Russland | Ukraine Bereitet Russland die Annexion des Donbass vor?
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15. Oktober 2021, 18:32 Uhr
Erst durften die Bewohner der nicht anerkannten Volksrepubliken im Donbass an russischen Parlamentswahlen teilnehmen. Nun planen Donezk und Luhansk die gegenseitige wirtschaftliche Integration und setzen Grenz- und Zollkontrollen aus. Davon profitiert vor allem der Kreml.
Mehr als 600.000 Einwohner der von prorussischen Separatisten kontrollierten, selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, in der seit 2014 umkämpften ostukrainischen Region Donbass, haben Stand Juli 2021 einen russischen Pass. Rund ein Drittel davon nahm offiziellen Angaben zufolge Mitte September zum ersten Mal an den russischen Parlamentswahlen teil. Doch nicht nur damit bringt Moskau die Separatistengebiete immer weiter unter seine Kontrolle.
Wirtschaftsintegration bis Jahresende
Während die beiden Volksrepubliken von außen meist als eine Einheit wahrgenommen wurden und einer gemeinsamen, von Moskau vorgegebenen Linie in Sachen Donbass-Krieg folgten, waren sie in Wirklichkeit zutiefst zerstritten. An der Grenze zwischen Donezk und Luhansk fanden Grenz- und Zollkontrollen statt, die ehemaligen Chefs der Separatistenrepubliken trugen sogar einen offenen Konflikt aus. Damit ist nun Schluss. Seit Anfang Oktober fallen Kontrollen an der gemeinsamen Grenze weg. Bis Jahresende soll das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Volksrepubliken abgeschlossen sein.
Weil sich dieser Prozess zeitlich direkt an die Wahlen zur russischen Duma anschließt, bei der erstmals auch mit russischen Pässen ausgestattete Bewohner von Luhansk und Donezk mitwählen durften, stellt sich die Frage, ob das der Auftakt einer russischen Annexion sein könnte. Die Antwort ist kompliziert.
Moskau schafft Fakten
"Wenn Russland die besetzten Gebiete annektierten wollte, hätte Moskau es längst gemacht", sagte Petro Oleschtschuk, Politikwissenschaftler an der Kiewer Schewtschenko-Universität, dem MDR. Eine vollständige Vereinigung sei aufgrund des Minsker Abkommens, in dem die Volksrepubliken Donezk und Luhansk als getrennte Bezirke geführt werden, auch unwahrscheinlich. Zumindest formell wollen alle Parteien am Abkommen als die einzige diplomatische Grundlage für die Lösung des Konflikts festhalten. "Doch es ergibt keinen Sinn, allzu viel auf die Formalitäten zu schauen. Mit der Ausgabe der Pässe und der Teilnahme des Donbass an der Dumawahl hat Moskau ein Machtwort gesprochen. Die wirtschaftliche Vereinigung der Separatistenrepubliken ist ein weiterer Baustein der Integration der besetzten Gebiete in die russischen politischen Prozesse."
Es sei ein Prozess, den die Ukraine nur noch mit großen Schwierigkeiten rückgängig machen kann. Für die Bewohner der beiden selbsternannten Volksrepubliken hat die Entwicklung aber auch ihre positiven Seiten. Denn die Abschaffung der Kontrollen dürfte die Reisemöglichkeiten zwischen den benachbarten Quasi-Staaten verbessern und auch die Lebenshaltungskosten der Menschen verringern.
Kiews Dilemma mit dem Minsker Abkommen
Russland verfolgte in der Ostukraine von Anfang an eine andere Strategie als bei der im März 2014 annektierten Halbinsel Krim. Moskaus Ziel besteht darin, die besetzten Gebiete unter den Bedingungen einer erweiterten Autonomie an Kiew zurückzugeben, um die beiden Volksrepubliken nicht finanzieren zu müssen und gleichzeitig trotzdem Einfluss auf die Region zu behalten. Das im Februar 2015 beschlossene Minsker Friedensabkommen dient vor allem diesem Ziel und schreibt grundsätzlich vor, wie die Gebiete nach der Austragung der Kommunalwahlen wieder in die Ukraine integriert werden sollen.
Die im Dokument vorgeschriebenen Bedingungen sind günstig für Moskau. Denn der verabredeten Reihenfolge nach würden die Kommunalwahlen im besetzten Gebiet noch vor der Übergabe der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbass an Kiew erfolgen. Daher würde die Ukraine auf die Austragung der Wahlen kaum Einfluss haben, während die Wahlgewinner von Kiew Extra-Rechte, wie etwa eigene Gerichte und eine eigene Volksmiliz, erhalten würden.
Eine buchstabengetreue Umsetzung des Minsker Abkommens wäre nach Aussage politischer Beobachter aus diesen Gründen politischer Selbstmord für jeden ukrainischen Präsidenten. Es würde Massenproteste in der Ukraine auslösen. Schon die Ausgabe der russischen Pässe an Donbass-Bewohner, die im Frühjahr 2019 begann, verstößt klar gegen den Geist des Abkommens. Andererseits haben sich die Konflikte zwischen den lokalen Eliten in Donezk und Luhansk als größer erwiesen als gedacht. Die Zollkontrollen Ende 2015 wurden beispielsweise deshalb eingeführt, weil Donezk am Transit der ukrainischen Waren nach Luhansk mitverdienen wollte.
Träume von einem gemeinsamen Staat
Den Kreml haben diese Streitereien lange genervt. Deshalb überraschte es politische Beobachter nicht, dass das damalige Oberhaupt der Republik Luhansk, Igor Poltnitzki, Ende 2017 zurücktreten musste – angeblich aus Gesundheitsgründen. Und der Chef der Volksrepublik Donezk, Alexander Sachartschenko, wurde 2018 bei einem Anschlag getötet. Für den Mord machte man vor Ort ukrainische Geheimdienste verantwortlich. Fakt ist aber auch, dass Sachartschenko durch einen Moskau-treuen Mann ersetzt wurde.
Mit der Abschaffung der Kontrollen und der Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums bis 2022 geht man nun den nächsten Schritt. Und politisch? Einige Politiker, wie der Luhansker Parlamentsabgeordnete Wladimir Poljakow, wünschen sich vorerst einen Staatenbund, schließen aber eine zukünftige Vereinigung von Donezk und Luhansk nicht aus. Deren Offizielle äußern sich deutlich zurückhaltender und wollen vorerst ihre Wirtschaftsstandards gemeinsam an die von Russland anpassen.
Quelle: MDR
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. September 2021 | 07:15 Uhr