Selenskyj Wandgemälde in Polen
Präsident als Wandgemälde - übergroß prangt Selenskyj an einem Haus im polnischen Krakau. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Ukraine Selenskyj - Plötzlich ein Held

27. März 2022, 05:00 Uhr

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Sein Krisenmanagement machte Selenskyj binnen kurzer Zeit zu einer Heldenfigur, schreibt die ukrainische Essayistin und Verlegerin Kateryna Mishchenko. Und auch in der Ukraine hat sich sein Bild deutlich gewandelt. Mittlerweile bekommt Selenskyj selbst von ehemaligen Kritikern im Lande Applaus.

Kateryna Mishchenko im Porträt
Bildrechte: Kateryna Mishchenko

Statt Netflix zu schauen, schalten die Ukrainer*innen morgens und abends die Ansprachen des Präsidenten ein. Seine Reden sind informativ, therapeutisch und motivierend, adressiert an die Ukraine und an die Welt. Laut letzten Befragungen, glauben über 80 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, dass die Ukraine dem russischen Angriff widerstehen kann. Und diese Überzeugung ist auch dem Präsidenten zu verdanken. Durch seine Aufrichtigkeit und Menschlichkeit positioniert er sich auch jetzt etwas außerhalb der Geopolitik, wobei er gleichzeitig ganz in ihrem Zentrum steht. Es ist ihm gelungen, eine direkte Kommunikation mit den Menschen aufzubauen; so sind sich heute die Ukrainer*innen einig, dass Selenskyj sie vertritt. Er bleibt in Kiew und kämpft, so wie die Bürger*innen des Landes auch - egal, ob sie für ihn gestimmt haben oder nicht.

"Einer von uns" wird Präsident

Die Wahl Wolodymyr Selenskyjs im Mai 2019 bezeichneten ukrainische Politikwissenschaftler als elektorale Revolution. Neben einer Erneuerung des politischen Systems versprach sein Sieg auch viel Empowerment für einfache Ukrainer*innen, die ein ganz neues Gefühl für demokratische Wahlen bekamen und sich von der unerwarteten sozialen Mobilität ihres Kandidaten inspirieren ließen. "Einer von uns" war Präsident geworden. Auch ich fand ihn und seinen Stil von Anfang an erfrischend und war gespannt, wie sich die politische Figur Selenskyj weiterentwickelt.

Selenskyj stammt aus einer Mittelstandfamilie. Sein Vater ist Mathematiker und unterrichtet an der Universität in der Großstadt Krywyj Rig, seine Mutter ist pensionierte Ingenieurin. In Krywyj Rig gründete er gemeinsam mit den Schulfreunden einen Humorverein, der sich später zu einem erfolgreichen multidisziplinären Unterhaltungsbetrieb entwickelte. Im Jahr 2015 produzierte er die Serie "Diener des Volkes", in der er einen Geschichtslehrer spielte, der zufällig Präsident geworden ist. Diese Serie gilt heute als Teil seiner Präsidentschaftskampagne, obwohl die Drehbuchschreiber behaupten, dass sie von der Maidan-Revolution inspiriert waren und ihre Phantasie über direkte, volksnahe Demokratie spielen ließen.

"Einer von uns" – das heißt, auch als Präsident verkörpert Selenskyj eine inklusive ukrainische Identität: ein russischsprachiger jüdischer Mann aus der zentralen Ukraine, der seine sowjetische Herkunft nicht verdrängt und sich darüber lustig machen kann. Er ist nicht militant, liebt seine Frau und spricht gerne öffentlich über seine Vaterschaft, was die Männer in der Ukraine immer noch selten tun.

Selenskyj im französichen Fernsehen
Selenskyj ist inzwischen auch international auf allen Kanälen - hier im französischen TV. Bildrechte: IMAGO / Starface

Im politischen System der Ukraine wirkte er exotisch, den alten Eliten galt er als Fremdkörper. Die Demokratisierung der Ukraine durch Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen ("der Staat im Smartphone") und Volksbefragungen waren primäre Vorhaben Selenskyjs. Er hatte sich die Öffnung des Bodenmarktes und die grundsätzliche Liberalisierung der Wirtschaft vorgenommen. Doch sein wichtigstes Ziel war, den Krieg im Donbas zu beenden, der seit 2014 andauerte und die Gesellschaft schwer belastete. Mit diesem Versprechen hat er die Ukrainer*innen für sich gewonnen; darin war er seinem Rivalen, dem Ex-Präsidenten und Oligarchen Petro Poroschenko, der bei seiner Wahlkampagne auf nationale Exklusivität gesetzt hatte, weit überlegen.

Präsident, Star und Mensch

Es macht Selenskyjs politische Superpower aus, dass er gleichzeitig ein Star und ein Mensch ist. Als Star konnte er sich eine klassische Wahlkampagne sparen, weil ihn alle kannten. Als Mensch forderte er von Anfang an die sakrale Macht der postsowjetischen roten Direktoren und ihrer Seilschaften heraus. Selenskyj positioniert sich als Topmanager eines großen Landes, der mit seinem Team eher horizontale Beziehungen aufbauen möchte. Statt dem schwerem Machtgeprotze, wie es für ukrainische Spitzenpolitiker typisch ist, verkörpert er Eleganz und Charme. Diese Entsakralisierung der Macht wirkte auf unsere politische Landschaft, die vom Krieg geprägt war, geradezu antiautoritär und ungemein erfrischend. In seiner ersten kurzen Rede als gewählter Präsident sagte Selenskyj: Postsowjetische Länder, schaut uns doch an, alles ist möglich. Diese affirmative Position bekam in den heutigen dramatischen Verhältnissen eine neue Bedeutung und wird weit über die Grenzen der postsowjetischen Länder hinaus wahrgenommen.

Selenskyj im Deutschen Bundestag
Auch im deutschen Bundestag hatte Selenskyj unlängst einen Auftritt - seine Botschaft dabei war klar: Menschenleben gehen vor Wirtschaftsinteressen. Bildrechte: IMAGO / Political-Moments

Der "Gut-Mensch" im Realitäts-Check

"Gut-Mensch" ist kein Beruf – mit diesem Spruch kann man die Kritik an Wolodymyr Selenskyj in letzten zwei Jahren zusammenfassen. Sie zielte auf ihn, sollte ihn als naiven Neuling diskreditieren. Und in der Tat: Seine Personalpolitik war oft problematisch, die Kaderfluktuation groß. Mal war seine Partei liberal, mal sozialdemokratisch. Nicht alle Figuren in seiner nächsten Umgebung hatten eine gute Reputation, und nicht von allen konnte er sich trennen, trotz des Drucks der Zivilgesellschaft. Das hat ihm geschadet. Ein Beispiel ist das ambitionierte Projekt "Der große Bau", in dessen Rahmen ukraineweit viele Straßen gebaut und renoviert wurden - und das in den Berichten investigativer Journalisten über Korruption ein Dauerthema war.

Selenskyjs Team arbeitet fest mit allen Regierungsgremien zusammen. Umso enttäuschender wirken die unbestraften Verbrechen gegen Personen aus der Zivilgesellschaft. Ein gutes Beispiel ist der Fall von Witalij Schabunin, Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung, einer wichtigen und einflussreichen Institution: Im Jahr 2020 wurde das Haus von Schabunin niedergebrannt. Er selbst und sein Team ermittelten in der Sache, und es gelang, die Täter dingfest machen. Doch die Polizei reagierte weder auf die Ermittlungen noch nahm sie sich des Falles an. Kurz vor dem Krieg wurde Schabunin sogar noch unter Druck gesetzt, da er die Steuern, die für die Spenden, von denen er sein Haus wieder aufbauen konnte, fällig wurden, nicht rechtzeitig bezahlt hatte. Die Frage, ob ein "Gut-Mensch" ein zutiefst korruptes, verfaultes System besiegen kann, stellte sich immer dringlicher. Jetzt ist diese Frage suspendiert. Die Antwort wird unter völlig neuen Bedingungen erfolgen. Witalij Schabunin hat sich bei der sogenannten Territorialen Verteidigung, einem Freiwilligen-Bataillon, gemeldet und kämpft mit Selenskyj an einer gemeinsamen Front.

Dafür beschäftigen sich die Politikwissenschaftler und Kommentatoren heute mit einer ganz anderen Frage: Wie gelingt es einem Mann aus der Humorindustrie, der auf privaten Partys auch mal für Putin auftrat, einen russischen Erpresser mit Atomwaffen, vor dessen brutaler Irrationalität so viele Länder Angst haben, als eine archaische, irrelevante, längst ausgemusterte Figur bloßzustellen? Selenskyj war nicht nur ein Showman. Er war auch einer der erfolgreichsten Produzenten in der postsowjetischen Traumfabrik.

Selenskyj mit Verwundetem in Krkhs
Kriegsalltag statt Traumfabrik: Selenskyj bei einem verwundeten ukrainischen Soldaten in Kiew. Bildrechte: IMAGO / SNA

Während die herkömmliche Politik als Spektakel entwertet wird, reanimiert er als Mensch der Kultur die politische Landschaft durch neue Sinnhaftigkeit und echte demokratische Werte. Die Offenheit, die Kommunikationsbereitschaft und die Vorstellungskraft der Kultur, können die Welt verändern. Und das meint Selenskyj ganz ernst. Seine explizite Friedlichkeit, die von seinen Kritikern als Schwäche gesehen wurde, hat sich in eine entschlossene Wehrhaftigkeit verwandelt. Nun blickt Selenskyj streng die westlichen Politiker und Gesellschaften von den Titelseiten der Zeitschriften an, als ob er prüfen möchte, ob die ethische Haltung und der Wille da sind, diesen Krieg in Europa zu stoppen.

Den Dokumentarfilm "Selenskyj- Ein Präsident im Krieg" zeigen wir am 27.03.2022 um 22:00 Uhr im MDR Fernsehen und ab sofort in der ARD-Mediathek.

Kateryna Mishchenko ist Autorin, Kuratorin und Mitbegründerin des ukrainischen unabhängigen Verlags Medusa. Sie lehrte Literatur an der Nationalen Linguistischen Universität Kiew und arbeitete als Übersetzerin im Menschenrechtsbereich. Ihre Essays wurden in ukrainischen und internationalen Anthologien und Zeitschriften sowie im Buch Ukrainische Nacht veröffentlicht. Mishchenko lebt in Kiew, hält sich derzeit aber im Westen der Ukaine auf.

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Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell TV | 27. März 2022 | 22:00 Uhr

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