regimes

Präsident Vučić, Politiker aus Regierungskreisen und die gleichgeschalteten Medien gingen, wie immer, auf Konfrontationskurs gegen Andersdenkende, die Aufsehen erregen. Man bezeichnete protestierende Studenten als "ausländische Söldner", "Verräter", "Staatsfeinde" und quasselte wie immer in solchen Situationen von der Einflussnahme irgendwelcher "westlicher Geheimdienste", die Vučić entmachten wollten.

Kein Wunder, dass sich da so einige SNS-Anhänger berufen sahen, die "antiserbischen" Demonstranten mit ihren Autos anzufahren. Als das zum ersten Mal passierte, reagierte der Staatspräsident mit "Na und!?" Bürger, die Straßen, blockierten, sagte er, würden ihren Mitmenschen das gesetzlich garantierte Recht auf Bewegungsfreiheit rauben.

Demonstrierende halten ein Banner mit einem Banner und einem Spruch in slawischer Sprache hoch.
Transparent auf einer Studentendemo: Das Konterfei des berühmten serbischstämmigen Erfinders Nikola Tesla und die Losung "Man kann auch ohne Geld in der Tasche denken" – eine Anspielung auf die Korruption im Lande, aber auch an die Drohung der Regierung, den Studenten finanzielle Unterstützung zu streichen. Bildrechte: IMAGO / Aleksandar Djorovic

Danach wurde aber eine Studentin überfahren und schwer verletzt, und kurz darauf eine weitere. SNS-Mitglieder rechneten auf eigene Faust mit Studenten ab, und jedes Mal wurde danach der Protest massiver, mit jedem Mal schlossen sich den Studenten mehr Bürger an.

Als Vučić endlich merkte, dass das Regime mit Einschüchterungsversuchen nichts erreichen kann, versuchte er einzulenken. Zwei Minister traten zurück, einige wurden als verantwortlich für den Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad angeklagt und verhaftet, die festgenommenen Studenten wiederum aus der Haft entlassen. Vučić redete väterlich, quasi voller Verständnis für den jugendlichen Trotz, auf die Studenten ein. Doch es war zu spät.

Studentenproteste
Besetzte Landwirtschaftliche Fakultät im Belgrader Stadtteil Zemun. Bildrechte: IMAGO/Aleksandar Djorovic

Die Serben haben keine Angst mehr

Von den Studentenprotesten kam sinngemäß die Antwort: Mit dir haben wir nichts zu reden, du bist nicht zuständig, der Staatspräsident hat laut Verfassung nur zeremonielle Befugnisse, also halte dich gefälligst daran, du kannst uns mal!

Es war das Schlimmste, was einem Autokraten passieren konnte, der über alles im Staat entscheidet: Die Studenten ließen ihn verächtlich abblitzen. Sie untergruben seine jahrelang sorgfältig ausgebaute Autorität, entlarvten den angeblich mächtigen Volksführer, dem Minister die Hand küssen müssen, als einen Schwindler. Sie zerbrachen den um Vučić aufgebauten Personenkult und befreiten so viele Menschen von ihrer Angst, bestraft zu werden, wenn sie ihre Meinung öffentlich äußern.

Demonstrierende halten Plakate mit roten Abdrücken von Händen darauf hoch.
Rote Hände sind ein allgegenwärtiges Symbol bei den Studentendemos in Serbien – sie stehen für die verbreitete Korruption, die zum Tod von 15 Menschen bei der Baukatastrophe am Bahnhof von Novi Sad geführt haben soll. Bildrechte: IMAGO / Aleksandar Djorovic

Den Studenten schlossen sich Schüler, den Universitätsprofessoren Lehrer an. Die serbische Anwaltskammer verkündete einen siebentägigen Streik als Zeichen der Unterstützung für die Studenten. Theater stellten ihre Arbeit ein. Einzelne Staatsbeamte verweigerten Parteibonzen das Gehorsam. Einzelne Richter und Staatsanwälte äußerten ihre Unterstützung für den Studentenprotest. Sogar Veteranen der elitären 63. Fallschirmjägerbrigade schlossen sich den Demos an. Und auch Biker, "um die Studenten vor Angriffen zu beschützen".

Kulmination der Proteste in Serbien

Der Studentenprotest kulminierte am Montag mit der vierundzwanzigstündigen Blockade von Autokomanda, einer der wichtigsten Straßenkreuzungen in Belgrad. Es war eine überwältigende, man kann es schon so sagen, Machtdemonstration. Um den Schaden zu begrenzen, wendeten sich am gleichen Abend gemeinsam der Ministerpräsident, der Staatspräsident und die Parlamentspräsidentin an das Volk. Alle vier Forderungen der Studenten habe man erfüllt, beteuerte Vučić: Die gesamte Dokumentation über die Rekonstruktion des Bahnhofs von Novi Sad habe man veröffentlicht, alle festgenommen Demonstranten seien aus der Haft entlassen, alle Angreifer auf Studenten identifiziert und angeklagt worden, und obendrein wurde die Finanzierung der Hochschulen um 20 Prozent erhöht. Also, sagte der Staatspräsident, könnten die Studenten nach Hause gehen und wieder Bücher in die Hand nehmen.

Aleksandar Vucic, Ministerpräsident Serbien
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić bemühte sich erfolglos um politische Schadensbegrenzung. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

In der Nacht auf Dienstag, nur wenige Stunden nach dieser Ansprache der Staatsspitze, gingen aus den Parteiräumen der SNS Männer mit Baseballschlägern auf die Straße und verprügelten Studenten, die Plakate verteilten. Einer Medizinstudentin brachen sie den Kiefer. Der böse Geist ist längst aus der Flasche entwichen. Dienstagvormittag trat Ministerpräsident Vučević zurück. Es war eine erzwungene Schadensbegrenzung.

Zweite Halbzeit: Wie geht das Spiel weiter?

Der Studentenaufstand ist in vielerlei Hinsicht eine eigenwillige, einzigartige Erscheinung. Er kam urplötzlich in der apathischen serbischen Gesellschaft auf, in der sich gerade junge Menschen, trotz Wahlmanipulation und massiven Missbrauchs von Staatsressourcen zu Parteizwecken, von der Politik fernhielten, was eine der größten Schwächen der bürgerlichen Opposition war.

Der serbische Studentenprotest entstand außerdem auf heimischem Boden, ganz ohne logistische oder finanzielle Hilfe des Westens, der bei so genannten Farbrevolutionen in anderen ehemaligen Ostblockländern demokratische Bewegungen gegen die Diktatur unterstütze. Mehr noch, er kam trotz der Haltung der EU und der USA, auch Deutschlands, zustande, die seit einem Jahrzehnt den serbischen Autokraten Vučić und sein Machtsystem de facto unterstützen und somit Beihilfe zur Tötung der serbischen Demokratie leisteten.

Der Präsident des Europäischen Rates Antonio Luis Santos da Costa und der Präsident Serbiens Aleksandar Vucic und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von Dder Leyen beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union und des Westbalkans in Brüssel.
Serbiens Präsident mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident António Costa beim EU-Westbalkan-Gipfel im Dezember 2024 Bildrechte: IMAGO/Martin Bertrand

Der Studentenprotest verbreitet sich auch nicht dank, sondern trotz der marginalisierten, machtlosen Oppositionsparteien wie ein Lauffeuer über Serbien. Er hat keine sichtbaren Anführer – alle Entscheidungen werden täglich im Plenum der jeweiligen Fakultät demokratisch getroffen. Es ist bewundernswert und verwunderlich zugleich, wie diszipliniert, organisiert und solidarisch die jungen Menschen sind, die über soziale Medien kommunizieren. Ihr Elan und ihre Unermüdlichkeit sind ansteckend. Ältere Bürger reagieren oft sehr emotional auf die jungen Menschen, die in einem nach den Maßstäben europäischer Demokratien unnormalen Land für Normalität kämpfen.

Die Forderung der Studenten lässt sich eigentlich in einem Wort zusammenfassen: Rechtsstaatlichkeit. Nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder wird eine neue Regierung vom Parlament gewählt oder der Präsident schreibt vorgezogene Parlamentswahlen aus. Letzteres scheint mir wahrscheinlicher. Machtlos gegenüber den Studentenprotesten, wird Vučić versuchen, das Spiel auf das Feld zu bringen, auf dem er bewandert ist. Denn egal um welche Wahlen es sich handelte, er kennt seit dreizehn Jahren keine Niederlage. Bisher hatte er es allerdings auch nicht mit so einem Gegner zu tun.

Studentenproteste
Studentenproteste in Serbien Bildrechte: IMAGO/Aleksandar Djorovic

MDR (baz)

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 01. Februar 2025 | 07:17 Uhr

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