Angriffskrieg auf die Ukraine Russland: Die unsichtbare Fluchtwelle

18. März 2022, 10:10 Uhr

Während der Kreml in Kriegszeiten die Zügel anzieht, verlassen vor allem junge und talentierte Russen ihre Heimat. Ehemalige Krisenländer wie Georgien und Armenien werden so zum sicheren Hafen.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Reisende schauen auf eine Abflugtafel mit stornierten Flügen am internationalen Flughafen Scheremetjewo.
Seit Kriegsbeginn wollen viele Russen das Land verlassen - doch das ist gar nicht so einfach. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Putins Angriffskrieg hat in der Ukraine Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Überfüllte Züge, kilometerlange Staus, herzzerreißende Abschiedsszenen: die Bilder aus der Ukraine haben Europa erschüttert und tief getroffen. Kaum sichtbar blieb jedoch dieser Tage eine andere Massenbewegung von Menschen, die ihr Land verlassen wollen. Seit russische Panzer in die Ukraine rollen und der Kreml auch innenpolitisch einen Krieg gegen freie Medien, Aktivisten und die Reste der Opposition entfesselt hat, verlassen Zehntausende Russen ihre Heimat oder kehren nicht von Reisen ins Ausland zurück.

Journalisten, Künstler, IT-Fachleute, Unternehmer, Influencer: viele von ihnen haben in den vergangenen Wochen Russland den Rücken gekehrt. Manche, weil sie sich vor Repressionen fürchten, andere, weil sie einem wirtschaftlichen Kollaps zuvorkommen wollen. Dritte wiederum können das Gefühl nicht ertragen, dass ihre Heimat nun einen Krieg gegen eines der kulturell am engsten verbundenen Nachbarländer führt. Auch sorgten in den ersten Tagen Berichte, dass Russland eine Mobilisierung ausrufen könnte, vor allem unter vielen jungen Russen für Panik. Einige verließen zumindest vorübergehend das Land, bis sich die Meldung als falsch herausgestellt hat.

Schwere Entscheidung

"Für mich war dies die wohl schwierigste Entscheidung im Leben", sagt etwa der Petersburger Pawel Snop nachdem er sein Oneway-Ticket nach Istanbul vor wenigen Tagen gelöst hat. Zu Hause hat Snop eine Karriere als Immobilienmakler gemacht und suchte Wohnungen für die Reichen und Wohlhabenden. Die Politik des Kremls fand er nie gut. Der Krieg mit der Ukraine war für ihn der letzte Anstoß, Russland zu verlassen. Nach einer Friedensdemo war Pavel zusammen mit Tausenden anderen Russen festgenommen und nach einer Nacht auf dem Revier zu umgerechnet 100 Euro Strafe verurteilt worden. "Ich liebe mein Land und meine Stadt und will zurückkehren, aber mit Putins Regime will ich nichts zu tun haben. Es ist einfach nicht mehr sicher in Russland."

Ziel: Türkei, Georgien oder Armenien

Wie viele Russen ähnlich wie der Petersburger bisher das Land verlassen haben, lässt sich nicht genau sagen. Aber es dürften Zehntausende gewesen sein. Weil Europa seinen Luftraum geschlossen hat und die Russen ein Visum brauchen, bleiben nicht viele Optionen. Neben der Türkei sind es vor allem ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien und Armenien, die gerade von jungen Russen als Zufluchtsort ins Auge gefasst werden. Allein in den ersten zehn Tagen nach Ausbruch des Krieges bezifferte Georgien die Anzahl der Russen, die ins Land gekommen sind, auf 25.000. In den vergangenen Tagen dürfte dieser Fluss kaum versiegt sein. Auch ins benachbarte Armenien sind in den vergangenen Tagen Tausende Russen täglich eingeflogen. Der Vorteil: Russen können in beide Länder ohne zusätzliche Papiere Reisen und auch eine Impfung mit dem russischen Impfstoff Sputnik V wird dort anerkannt.

Blick auf das Zentrum von Tiblissi
Ziel vieler russischer Auswanderer: Die georgische Hauptstadt Tblissi Bildrechte: MDR/Alexander Hertel

"Wir sind vor ein paar Tagen hierher in die georgische Hauptstadt Tbilisi gekommen und haben schon eine Wohnung gemietet und werden wohl für unbestimmte Zeit bleiben", sagt Wladimir S., der seinen vollen Namen nicht in der Presse sehen möchte. Der Arbeitgeber seiner Freundin, ein IT-Konzern, hat dem Paar einen Umzug ermöglicht und sie finanziell unterstützt. "Meine Freundin arbeitet als QA-Engineer (Ingenieurin in der Qualitätssicherung - Anm. d.Red.) und kann von Überall arbeiten", erzählt der Russe. Er selbst war jedoch ein erfolgreicher Fotograf in Sankt Petersburg. "Ich habe mir einen Namen in Sankt Petersburg gemacht und konnte deutlich mehr verlangen als die Konkurrenz. Hier in Georgien muss ich quasi von Null anfangen", klagt Wladimir.

Auf Umwegen aus dem Land

Auch die Journalistin Anschelika Petrowskaja hat sich mit einer Freundin nach Tbilisi abgesetzt. Bis vor wenigen Tagen hat sie bei Russlands letztem unabhängigen TV-Sender Doschd gearbeitet und war verantwortlich für Inhalte in den Sozialen Medien. Als der Kreml jedoch eine Art Militär-Zensur einführte und für "Falschmeldungen" über die russische Armee und den Krieg in der Ukraine Haftstrafen androhte, zogen die Eigentümer von Doschd den Stecker. "Wir sind dann erst ein Mal für ein paar Tage nach Usbekistan geflogen, weil das billiger war, denn die Tickets sind immer rasend schnell ausverkauft und kosten ein Vermögen", berichtet Petrowskaja. Wenig später ging es dann weiter nach Tbilisi. "Ich weiß noch nicht, was ich jetzt machen werde und suche erst mal nach einem Job".

Erschwert wird die Ausreise nicht nur durch komplizierte Visa-Bestimmungen in Europa und fehlende Perspektiven. Auch die Sanktionen sorgen dafür, dass viele Russen nun mit ihren Bankkarten im Ausland nicht mehr auf die Ersparnisse bei russischen Banken zurückgreifen können. Eines der Länder, in dem dies nach wie vor möglich ist heißt Armenien. Die kleine Republik im Südkaukasus ist nicht nur an das russische Zahlungssystem "Mir" angebunden, dem Gegenstück zu Visa und Mastercard. Auch die Einreisebestimmungen für Russen sind überaus locker.

Vorteil Armenien

Seit Anfang März lebt Denis in der armenischen Hauptstadt Jerewan und arbeitet dort weiter in einem russischen IT-Unternehmen. Seinen vollen Namen möchte der 36-Jährige nicht nennen, weil er Angst hat, dass seine Familie Probleme bekommen könnten. "Als Russe braucht man in Armenien keine Arbeitserlaubnis, die meisten sprechen und verstehen Russisch, und auch das Leben ist deutlich billiger als etwa in Moskau", schwärmt der IT-Spezialist. "Ich hätte nie gedacht, dass ich Russland einmal verlassen werde, aber ich arbeite viel mit internationalen Kunden zusammen und hatte Angst, dass dies in Russland bald nicht mehr möglich sein wird", sagt Denis.

Armenien - Jerewan, Platz der Republik
Für junge Russinnen und Russen führen gerade viele Wege in die armenische Hauptstadt Jerewan. Bildrechte: MDR/Martin Hoffmeister

Armenien hofft nun sogar als sicherer Hafen für Russen und russische Unternehmen von der Krise profitieren zu können. Anfang März hat das Wirtschaftsministerium in Jerewan berichtet, dass mindestens zehn russische Unternehmen insbesondere aus dem IT-Bereich im Begriff sind, ihre Mitarbeiter und Büros nach Armenien zu verlagern. "Die meisten dieser Firmen arbeiten mit westlichen Kunden zusammen und können dies von Russland aus nicht mehr tun", sagte der armenische Wirtschaftsminister Waan Keobjan dem armenischen Portal "Azatutyun".

Wie lange die Auswanderungswelle aus Russland anhalten wird, bleibt ungewiss. Experten gehen jedoch davon aus, dass die erste, von Panik geschürte Welle, nur der Anfang ist. "Die meisten, die Russland jetzt verlassen, sind Teil der kreativen Generation, jener unter 40, also in bestem Alter", sagte die Demografie-Professorin Olga Worobjowa, von der Moskauer Staatlichen Universität gegenüber dem Portal News.ru. "Die Zahl der Auswanderer wird mit Sicherheit etwa doppelt so hoch liegen, wie in der Zeit vor der Pandemie". Weil sich viele in Russland nicht bei den Behörden abmelden, lässt sich die Zahl der Auswanderungen nur schätzen. Bis 2019 verließen aber zwischen 100.000 und 200.000 Russen ihre Heimat.  

Auch unser Ostblogger Maxim Kireev hat, wie die Protagonistinnen und Protagonisten seines Textes, zwischenzeitlich Russland verlassen um den Repressalien des Staates zu entgehen. Er möchte aber in seine Heimat zurückkehren, sobald die Umstände dies erlauben.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL TV | 15. März 2022 | 17:45 Uhr

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